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- Anmerkungen zum Text
Habe von meinem Balkon aus eine V-Formation Graugänse gesehen.
Da dachte ich mir, was, wenn einer von denen ein Träumer wäre, der stetig aus der Reihe tanzt. Jeder kennt doch diesen einen Kollegen …
›V‹
Es geschah über Wuppertal.
»Wechsel der Führungsspitze in drei Kilometern!«, gab Karl nach hinten durch.
»Welcher Schenkel?«, schrie Günni gegen den Wind an. »Wir oder die anderen?«
Karl reichte die Frage nach vorne weiter.
»Die anderen!«, hörte Günni kurze Zeit später Erika kreischen, welche direkt vor seinem besten Kumpel flog.
Karl drehte seinen Kopf zu ihm: »Die an...«
»Schon gut, hab’s gehört!«, rief Günni ihm zu. Wie immer flog er an letzter Position, niemanden mehr hinter sich, an den er die Info weitergeben musste. Doch genug war genug. Der Gänserich hatte den Schnabel gestrichen voll. Er brach nach links aus, verließ damit Karls Windschatten, schlug ein paar Mal kräftiger mit den Flügeln und schon war er mit ihm gleichauf. »Das ist Tyrannei! Du weißt, dass ich recht habe.«
»Alter, bitte nicht schon wieder.«
»Oh, doch! Schon wieder. Und überhaupt, warum bist du zur Abwechslung nicht mal auf meiner Seite?«, fragte Günni pikiert.
Karl schaute zum anderen Schenkel der V-Formation. »Bin ich doch«, sagte er.
»Sehr witzig. Du weißt schon, was gleich passieren wird, oder?«
»Wir lassen Wuppertal erfolgreich hinter uns?«
»Nein! Wobei … ja. Aber das meinte ich nicht. Es ist doch immer dasselbe: Uwe gibt den Ton an und übergibt ihm das Kommando.«
»Du meinst Nils?«
»Ja. Nils.«
»Na und?«, fragte Karl.
Erika meldete eine Anweisung von weiter vorn: »Kurskorrektur um drei Grad Steuerbord!«, krähte sie und glich ihre Position dem neuen Befehl an. Karl tat es ihr gleich und flog ebenfalls ein Stück nach rechts, bis in den Auftrieb ihrer Wirbelschleppe.
Günni verringerte den Abstand, erneut lagen sie auf gleicher Höhe. »Jetzt tu’ nicht so! Du hörst es doch selbst. ›Kurskorrektur um drei Grad …‹«, äffte er Erikas Mundart nach. Die Gans warf ihm einen bösen Schulterblick zu. Günni streckte ihr die Zunge heraus und ignorierte sie wieder. »Diese Typen sind totalitäre Pedanten! Umgeben von Speichelleckern, wie Wilhelm und Heinz.« Sein Kopf ruckte nach vorn zu der Keilspitze, um seine Aussage zu unterstreichen. »Ständig meinen sie, alles besser zu wissen. Und dann ihre arrogante Art …«
»Sie bemühen sich halt um Effizienz«, erwiderte Karl.
»›Pfff‹ … das tue ich auch«, maulte Günni.
»Ach ja? Wann?«
»Immer! Wie oft habe ich schon vorgeschlagen, etwas Neues auszuprobieren? Einfach mal die angestaubten Muster zu durchbrechen? Was diesem Schwarm fehlt ist Progressivität! Wenn sie mir nur einmal die Führung geben würden, dann …«
»Jetzt fang bloß nicht wieder mit der ›Raute‹ an …«, stöhnte Karl.
»Die Raute …«, fiel Günni ihm ins Wort »ist eine der vielversprechenden Flugformationen in der Geschichte der Aerodynamik!«
»Sagt wer?«
»Ich!«
Karl seufzte. »Okay, Alter. Ich spiel ausnahmsweise mit. Nenn’ mir zwei zuverlässige Quellen, die deine ›Rauten-Theorie‹ bekräftigen.«
Für einen kurzen Moment schwieg Günni der Ganter, offenbar dachte er nach, während unter ihnen der Stadtteil Elberfeld im tristen Graubraun vorbeizog.
»Dieter und Jérome«, sagte er schließlich.
»Wer soll das sein?«
»Du kennst sie! Die beiden vom Teich, du weißt schon, die immer so für Stimmung sorgen!«
Karl schnappte nach Luft. »Die beiden Spinner? Das sind Flamingos!«
»Jetzt sei mal bitte nicht so borniert, ja?«
»Was? Ich …«
»Die Raute«, begann Günni von Neuem, »ist ein majestätisches Symbol, das es als Formation zu erforschen gilt. Ich verwette meine Schwanzfedern, dass wenn es der Schwarm ein Mal, nur ein einziges Mal versuchen könnte, wir niemals mehr anders fliegen wollen würden!«
Karl schmunzelte. Nach einer kurzen Pause knuffte er seinen Kumpel ins Gefieder und fügte hinzu: »Weißt du was? Ich würde jederzeit mit dir in einer Raute fliegen.«
Günni strahlte über das ganze Gesicht. »Alter! Wir wären die Könige von …«
»Was ist hier los?«, schnitt eine strenge Stimme ihm das Wort ab.
Günni und Karl schauten beide nach rechts.
»Hallo Nils«, sagten sie unisono. Karl schlug mit einem Mal ein wenig kräftiger mit den Flügeln.
»Darf ich fragen, was das hier wird, wenn’s fertig ist?« Nils ignorierte Karl und sprach direkt mit Günni.
»Was meinst du?«, fragte dieser.
»Wieso verlässt du deinen zugewiesenen Platz?« Nils Stimme war kälter als der Nordwind.
»Was? Ich … äh … nein, wir haben nur …«, stammelte Günni.
»Studien haben ergeben, dass eine Nichteinhaltung der korrekten Flugpositionen innerhalb der Formation zu einem Energieeffizienzabfall von bis zu 37% führen kann«, blaffte Nils.
»Ja, aber …«
»Das hätte zur Folge, dass wir unser Etappenziel verspätet erreichen. Was wiederum dazu führen würde, dass wir auch im Winterquartier nicht wie geplant eintreffen. Was, wie du dir vielleicht denken kannst, absolut inakzeptabel wäre.«
Ein knarrender Bariton wehte von der Keilspitze herüber: »Nils!«
»Bin gleich da, Uwe!«, antwortete der Gänserich. Günni schwieg. Nils taxierte ihn. »Wie heißt du?«
»Gün…ther.«
»Okay, Günther, jetzt pass mal gut auf. In etwa einem Kilometer übernehme ich die Leitung und wenn ich später erfahre, dass du noch mal aus der Reihe getanzt bist, dann wird das Konsequenzen für dich haben.«
»Nils!« Uwe rief seinen Stellvertreter erneut. Dieser setzte zum Abflug an.
Günni hob einen Flügel. »Darf ich was fragen?«
Nils hielt inne, seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Was?«
»Das Winterquartier. Wird es dieses Jahr Tunesien werden?«
Der Gänserich bedachte ihn mit einem sehr langen, sehr ernsten Blick. »Wir fliegen nie nach Tunesien«, zischte er. »Niemals. Es ist Italien. War es immer. Und es wird immer Italien sein.«
Günni schluckte.
»Hab ich mich klar ausgedrückt?«, fragte Nils.
Erika entließ ein Quietschen, als sich drei wohlgenährte Ganter in einer Phalanx von vorn näherten. Der mittlere knarrte mit tiefer Stimme: »Nils! Ich habe dich bereits zweimal gerufen. Du hast deinen Einsatz verpasst. Wir verlieren wertvolle Energie!«
Günni registrierte, wie bei der Standpauke ein Ruck durch das Gefieder seines Widersachers lief. »Uwe! Heinz, Wilhelm!« Nils setzte ein gequältes Lächeln auf. »Dieser renitente Querulant hier hat mich von der Arbeit abgehalten.« Mit seinem linken Flügel zeigte er auf den Angeklagten.
»Was!«, entfuhr es Günni. »Das ist Verleumdung! Ich habe nie …«, doch ein Wink von Uwes Flügel brachte ihn zum Schweigen.
»Günther. Was ist es diesmal? Willst du unsere Ernährung auf Fleisch umstellen? Oder sollen wir uns fortan mit Störchen paaren? Nein, lass mich raten, es ist natürlich wieder einmal … ›die Raute‹!«, knarrte Uwe und wechselte einen Blick mit seinen Untergebenen. Heinz und Wilhelm glucksten, sichtlich amüsiert.
Günnis Schnabel klappte auf. Alle Augen lagen auf ihm. Die Wahrheit brannte wie ein heißer Ball in seinem Magen, langsam kroch sie ihm durch die Kehle, fast schon hatte sie die Zunge erreicht. Da sah er Nils süffisantes Grinsen. Und Karl, in dessen Augen ein Flehen lag und der fast unmerklich den Kopf schüttelte.
Günni sah zu Boden. »Es tut mir leid, wenn ich mal wieder den Betrieb gestört habe, es kommt nicht wieder vor«, flüsterte er und klappte den Schnabel zu.
»So ist’s recht«, brummte Uwe zufrieden.
»Das will ich dir auch geraten haben«, schnauzte Nils und die vier schickten sich an, abzufliegen.
Jemand stupste Günni sanft in die Seite. Er schaute auf. Es war Karl. Der flehende Blick war verschwunden. »Es tut mir leid«, sagte Karl leise und Günni erkannte, dass sein Freund Mitleid mit ihm hatte.
Die Wahrheit entfachte zu einem glühenden Ball, der lodernd aus seinem Schnabel schoss: »Hey! Ihr dämlichen Vögel! Ihr seid der Raute nicht würdig und würdet wahren Fortschritt nicht mal dann erkennen, wenn er im Gänsemarsch vor euch herwatscheln würde!«
»Äh … was?«, fragte Karl, direkt neben ihm.
»Keine Ahnung, ich bin auf hundertachtzig!«, schrie Günni.
»Es reicht!«, rief Uwe. Die vier kamen zurück und plusterten sich vor den beiden auf. »Günther, ich bin es ein für alle Mal leid. Mit deinem abstrusen Gedankengut bist du eine ernsthafte Gefahr für die Gruppe. Sobald wir das Quartier an der Adria erreicht haben, werde ich beim obersten Gänserich Eberhardt ein Straftribunal fordern. Du wirst aus diesem Schwarm ausgeschlossen. Auf Lebenszeit!«
»Weißt du was, Uwe? Leck mich am Bürzel!«
»Wie kannst du es wagen …«, echauffierte sich Nils, doch es war Erika, deren Schrei alles übertönte: »Passagiermaschine auf 12:00 Uhr! Ausweichmanöver!«, kreischte sie, legte die Flügel an und tauchte im Sturzflug ab. Karl tat es ihr gleich und riss Günni mit sich in die Tiefe.
Die Boeing 747 donnerte über ihre Köpfe hinweg, die Hitzewelle des Abgasstrahls erfasste ihre Leiber und schleuderte sie hinfort. Günni hörte über sich noch das erschrockene Krächzen von Uwe und Nils, als beide in das Triebwerk gerieten …
Karl war mit seinen Kräften am Ende.
»Land in Sicht, ich sehe die Küste!«, wehte Erikas heisere Stimme von der Spitze der Formation.
»Was habe ich dir gesagt, Alter!«, rief Günni von links, völlig außer Atem. »Wir schaffen es.«
Karls müder Blick wandte sich ab. Sie waren bloß noch zu viert. Alle anderen waren längst an Erschöpfung vom Himmel gefallen wie gefiederte Steine.
Erika flog vorn, sie hatte sich als ausgezeichneter Navigator bewiesen. Günni bildete den einen Flügel, Karl den anderen. Gustav bildete das Schlusslicht, er hatte nur durch pures Glück überlebt.
Die perfekte Raute.
»Du wirst sehen, Karl, das wird tausendmal besser als Italien«, ächzte Günni von der Seite.
»Ich rede nicht mehr mit dir!«
Schweigend flogen sie auf das tunesische Festland zu. Natürlich konnte Günni es nicht lassen: »Du weißt aber schon, was die Moral von der Geschichte ist, oder?«
Karl knirschte mit dem Schnabel. »Sag’s mir, Günni, bevor ich dich umbringe!«
Sein Kumpel wartete einen Moment, dann sagte er feierlich: »Traue niemals einem Flamingo.«
ENDE