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… und ´ne Buddel voll Rum
Krachend flog die schwere Holztür der Wirtschaft „Blauer Bunker“ auf. Ein zerlumpt gekleideter Körper zog eine halbrunde Bahn durch die Luft und landete auf dem Kopfsteinpflaster. Die Nacht im Hamburger Hafen war kalt. Vollmond und ein paar zerfranste Wolken bildeten ein unseliges Dreieck mit dem Haufen Mensch.
„Schweine! Alles Schweine!“, lallte Hermann und hievte sich unsicher hoch. Schwankte. Fand unausgewogenen Stand und straffte sich.
„Walter!“, brüllte er und Spuckefetzen entwichen seinem bebenden Mund. „Du bist das größte Schwein von allen!“ Dann torkelte der Körper in der Stille der Nacht umher und lief zum Hafenbecken, in Sichtweite des architektonischen Ausrufezeichens der Stadt, der Elbphilharmonie. Hermanns Haltung dagegen glich dem eines laufenden Fragezeichens. Fragezeichen und Ausrufezeichen kamen sich näher.
Der Schwankende bilanzierte, obwohl der eng gesteckte Rahmen seines betäubten Hirns kaum Spielraum bot. Leere entstand, Wut wich. Was blieb? Hermann weinte.
„Walter!“ Hermann schluchzte den Namens seines Freundes. Seines Ex-Freundes. „Verdammt!“ Tränen tropften, Hände verbargen die Augen. Streitlust und zu viel Alkohol kamen an diesem Abend in der Kneipe zusammen; Und dann sagte Walter etwas über St. Pauli, Hermanns Fußballverein. Etwas, das mit Abstieg zu tun hatte.
Hermann hockte an der Kaimauer, die Beine baumelten über der Wasserkante. „Walter!“ Eine erneute Heulwelle erfasste ihn und selbst der Vollmond bekam Falten. Dann zog Hermann den Nasenschnodder hoch. Es gibt Geräusche, die Leben sogar in ein totes Stück Holz bringen könnten. Plötzlich wurde es dunkel, als ob auch das Mondlicht erschrecken konnte.
Glucksen. Glucksen? Paulianer Hermann war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass ein Geräusch ihn beeindrucken konnte. Es gluckste erneut, aber Hermann hörte nicht hin. Abermaliges Glucksen, dann ein Nebelhorn, in voller Lautstärke. Nebelhorn? Hermann hielt sich die Ohren zu. Er fokussierte den Blick und richtete sein Denken. Ein Nebelhorn ohne Nebel? Irritiert sah er sich um. Im Wasser schwamm eine kleine Flasche. Hermann ließ die Ohren los und rieb sich die Augen. Warum leuchtete die Flasche? Das Nebelhorn tutete wieder, er zuckte zusammen.
„Und ich dachte schon, du würdest nie darauf kommen, die Flasche zu öffnen. Hast doch sonst keine Probleme damit!“ Ein zwanzig Zentimeter kleines Geschöpf stand vor ihm und staubte sein Tüllröckchen aufgeregt mit den Händen ab. „Es gibt sogar Leute, die weglaufen, sobald sie meine leuchtende Flasche sehen. Und wenn ich noch auf Nebelhorn mache …“ Das weibliche Wesen drehte die Augen nach oben, unterbrach den Putztrieb und lächelte, als würde es für diesen Auftritt bezahlt. „Aber du bist ja mutig“, munterte sie ihn auf und wandte sich dem Richten der Haare zu.
Hermann starrte sie an, rieb wieder die Augen. Konstatierte, dass nicht wahr sein konnte, was er sah, befand sich für wahnsinnig und fiel in Ohnmacht.
„Ich heiße Alwine. Ich heiße Alwine!“ Das Tüllröckchen flog und der kleine Flaschengeist hüpfte rhythmisch auf dem Brustkorb des Ohnmächtigen. „Hallöchen“ begrüßte sie den Aufwachenden und sprang weiter. „Ich heiße Alwine. Ich hei…“
„Na und!“ heulte Hermann aus Leibeskräften, sein Brustkorb hob sich. Notwehr-Schreie oder nur ein kläglicher Versuch, Ratio in die Situation zu bringen? Alwine fiel hin.
„Ups, du bist aber ein Kerl!“ Desorientiert setzte sie sich auf, zog am Strumpfhalter und rückte ihr Leibchen zurecht. Aufgeregt wippelte sie mit dem Fuß. „Dir erfülle ich doch gerne einen Wunsch! Kannst du die Machonummer noch einmmal bringen?“
Hermanns Augen wurden erst groß, dann feucht. „Wieso immer ich? Erst Walter und jetzt der Wahnsinn!“ In der Nase bildete sich Nachschub. Entsetzt sprang Alwine auf.
„Wage es nicht. Nicht hochziehen! Und mit Macho meine ich etwas Anderes, du Heulsuse!“ Wütend stampfte Alwine auf, mitten in den Solarplexus. Hermann wurde blass, abrupte Stille. Alwine und Hermann taxierten sich.
„Mein Vater hat mich geschickt!“ Fast schüchtern hielt sie ihre Hände hinter dem Rücken zusammen, ihr Blick kam von unten. „Und …“ Sie riss den Kopf hoch, setzte ein diabolisches Grinsen auf. „… ich heiße Alwine!“ Der Solarplexus wurde erneut mit einem Tritt traktiert.
„Was soll das?“, presste der Getretene schmerzverzerrt heraus. „Was willst du?“ Alwine lächelte sanft.
„Mein Vater möchte, dass ich dir einen Wunsch erfülle.“ Sie drehte ihren Körper hin und her. „Er hat Mitleid. Rotz und Wasser mag er nicht.“
„Dein Vater?“
„Ja, der da.“ Alwines fuchtelnder Finger zeigte nach oben. Hermann erschrak.
„Gott?“ Alwine trat unvermittelt wieder zu.
„Nein, du Depp. Der da!“ Alwine zeigte gen Himmel. Hermann sah nur Mond und Wolken. „Gevatter Mond!“
„Der Mond ist dein Vater?“ Alwine hob den Fuß zu einem mächtigen Tritt. „Gut, gut, er ist dein Vater!“ Vorerst waren weitere Schmerzen abgewandt. Vorerst. Hermann atmete durch.
„Welchen Wunsch hast du?“ Sie beäugte sichtlich gelangweilt ihre Fingernägel.
„Welchen Wunsch?“ Hermann stierte sie an.
„Ja, genau – welchen Wunsch? Du bist aber wirklich schwer von Begriff!“ Das tüllberöckte Wesen nahm Blickkontakt auf, stolzierte aufs Gesicht von Hermann zu und flüsterte. „Warum in Mondes Namen muss ich nur Idioten Wünsche erfüllen?“ Dann brüllte sie „Warum?“ und trat zu. Sein Kehlkopf zitterte. Hermann schnellte hoch und Alwine plumpste herunter.
„Was willst du nun?“ Alwine stand auf und tanzte auf dem feuchten Kopfsteinpflaster einen Walzer. „Was möchtest du dir wünschen?“ Eine Rechtsdrehung mündete in eine Linksdrehung.
Hermann rieb sich den Kehlkopf, überlegte. Abrupt blieb Alwine stehen. „Ist das denn so schwer?“, seufzte sie. „Manche wünschen sich ein Haus, andere ein tolles Auto, der nächste Geld oder Schönheit. Und du?“ Hermann holte Luft. Hielt inne. Dachte. Grübelte. Alwine beobachtete ihn. Ihr Füßchen wippelte. „Und?“ Es tat sich nichts. „Glaubst du, dass ich ewig warte?“ Ihr Gesichtsausdruck wurde zornig. „Wird’s bald?“ Stille. Laute Stille.
„Ich will ein besserer Mensch werden!“ brach es schließlich aus Hermann heraus. „Kein Streit mehr. Keine Freunde verlieren.“ Natürlich heulte Hermann, natürlich drehte Alwine die Augen nach oben. Nur der Mond lächelte dazu.
„In Ordnung, ich habe verstanden. Ein besserer Mensch. Ich habe da auch schon eine Idee.“ Alwine hob ihren Zeigefinger, zog damit eine Schleife in Richtung Himmel, umkreiste Hermann einmal und stupste ihre Nase an. Ein zartes Klingelzeichen beendete die Vorstellung. „So!“, klatschte sie in die Hände, „Jetzt bist du ein besserer Mensch! Und ich sage: tschüss!“
„Halt! Du kannst doch nicht einfach verschwinden und mich alleine lassen.“
„Mein Job ist getan!“ Hermann fühlte in sich hinein.
„Ich merke nichts.“
„Das wirst du schon noch!“, grinste Alwine. Schellen und Schalmeienklänge begleiteten den kleinen Geist, als er sich in mondgelben Sternenstaub verwandelte. Auch die Flasche schien sich zunächst aufzulösen, bis sie plötzlich zerbarst. Hermann zuckte zusammen. Von weit her hörte er ein Kichern, dann war Ruhe.
Der Schmerz des Kehlkopftritts paarte sich mit einer weiteren unangenehmen Empfindung, dem Gefühl stechenden Durstes. Hermanns Pegel sank, sein wiederkehrender Geist suchte Geistiges. Zurück zum „Blauen Bunker“? War das eine gute Idee? Begegnung mit Walter? Einerlei, er brauchte eine umdrehungsfreundliche Flüssigkeit. Und vielleicht konnte er so herausfinden, ob er ein besserer Mensch geworden war.
„Hallo Walter!“ Hermann blickte auf seinen Freund hinab, dessen Kopf auf dem alten Eichentisch des „Blauen Bunkers“ lag. Walter hob träge den Kopf.
„Hallo Hermann!“ Beide Kerle sahen sich an.
„Ich mag Sankt Pauli.“ Wahre Männergespräche können kurz sein.
„Ich auch“ sagte Hermann und lächelte. So fühlte man sich also als besserer Mensch. Er setzte sich.
„Trink!“ Walter schob ihm eine Flasche Rum zu. Hermanns Herz hüpfte, alles war wieder gut. Er umfasste die Flasche. Knallend zersprang sie in Scherben. Kostbare Flüssigkeit ergoss sich auf den Kneipenboden. Walter stierte seinen Freund an.
„Was war denn das?“
Hermann erstarrte, er ahnte für einen Augenblick teuflisches Treiben. Hörte er ein Kichern? Ruckartig stand er auf, lief zur Theke.
„Ich muss es wissen!“ giftete er den verstörten Wirt an und griff er nach der nächstbesten Flasche, die sofort donnernd zersprang. Hermann rannte hinter die Theke, ging auf Tuchfühlung zu den Flaschen, die vor einem Spiegel kundenfreundlich aufgestellt waren und erledigte sie wie ein Westernheld: eine nach der Anderen. Donnern, Scherben. Zerfließendes Nass. Von weit her hörte er Glöckchen und Schalmeien.
„So war es doch nicht gemeint!“, schrie er und sank auf die Knie. „Ich will kein besserer Mensch sein!“ Hermann senkte den Kopf und das Licht des Mondes, das durch das Kneipenfenster floss, streichelte sanft sein Haar.