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0,5 cm
28.11.01
0.5 cm
Er stand im Raum, die Hände in die Hüften gestützt und war ratlos. Irgend etwas stimmte da nicht. Er ging auf und ab, blieb wieder stehen, ging wieder los, aber das Gefühl, das ihn störte blieb.
Als er die Wand mit den Augen absuchte, fiel ihm das schiefe Bild auf. Die rechte Ecke war um einiges höher als die linke, dies störte den Gesamteindruck gewaltig. Das Bild zerschnitt damit die Symmetrie des Raumes. Er entfernte sich noch einmal ein paar Schritte von dem Bild, um sich seiner Beobachtung ganz sicher zu sein. Tatsächlich. Irgend jemand hatte die Unfähigkeit besessen, das Bild falsch an den Nagel zu hängen. Um mindestens 0.5 Zentimeter. „Wer hat dir das angetan, Axel ?" fragte er sich gequält.
Je länger er das Bild betrachtete, desto unverzeihlicher schien ihm der Fehler. Schief aufgehängt.
Eigentlich war es ja ein schönes Bild. Es berührte ihn in seinem tiefsten Inneren. Noch nie hatte ihn ein Bild derart berührt. Aber es hing nicht richtig. Es lies ihm keine Ruhe, es war fast zu schmerzhaft für ihn, den Blick auf diesem ganz und gar windschiefen Bild zu lassen.
Axel spürte, wie er vor Anspannung anfing zu zittern. 0,5 Zentimeter! Es war ein Vergehen an dem ganzen Raum! Er konnte es nicht ertragen.
Er verließ kurz das Zimmer, um mit einer Meßlatte zurückzukehren. Wie er vermutet hatte. Fast 0.8 cm Unterschied zwischen den beiden Ecken. Auch die Wasserwaage bestätigte es. Dabei war das Bild wirklich wunderbar. Nahezu perfekt. Aber es hatte diesen scheußlichen Fehler.
Er, Axel, würde dem Abhilfe schaffen. Er errichtete ein Lot auf der Seitenkante des Raumes, zog eine Gerade, die parallel zum Fußboden verlief, bis zu der Stelle, an der das Bild hing. Es blendete ihn nahezu, brachte ihn zum Lachen und Weinen, und versetzte ihn in einen Zustand der Glückseligkeit. Abgesehen von seiner Schiefe, natürlich.
Konzentriert markierte er die korrekte Position an der Wand. Gerade. Die Wasserwaage lächelte ihm aufmunternd zu. Wenn er erst das Bild begradigt hätte, würde alles in Ordnung sein.
Er atmete tief durch. Die ganze Sache regte ihn wirklich auf. Man sollte Leute, die Bilder so unbedacht aufhängten, bestrafen. Es war ein Frevel am empfindlichen Auge des Betrachters. Es war schmerzhaft. Obwohl das Bild selbst so schön war.
Es dauerte lange, bis Axel das Bild so an der Wand plaziert hatte, daß es seinen Vorstellungen entsprach. Danach war er sehr erschöpft. Er warf einen kritischen Blick auf seine Leistung, und er sah, daß es nun wirklich absolut gerade hing.
Doch das Bild war noch immer dasselbe.
Claudia Lichtenwald