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‚Fliesen’der Übergang
‚Mensch Mädels, kackt mal etwas schneller!!‘ Genervt steht Jamie in der Schlange. Draußen tobt die Party, und sie will so schnell wie möglich zu dem süßen Typen zurück. ‚Jack?! Nein, Gary...ja genau: Gary heißt er.‘ Ups, der Alkohol zeigt seine Wirkung. Endlich ist eine Kabine frei. Endlich kann sie entspannt pinkeln - wurde auch Zeit. Amüsiert liest sie die Kritzeleien auf der Fliesenwand. ‚Fuck you’, ‚Jenny & Sam‘…was eben so alles auf Toilettenwänden in Kneipen steht. Ihr Blick schweift ab. Im Muster einer Fliese entdeckt Jamie ein Gesicht. ‚Wie witzig, das sieht aus wie ein Geist.‘ Ein paar Fliesen weiter sieht sie ein Strichmännchen. Darunter eine Katze. ‚Was Alkohol so alles bewirkt!‘ Zurück bei Gary vergisst sie die Fliesengestalten.
Jamies Aufwachen wird von einem unangenehmen Kater und Mundgeruch begleitet. Gary schläft noch. Zum Glück. Schnell packt sie ihre sieben Sachen zusammen und kritzelt noch ein ‚Hab’ einen tollen Tag‘ auf einen herumliegenden Papierschnipsel. Ohne ihre Telefonnummer - so toll war Jack, ähm Gary nun auch wieder nicht. Zu Hause gönnt sie sich eine ausgiebige Dusche. ‚Witzig, das sieht aus wie eine alte Frau!‘ Wieder bilden die Muster der Fliesen Formen und Figuren. Mal abstrakt. Mal gut erkennbar. Mal ein Gesicht. Mal ein Tier. Mal eine Figur. Mal hässlich. Mal schön. Bei genauerem Hinsehen zeichnet sich ganz deutlich der Kopf eines Löwen ab. Seine Augen wirken jedoch traurig. Als ob ihm die Beute davongelaufen ist. Um die Konturen deutlicher sehen zu können, neigt Jamie den Kopf zur Seite und beugt sich leicht nach vorne. ‚Armer Löwe...!‘ Sie ist vollkommen in ihre Gedanken vertieft. So vertieft, dass ihr das Shampoo aus der Hand rutscht und mit einem lauten Knall in der Duschwanne aufschlägt. Jamie zuckt zusammen, bückt sich nach ihr und hält inne. Auf der mittleren Fliese in der untersten Reihe sticht ihr eine ganze Häuserfront ins Auge. ‚Ist das nicht die Skyline von New York - und das in meiner Dusche!! Wie lustig!‘ Jamie setzt sich hin und ‚zeichnet‘ mit dem Finger die Umrisse der Wolkenkratzer nach. ‚Ich muss verrückt sein.‘ Sie lacht - noch. Nach einer ordentlichen Portion Schlaf auf der Couch ist es Zeit, sich für die Party bei Rick anzuhübschen. Jamie öffnet ihren Kleiderschrank. ‚Ich habe mal wieder nichts zum Anziehen!‘ Ihre Lieblingsjeans und das Oberteil mit dem tiefen Ausschnitt sind in der Wäsche. Dann vielleicht das eng anliegende Rosarote und den dunkelgrünen Lederminirock? Oder das langärmlige Paillettenkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt? Nein, das ist zu overdressed. Da ist noch die schwarze Dreiviertelhose. ‚Darin habe ich einen sehr knackigen Arsch! Das wird Rick bestimmt gefallen.‘ Dazu das schwarz-rote Oberteil und die roten Pumps - perfekt. Jamie holt das Oberteil aus dem Schrank und betrachtet es von allen Seiten. ‚Sind das nicht überall Strichmännchen mit dürren, hoch gestreckten Armen?‘ Jamie schüttelt den Kopf - sie sind immer noch da. ‚Was wollen sie mir sagen? Soll ich das Oberteil besser nicht anziehen? Oder winken sie mir zu, um mir zu sagen, dass es eine gute Wahl ist?‘ Das Muster darüber verbindet sich zu einem abstrakt aussehenden, schmerzverzerrten Gesicht. ‚Bah!!! Was für eine hässliche Fratze.‘ Schnell hängt sie das Oberteil zurück in den Schrank. Die Fratze starrt sie noch immer an. Es scheint, als kneife sie die Augen zu einem durchdringenden Blick zusammen. Am Saum winken noch immer die Strichmännchen. Erschrocken schlägt sie die Schranktür zu. Ihr Herz pocht. ‚Wie unheimlich. Ich werfe das Oberteil am besten gleich weg.‘ Vorsichtig öffnet sie die Schranktür...und?! - schlägt sie gleich wieder zu. Jamie holt tief Luft. Nochmal. Vorsichtig öffnet sie die Schranktür und blinzelt verstohlen hinter der Tür schutzsuchend hinein. Ihr erster Blick fällt auf die Strichmännchen - noch immer schütteln sie panisch ihre Hände. „Was wollt ihr von mir?“ Jamie zuckt zusammen. ‚Du lieber Himmel - hab‘ ich jetzt tatsächlich mit meinem Shirt gesprochen?‘ Sie reisst die Schranktür auf, holt es heraus und zieht es an. Da schrillt auch schon die Türklingel. „Hi Sandra, komm‘ rein, ich brauch‘ noch einen Moment.“ Jamie verschwindet im Bad. Sie stützt sich mit beiden Händen am Rand des Waschbeckens auf, atmet tief ein und aus, tief ein und aus. Dabei vermeidet sie den Blick in den Spiegel. In der Küche ploppt der Sektkorken. ‚It‘s Partytime!‘ Nach dem dritten Glas Sekt sind die beklemmenden Gedanken weggetrunken.
Die Party ist voll im Gange. Aber irgendwie kommt Jamie nicht richtig in Stimmung; ein seltsames Gefühl brodelt in ihr - ohne es genauer deuten zu können. Rick macht sich derweil an Larissa Jones heran. ‚Diese dämliche Tussi!‘...hat versucht, Jamie den Freund auszuspannen. Und es auch geschafft - ein halbes Jahr lang hatte Mike mit ihr hinter Jamies Rücken Sex. Das was sehr erniedrigend. ‚Heute bin ich dran, du blöde Sau!‘ Jamie wirft sich Rick offensiv an den Hals. Nachdem Larissa sich ziert, mit ihm auf das Zimmer zu gehen, widmet er sich Jamie. Rick überschüttet sie mit Komplimenten und fummelt an ihr herum, als gäbe es kein Morgen. Sie genießt die Aufmerksamkeit und die Genugtuung, den Sieg über Larissa Jones. „Entschuldige mich bitte, ich mache mich kurz frisch. Du verstehst, was ich meine…“ Verführerisch zwinkert sie Rick zu. Statt zu antworten gibt er ihr einen Klaps auf ihren geilen Arsch. Auf dem Weg zur Toilette bleibt Jamie vor einem bodentiefen Spiegel stehen. Sie betrachtet sich von allen Seiten. ‚Passt perfekt!’ Ihr Blick bleibt erneut an ihrem Shirt hängen. Die Strichmännchen fuchteln ihr panisch zu. Jamie kneift die Augen zusammen, schüttelt den Kopf und geht schnell weiter. Aber auch auf der Toilette kommt sie nicht zur Ruhe. Sie muss die Fliesen anschauen; sie nach Mustern, Figuren und Gesichtern absuchen. Mit ihrem Zeigefinger malt sie die erscheinenden Formen nach. Hier ein Hut, da ein Schwein, dort ein Elefant - und vergisst dabei völlig die Zeit. „Hallo, alles klar da drin?“ Das laute Poltern an der Tür reisst sie aus ihrer Fantasie. ‚Wie peinlich!‘
Später landet Jamie mit Rick im Büro seines Vaters. Unten tobt derweil die Party. Jamie fühlt sich wie im siebten Himmel. Rick sieht gut aus und ist aus reichem Haus - was will sie mehr? Er dreht den Schlüssel der Tür um. Wie ein wildes Tier fällt er über Jamie her, drückt sie mit Wucht gegen die Wand, presst seine Lippen auf ihre. Jamie verwechselt Ricks Gier nach Sex mit Leidenschaft. Seine Hände wandern über ihren Körper, streifen ihren Bauch, kneten ihre Brüste, reiben über ihre Brustwarzen, umklammern ihren Hals und drücken zu. Ehe Jamie es sich versieht, steckt seine Hand in ihrer Hose und drängt sich zwischen ihre Beine. Sie greift nach Ricks Arm, um ihn zu stoppen - das geht ihr doch zu schnell. „Jetzt hab‘ Dich nicht so. Oder denkst Du etwa, ich will mit Dir meine Briefmarkensammlung anschauen?“ Unsanft stösst er Jamie auf das Sofa. Dabei schlägt sie mit dem Kopf gegen die Wand. Ohne danach zu fragen, wirft er sich auf sie, drückt mit seinen Beinen Jamies Oberschenkel auseinander und schiebt seine Hand sofort wieder in ihre Hose. Als sich Jamie erneut wehrt, verpasst ihr der Sohn aus reichem Hause eine schallende Ohrfeige. „Du bist genauso verklemmt wie diese Larissa. Darauf hab’ ich heute keinen Bock. Verschwinde!“
Zu Hause kauert sich Jamie auf den kalten Fliesenboden ihres Badezimmers und weint. Aus Wut, Verzweiflung und…aus bitterer Enttäuschung. Ihr Racheakt ist erfolgreich missglückt. Jamies Tränen zerspringen auf dem Boden in tausend, glitzernde Perlen. Vermischt mit ihrer schwarzen Mascara, bilden sie auf den Fliesen verschiedene, abstrakte Formen. Wieder zieht Jamie die Striche nach. Häuser, freundliche und verzerrte Gesichter, Eier, Hühner, Tulpen und Katzen. Von diesen fantasiereichen Facetten fasziniert, verliert sie die Kontrolle über Raum und Zeit. Jamie fängt an zu erzählen. Sie redet mit den Fliesengestalten wie mit ihrer Freundin Sandra beim Kaffee im ‚Angelos‘; berichtet ihnen von dem katastrophalen Abend mit Rick, dem missglückten Rachefeldzug „...und dann hat er mich einfach rausgeworfen. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie ich mich gefühlt habe?“ Jamie führt mit den Bildern auf den Badezimmerfliesen einen angeregten Dialog. Dabei ist es ihr egal, ob sie mit einem Ei, einer Katze oder mit einem Hut spricht. Wie aus dem Nichts wabern die Strichmännchen aus der Mascarasuppe. „Jamie, Du armes Ding - wir können Dich sehr gut verstehen. Du hast unsere Warnsignale mehrmals ignoriert. Also ließen wir Dich in Dein seelisches Verderben laufen.“ ...und lösen sich wieder in der Mascara auf. „Ich habe Eure Warnung nicht verstanden!“ Sie stockt. ‚Natürlich habe ich sie verstanden. Ich wollte sie aber nicht wahrhaben. Ob die Strichmännchen bemerken, dass ich eben gelogen habe?‘ „Ja, Jamie, wir bemerken es.“ Ein Schauder läuft durch Jamies Körper. Überall tauchen hässliche Fratzen auf. Es scheint, als springen sie aus dem gebrannten Keramik heraus. Irgendetwas rufen sie Jamie zu. Ihre Laute sind undefinierbar, gurgelnd, krächzend. Sie sausen quer durch das Badezimmer. Von einer Ecke zur anderen. „Jamiiieeee…nimm’ Dich…in Acht…Jamiiieeee…sei auf der Hut“…Sie versucht ihnen zu folgen, wirft den Kopf hin und her. Doch Jamie vernimmt nur Wortfetzen. Die Stimmen reden so wirr und undeutlich. „Ich kann Euch nicht verstehen. Was wollt ihr von mir? Lasst mich endlich in Ruhe!! Was habe ich Euch denn getan?“ Erschöpft sackt sie auf dem harten Boden des Badezimmers zusammen und schläft ein. Nach drei Stunden wacht sie von einem schmerzhaften Kribbeln auf. Ihr Arm ist eingeschlafen. Jamie öffnet die Augen - nur ein kleines bisschen, das Badezimmerlicht blendet sie. ‚Was mache ich hier?‘ Durch ihre Augenschlitze entdeckt sie die verwischte Mascara am Boden. Jamie reißt die Augen auf. ‚Sie sind weg! Sie sind weg! Oh nein!!! Wo sind sie hin?‘ Jamie beginnt nach ihnen zu suchen. Panisch schaut sie sich um, dreht den Kopf nach links, dreht den Kopf nach rechts, tastet und wischt mit den Händen über die Fliesen. ‚Sie sind weg!‘ „Wo seid Ihr? Gebt mir eine Antwort. Wo, verdammt nochmal, seid Ihr?“ Auf allen Vieren kriecht Jamie über den harten Fliesenboden des Badezimmers. Zentimeter für Zentimeter tastet sie ihn ab. Wo sind die Gesichter, wo die Katze und Hühner, wo sind die Strichmännchen. „Woooo seiiiiiiiiid iiiihhhhhr???“ Jamie zuckt zusammen. ‚Habe ich jetzt tatsächlich nach meinen Fliesen gerufen? Ich muss verrückt sein‘. Sie kichert - peinlich berührt, nachdenklich; fassungslos.
‚Eine Tasse Kaffee wird mich auf andere Gedanken bringen.‘ Monoton brummt die Maschine. Gedankenverloren betrachtet Jamie die Holzmaserung ihrer Küchenarbeitsplatte. ‚Ist das nicht eine Schlang…?! Nein, da ist nichts!!!‘ Unbehagen macht sich in ihr breit. ‚Oh mein Gott!! Werde ich etwa verrückt?‘ Natürlich will sie nicht verrückt werden. ‚Ab jetzt ist Schluss. Kein Fliesenkram mehr.‘ Von ihrem Vorhaben felsenfest überzeugt, versucht sie mit eisernem Willen den Verlockungen zu trotzen - und?...scheitert bereits nach zwei schier endlosen Tagen. Die erlösende Kapitulation ereilt sie ausgerechnet beim Pinkeln. Auf der Toilette in ‚Angelos Café‘ wird sie beim Anblick der bunten, rauen Terracottafliesen schwach. Ihr Trieb gewinnt die Oberhand. Sie hat sich nicht mehr im Griff. Mit einer nicht kontrollierbaren Macht drängt ihr Gehirn sie dazu, bemusterte Flächen nach versteckten Bildern ab zu suchen. Sie zu erkennen. Jamie muss mithören, wie ihr Gehirn mit Häme über ihren ohnmächtigen Widerstand lacht. Doch es macht ihr nichts aus. Sie ist erleichtert. ‚Das waren mit Abstand die zwei schrecklichsten Tage meines Lebens. Überall gibt es so viele wunderschöne, geheimnisvolle Motive. Sie wollen von mir entdeckt werden. Sie warten nur auf mich. Nur auf mich alleine. Nur ich kann sie sehen. Warum soll ich auf diese besondere Gabe nicht stolz sein? Darin bin ich einzigartig. Was ist daran so schlimm?‘ Jamie malt eine Rose nach. ‚Sie ist so schön!‘ Gelöst und zufrieden kehrt Jamie zu Sandra zurück. Ihr Cappuccino ist längst kalt. Der Milchschaum klebt angetrocknet am Tassenrand. „Sag‘ mal, bist Du auf dem Klo eingeschlafen? Du warst über zwanzig Minuten weg!“ „Ich habe wieder diese Bauchkrämpfe. Du weißt, mit Durchfall und so. Aber jetzt bin ich erleichtert und es geht mir blendend.“ Sandra will nicht näher darauf eingehen. Es gibt weitaus appetitlichere Themen als Jamies Durchfallattacken. „Weißt Du noch, letzte Woche, auf Ricks Party, da habe ich einen echt süßen Typen kennengeler....blablabla...“ Jamie schweift ab. Sie hört Sandra nicht mehr zu. Ihre Gedanken sind ganz bei ihren Fliesenfreunden. ‚Bald bin ich wieder bei euch. Oh, was ich mich freue!!‘
Damit beschließt Jamie ‚ihrer Gabe‘ freien Lauf zu lassen. ‚Sandra hasst Kalkflecken - sie wischt immer alle Armaturen nach. Martha sortiert die Tassen nach Farben und Größe. Thommy füllt die Gewürze in gleichaussehende Behälter um. Und ich? Ich male eben Bildchen auf Oberflächen nach - wie man sieht, hat jeder seinen ganz persönlichen, kleinen Tick.‘ Damit redet Jamie sich ihre Besessenheit schön; gibt sich und ihr bisheriges Leben auf. Immer wenn Jamie sich unbeobachtet fühlt, zeichnet sie die Formen mit ihrem Finger oder einem Stift nach. ‚Ein bisschen erinnert mich das an die Bildchen aus meinen Kindermalbüchern. Die mit den Zahlen. Ich musste sie mit Strichen verbinden. Prinzessinnen und Katzen mochte ich besonders.‘ Jamie liebte diese Bilder. ‚Das ist es!! Daher habe ich meinen Spleen.‘ Endlich hat sie eine plausible Antwort erfunden. ‚Ich bin also nicht verrückt!! Wusste ich doch von Anfang an!‘ Jamie ist sehr erleichtert. ‚Es ist ja nur ein Spiel. Jeden Tag eine Figur, ein Bild, ein Gesicht mehr als am Vortag entdecken. Was ist denn schon dabei?‘ Jamie gewährt dem wachsenden Wahnsinn immer mehr Platz in ihrem Alltag. Noch hält er sich zurück; wirft sich mit seiner zerstörerischen Macht nicht komplett über Jamies Leben. Längst hätte er die Oberhand gewinnen können. Aber, es ist ein Spiel. Greift er in die Vollen, ist es viel zu schnell vorbei. Egal, wo Jamie sich aufhält, überall sucht sie die Wände und Böden nach versteckten Zeichen oder Figuren ab. So birgt der hellgrün-melierte Boden in der U-Bahn viel freundlichere Gestalten, als die schmuddelig-weißen Fliesen in der Bahnhofstoilette. Für Jamie besteht die größte Herausforderung jedoch nicht darin, immer wieder Neues zu entdecken - ihre Fantasie hat sich längst zum Selbstläufer entwickelt. Nein, sie will ihr einzigartiges Talent geschickt vor ihrer Umwelt verstecken. ‚Niemand darf davon erfahren!!! Sonst halten mich alle für bekloppt. Sie würden es nicht verstehen, da sie nicht meine Gabe besitzen. Aber...eigentlich bin nicht ich diejenige, die verrückt ist. Für die anderen sind es nur kalte Fliesen, Böden und Muster. Doch in ihnen ist Leben. Man muss der Fantasie Raum geben, es zulassen und nicht denken, dass man verrückt ist.‘ Von Woche zu Woche werden Jamies Besuche bei ihrer besten Freundin Sandra seltener. „Ihre Küche ist sowas von langweilig. Dort werde ich noch wahnsinnig!! Rote Fliesen am Boden und Graue an der Wand. Ohne Struktur - alles eine durchgehende Farbe. Auch im Bad. Wie hält sie das nur aus?“ Bei einem ihrer nächtlichen Gespräche mit ihren Freunden im Badezimmer, läßt sie ihrer Enttäuschung darüber freien Lauf. Jamie erfindet immer neue, perfide Ausreden, um einen Besuch bei Sandra zu vermeiden: Durchfall, Bauchkrämpfe, Migräne, länger arbeiten, einkaufen, putzen, müde... Dabei besucht sie viel lieber Martha Adams. Heimlich. Sandra darf niemals davon erfahren. ‚Die uralten, hellblau-weißen Fliesen in Marthas Gästeklo sind der Hammer. Sie erzählen so viele Geschichten.‘ Vor jedem Besuch bei Martha trinkt Jamie vier große Gläser Wasser und bei ihr jede Menge Tee. ‚Schließlich brauch‘ ich einen Vorwand, um meinen Freunden an der Wand ausgiebig ‚Guten Tag‘ sagen zu können.‘ Martha wundert sich allmählich über Jamies häufige Besuche, so eng sind sie eigentlich nicht befreundet. Sie sagt jedoch nichts - das wäre unhöflich. „Willst Du nicht mal zum Arzt gehen?“ ‚Verdammt, es fällt auf.‘ „Ähm, wie kommst Du darauf?“ „Du hast schon seit drei Wochen eine Blasenentzündung, das ist nicht gesund. Alle zehn Minuten rennst Du zur Toilette.“ „Ach Martha, Du bist ja süss. Ich bemerke das schon gar nicht mehr. Aber Du hast recht. Ich mache nächste Woche bei Dr. Jadan einen Termin.“ ‚Ich muss mir eine neue Freundin suchen. Keine Angst, meine Lieben, ich finde jemanden.‘ Von Tag zu Tag werden Jamies Besuche bei Martha immer seltener.
Zwei Monate später diktiert die Psychose Jamies komplettes Leben. Sie ist von ihr voll und ganz eingenommen - unausweichlich, wie ferngesteuert. Unter der Woche steht sie mittlerweile eine Stunde früher auf. An den Wochenenden um Punkt sieben Uhr. Oft wacht sie vor dem Wecker auf, zwingt sich jedoch dazu, liegen zu bleiben. Meist genießt Jamie die Vorfreude. Es gibt auch Tage, an welchen sie mit aufkochender Wut und quälender Ungeduld die Zeiger des Weckers verfolgt. „Heute bewegt Ihr Euch wieder extra langsam. Warum wollt ihr mich ärgern? Dreht Euch schneller.“ Mit einem schrillen Gebimmel läutet der Wecker die Zeit zum Aufstehen ein. „Endlich!!“ Akribisch kontrolliert sie Fliese für Fliese im Badezimmer, der Gästetoilette, der Küche. Um nichts zu vergessen oder gar zu übersehen, geht sie nach einem von ihr präzise erstellten, täglichen Ablaufplan vor. Sie ändert und verbessert ihn stetig. Er muss perfekt sein. An markanten Stellen klebt sie mit einem Klebestreifen Butterbrotpapier auf die Fliesen, um darauf die Muster, Formen und Gesichter mit einem dünnen Bleistift nachzuzeichnen. ‚Ohhhhh, was werde ich heute wohl wieder Neues finden?‘ „Guten Morgen meine Lieben, habt Ihr gut geschlafen? Zeigt Euch doch.“ Langsam ploppen hier und da Striche aus den Fliesen hervor. Sie formen sich zur Pferden, Katzen, Dinosauriern, Flugzeugen oder Autos. Die hageren Strichmännchen begrüßen Jamie jeden Morgen mit einem fröhlichen ‚Hallo Jamie, schön Dich zu sehen‘. An guten Tagen blicken auch die finsteren Fratzen freundlich drein. An weniger guten Tagen beschimpfen sie Jamie schon früh am Morgen. Diese Schmach lastet den ganzen Tag auf ihren Schultern; schwer wie Blei. Jamie kann es nicht ertragen, von ihren Fliesenfreunden verachtet zu werden. „Du bist wahnsinnig, Jamie!“ „Na, das gestrige Date hast Du grandios vermasselt. Du bist mittlerweile schon zu doof zum Vögeln.“ „Statt mit zerzausten Haaren und wundgefickter Pussi kommst Du mit heimlich abgepausten Bildchen auf Klopapier nach Hause!“ Das Lachen der Fratzen durchdringt Jamie wie brennende Pfeile. Leider haben sie recht. Der Abend hat so vielversprechend angefangen. Henry hat Jamie in eines der besten Restaurants der Stadt ausgeführt. Jamie bestellte Fisch - vorsorglich. Später plauderten sie über Gott und die Welt bei einem leckeren Daiquiri im Oscars. Doch statt mit Henry eine heiße Nacht zu verbringen, hat sich Jamie im Badezimmer eingeschlossen. Sie schob eine Magen-Darm-Verstimmung vor. „Es ist wohl der Fisch. Er bekommt mir irgendwie nicht.“ „Soll ich Dich nach Hause fahren?“ „Oh, im Moment ist das keine so gute Idee! Aber es geht bestimmt gleich wieder! Schlaf‘ doch schon mal.“ ‚Wie peinlich, früher wäre ich im Erdboden versunken. Aber ich kann den Designerfliesen in Henrys Bad nicht widerstehen.‘ Jamie zittert am ganzen Körper. Vor Nervosität. Vor Aufregung. Vor Freude. ‚So viele, neue Sachen. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!‘ Ihre Augen sind weit aufgerissen. Sie tapst hin und her, von einer Ecke zur anderen. „Jamie?! Ist alles in Ordnung?“ „Ja Mann, halt die Klappe.“ Jamie bleibt abrupt stehen und zuckt zusammen. „Ich meine natürlich ‚ja, alles gut‘. Ich kämpfe nur gerade mit meinem Durchfall.“ Der nächste Stromschlag durchfährt sie. Entsetzt blickt sie in den Spiegel. ,Habe ich das eben wirklich gesagt? Durchfall! Oh Gott, ich kann Henry nie mehr in die Augen schauen.‘ Plopp, ein Strichmännchen winkt ihr fröhlich zu. ‚Oh, was bist Du denn für ein nettes Kerlchen!?‘ Schon ist Henry vergessen. Vorsichtig löst Jamie eine Lage Toilettenpapier ab. ‚Weiß - das ist perfekt!‘ Mit etwas Spucke klebt Jamie die fast durchsichtige Lage an die Fliese und schon beginnt ‚das Spiel‘. Einen weichen Bleistift hat sie immer dabei. Jamie malt Charly Chaplin, eine Prinzessin mit ausladendem Kleid und Perlen, ein Märchenschloss, einen Pfau, drei Pferde, vier Kutschen, zwei Elefanten, eine Häuserfront, ihre geliebten Strichmännchen und die Fratzen. ‚Auf die könnte ich verzichten!‘ „Jamie, das haben wir gehört. Sieh‘ Dich vor!!“ „Bitte entschuldigt, ich habe es nicht so gemeint!“ ...drei Autos, Hunde, Mäuse, Straßenschilder, flackernde Kerzen...Jamie malt und malt. Mit dem Morgengrauen wacht sie auf dem Badvorleger auf. Sie friert. Ihr gesamter Körper schmerzt. Überall klebt Toilettenpapier mit Bleistiftbildern. Manche liegen am Boden. ‚Zu wenig Spucke.’ Jamie sammelt alle ein, sortiert und häuft sie liebevoll zu einem Stapel. Vorsichtig öffnet sie die Tür zu Henrys Schlafzimmer. ‚Er schläft - zum Glück!!!‘ Leise schleicht Jamie durch das Zimmer. Draußen im Flur atmet sie tief durch. ‚Geschafft! Nein!! Verdammt!!! Die Klopapierbildchen liegen noch im Badezimmer. Ich kann sie nicht alleine lassen, das ist unmöglich. Das verzeihen sie mir niemals!!‘ Jamie nimmt allen Mut zusammen. ‚Ich muss sie holen.’ Auf Zehenspitzen tippelt sie durch das Schlafzimmer. ‚Shit! Gleichgewicht zu halten ist gar nicht so einfach.‘ Fast wäre sie auf das Bett gefallen. Henry bewegt sich. Jamie stockt der Atem. Wie gelähmt bleibt sie stehen und starrt auf Henry. ‚Was mache ich, wenn er aufwa…Puh, er hat sich nur umgedreht. Jetzt aber schnell.‘ Endlich hat sie das Badezimmer erreicht. Eilig, aber mit Sorgfalt, schnappt sie die Bilder. Ohne auf Henry zu achten, rennt Jamie durch das Schlafzimmer, knallt die Tür zu, greift im Vorbeirennen Tasche, Jacke, Schuhe und hetzt die Wohnungstür hinaus. Im Hausflur bleibt sie kurz stehen. Jamies Herz rast. Durch die Tür vernimmt sie von Henry ein gedämpftes „Jamie, was ist denn nur los?“. Ohne zu antworten stürmt sie barfuß die Treppe hinunter. Krachend fällt die Haustür ins Schloss. Sie lehnt sich an die Hauswand, ist erschöpft, außer Atem. Allmählich normalisiert sich Jamies Puls. Zwei ältere Damen gehen an ihr vorbei, mustern sie von oben bis unten und laufen kopfschüttelnd weiter. Langsam blickt Jamie an sich herunter. ‚Shit, ich bin nackt!!‘ Sie trägt lediglich einen BH und hautfarbene Nylonstrümpfe, die bis zum Knie reichen. ‚Verdammte Scheiße, was mach‘ ich nur! Ich bin nackt! Neeeeiiiin!!‘ „Zieh‘ Deine Jacke an!“ „Danke, wenn ich Euch nicht hätte.“ Ein Glück reicht die Jacke bis knapp unter den Po. „Taxi!“
Zu Hause angekommen, breitet Jamie die zusammengeknüllten Klopapierlagen auf dem Esszimmertisch aus. „Macht Euch keine Sorgen, ich streiche Euch glatt. Ich lasse Euch nicht so verknittert liegen.“ Während sie Hühner, Pferde, Eier in eine Gruppe und Strichmännchen, Fratzen und Figuren in die andere sortiert, drückt sie immer wieder Henrys Anrufe weg. Schließlich blockiert sie seinen Kontakt. ‚Ich habe bei ihm alles gesehen.‘
Jamie kapselt sich immer mehr von ihrer Umwelt ab. Sie meldet sich nicht mehr bei ihren Freunden. Sie geht nicht mehr feiern. Sie hat keine heißen Nächte mehr. Keine exzessiven Shopping-Touren, kein stundenlanges Plaudern mit Sandra im ‚Angelos‘, kein Chatten und Flirten mit Typen, keine Friseurbesuche. Sie geht nicht mehr arbeiten; braucht ihren gesamten Urlaub auf. An ihrem letzten Urlaubstag geht Jamie zu Dr. Jadan und lässt sich krankschreiben. Immer und immer wieder. … „Dr. Jadan, der Durchfall ist noch nicht besser. Können Sie mir bitte nochmals eine Krankmeldung schicken?“ … „Nein, leider kann ich nicht in die Praxis kommen. Ich schaffe den Weg nicht, ohne dass ich in die Hose mache.“ … „Danke!“ Der Wahnsinn diktiert Jamies Alltag - vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Zwei, höchstens drei Stunden lässt er ihr Zeit, um wenigstens ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Sie ist rastlos, gereizt, ungepflegt. Ständig auf der Suche. In Kaufhäusern, Cafés, Kneipen, im Baumarkt, sie inspiziert das Kopfsteinpflaster in der Einkaufsstraße, die marmorierte Wand in der Apotheke. Wenn sie die Erscheinungen nicht abzeichnen kann, wird sie nervös, fühlt sich schuldig. „Es tut mir so leid, ich muss Euch hier lassen. Die Leute schauen mich schon komisch an.“
„Okey Sandra, wir treffen uns morgen Abend im ‚Angelos’, wir haben uns wirklich schon lange nicht mehr gesehen.“…“Ja, ich nehme mir die Zeit, auch wenn ich im Moment unglaublich stark in meinem Job eingespannt bin.“ … „Gut, meinetwegen ziehen wir anschließend auch ein bisschen um die Häuser.“ Jamie legt den Hörer auf. Ihr Blick fällt auf die Strichmännchen. Sie fuchteln panisch mit den Händen. „Doch, ich muss mit Sandra weggehen. Sie ist sowieso schon sehr mißtrauisch. Was, wenn sie hier einfach auftaucht? Wie soll ich ihr das erklären?“ „Jamie, pass‘ auf, sei auf der Hut.“ „Was meint Ihr?“ Wieder geben die Fratzen nur gurgelnde, krächzende Wortfetzen von sich. Sie nimmt allen Mut zusammen und trifft sich, trotz der undurchsichtigen Drohungen der Fratzen, mit Sandra. Es kostet sie viel Überwindung, ihre Freunde alleine zu Hause zu lassen. „Ich bin bald wieder da. Vielleicht sehen uns ja im ‚Angelos‘ auf der Toilette.“ Mit einem engen Kleid und viel Schminke versucht Jamie von ihrer fahlen Haut und den Augenringen abzulenken. Sandra fallen die Veränderungen an Jamie sofort auf. Sie sagt nichts - aus Angst, das Jamie auf dem Absatz kehrt macht. Nach anfänglichem Schweigen, erzählt Sandra, was sie in den vergangenen Wochen so alles erlebt hat, mit wem sie geschlafen und wer sie zum Essen ausgeführt hat. „Im Moment date ich einen älteren Herrn, er ist sehr großzügig. Schau’, die Ohrringe hat er mir das letzte Mal geschenkt.“ „Wow, sie sind wunderschön!“ ‚Es spiegeln sich kleine Sterne und Monde darin. Könnte ich sie doch nur abzeichnen.‘ Zwischendurch verschwindet Jamie immer wieder auf der Toilette. Ihre Sehnsucht ist groß. Wider Erwarten fühlt sich Jamie ganz wohl. Es ist schön, mit Sandra zu plaudern, mal wieder etwas anderes zu erleben. So landen die beiden reichlich angeheitert auf der Party von Sandras neuem Freund. Michael wohnt in einem großen Haus mit Pool und allem erdenklichem Schnick-Schnack. Nach einem kurzen Smalltalk mit Michaels Freund Dave, entschuldigt sich Jamie höflich. Sie schleicht durch das Haus - auf der Suche nach dem Badezimmer. Den Bleistift in der Hand. Am Ende des luxuriösen Schlafzimmers eröffnet sich für Jamie das Schlaraffenland. Ein Badezimmer komplett aus Marmor. Hastig schließt sie die Tür. „Hallo meine Lieben - ich bin wieder da!!!!“ Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie ist aufgeregt. Ihre Hände zittern, als sie das Toilettenpapier in die einzelnen Lagen trennt. Mit ihrer Spucke klebt sie die Toilettenpapierlagen an die Wände und auf den Boden. Sie beginnt zu zeichnen. Zwischendurch redet sie mit den Bildern. Sie ist selig. Wieviel Zeit vergeht, weiß sie nicht. Es ist nicht wichtig. Mit Wucht fliegt das angelehnte Fenster auf und wirbelt mit einem Windstoß alle Bilder hoch. Einige fliegen aus dem Fenster. „Neeeeiiiiinnnnn!!! Niiiicchht!“ Jamie springt durch das Badezimmer und versucht die Toillettenpapierlagen aufzufangen, bevor sie auf den Boden fallen. Dabei rutscht sie aus. Sie schlägt mit dem Kopf auf dem Rand der Badewanne auf.
Jamie wacht in einem hellen Zimmer auf. Darin steht ein Bett. Und ein Stuhl. Sonst nichts. Sie fühlt sich wie benebelt, wie in einem Wattebausch. Eine dicke Schwester tritt an das Bett. „Sie kommt bald zu sich.“...und verschwindet wieder. Jamie schläft wieder ein. Nach fünf Stunden wacht sie auf. Sie ist unruhig. ‚Wo bin ich? Was ist passiert?‘ Sie kann sich nicht bewegen. Sie ist an das Bett gegurtet. „Hilfe!!! Hört mich jemand? Hiiiiilfe!!!“ Die dicke Schwester kommt erneut. „Machen Sie sich keine Sorgen! Hier sind Sie gut aufgehoben.“ „Wo bin ich? Was ist passiert?“ „Sie hatten vorletztes Wochenende auf einer Party einen Zusammenbruch. Sie lagen bewußtlos in einem Badezimmer, inmitten von herumliegendem Toilettenpapierfetzen.“ „Was haben Sie mit dem Toilettenpapier gemacht? Wo ist es?“ „Keine Ahnung, es wird im Müll liegen. Es war ja nur Toilettenpapier.“ „War nichts drauf? Keine Muster?“ „Nein, nichts - Sie sind hier in der Psychiatrie. Ihre Freundin hätte uns das mit Sicherheit gesagt. Ruhen Sie sich noch etwas aus. Bald gibt es Abendessen.“ „Machen Sie mich los?“ „Nein.“ Jamies Herz schlägt schneller und schneller. Sie wird unruhig. Schweiß bildet sich auf der Stirn. Sie versucht sich zu befreien. Keine Chance. Die Gurte sitzen so fest, dass es gerade zum Atmen reicht. „Könnt Ihr mich hören? Seid Ihr da?...So sagt doch was! Halllooo??!?!?“ Jamie schaut um sich - so gut es die Gurte zulassen. Panik steigt in ihr hoch. Um sie herum schneeweiße Fliesen, mit weißen Fugen. Ohne jegliche Struktur. Nichts. Die Bettwäsche - weiß. Der Fensterrahmen - weiß. Der Himmel blau. Sie dreht den Kopf nach links. ‚Sie sind nicht mehr da. Was habe ich nur angerichtet?‘ Auf dem weißen Stuhl liegt ihr Bleistift. Er ist zerbrochen.