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ß in der Krise
ß stand im Vorraum der Toilette vor dem Spiegel. Er drehte sich hin und her und schlug sich leicht auf die Wölbung seines Bauches. Langsam traten ihm Tränen aus den Augen und kullerten über seine runden Backen.
„Oh, entschuldige, ß!“, rief ihm s zu, der in den Raum stürmte, ohne anzuklopfen. „Aber ich muss mich unbedingt frisch machen. Ich bin ja so im Stress! Fast alle Schulklassen schreiben am Ende des Schuljahres noch Diktate. Und da ich in so vielen Worten vorkomme, verlangt man überall nach mir.“
Schnell spritzte s sich etwas Wasser ins Gesicht. Als er den Kopf hob und ebenfalls in den Spiegel schaute, stutzte er: „Warum weinst du denn? Was ist dir zugestoßen?“
„Keiner mag mich“, jammerte ß. „Die Kinder sind ständig wütend auf mich, weil sie eine Menge Fehler in ihren Arbeiten machen. Immer vergessen sie, dass es auch noch einen Buchstaben wie mich gibt.“
„Jetzt mach’ dir keine so tristen Gedanken“, beruhigte s seinen Buchstabenfreund. „Sie müssen erst lernen, dass es verschiedene Schreibweisen für ein s gibt. Auch bei mir ist es nicht immer einfach. Mal komme ich alleine vor, wie in dem Wort ‚reisen’. Aber will ich ein Stück Stoff kaputtmachen, also ‚zerreißen’, dann trittst du in Aktion und musst mich ersetzen. Das Wort hat dann eine andere Bedeutung.“
„Aber ich werde in dem Moment wieder von dir und deinem Zwillingsbruder ersetzt, wenn der Stoff schon kaputt ist, also wenn er ist bereits ‚zerrissen’ ist“, fällt ß in das Wortspiel ein. „Kein Wunder, dass die Kinder so viele Fehler machen. Das ist ja furchtbar verwirrend.“
„Da siehst du es. Es ist nicht deine Schuld, wenn sie sauer sind, weil sich wieder scheußlich viele Fehler in ihre Arbeiten geschummelt haben.“ S legte beruhigend seinen Arm um die schmale Taille von ß.
„Ja, du hast Recht. Und das ist jetzt nur ein einziges Wort mit drei verschiedenen Schreibweisen und drei verschiedenen Bedeutungen. Da tun mir die Schüler wirklich Leid.“ ß musste schniefen, denn es traten ihm weitere Tränen in die Augen.
„Wollen mal sehen, ob wir noch so ein Wort mit mehreren Bedeutungen finden“, schlug s vor und begann scharf nachzudenken.
„Mir fällt noch etwas ganz Kompliziertes ein“, rief s nach einer Weile. „Nehmen wir das schöne Wort ‚wissen’. In der Grundform trete ich im ss-Doppelpack auf. Aber wenn ich etwas ‚weiß’, da ersetzt man mich durch dich. Auch bei der Farbe ‚weiß’ wird deine Anwesenheit verlangt.“
„Aber da haben wir es doch schon wieder!“, jammerte ß. „Die Worte werden nicht so ausgesprochen, dass man erkennt, dass sie mit ß geschrieben werden. Und dafür werden mich die Kinder hassen.“
„Da ist natürlich dann der Fleiß der Kinder gefragt. Sie sind verpflichtet, die Regeln zu lernen“, antwortete s.
Einen Augenblick herrschte Stille zwischen den beiden Buchstaben. Nur ab und zu hörte man ein leises Seufzen und Schniefen von ß.
Plötzlich rief s laut: „Jetzt habe ich ein schönes Beispiel, das dir bestimmt gefallen wird.“
ß sah seinen Buchstabenfreund skeptisch an.
„Nimmt mal das Wort ‚messen’. Mit was misst man?“
„Na, mit dem Metermaß, mit was sonst“, antwortete ß und schnäuzte sich in sein Taschentuch.
„Und Maß schreibt man mit …? Mit ß natürlich.“ S war ganz aufgeregt. „Und hier hast du einen Fall, wo man sofort hört, dass deine Anwesenheit verlangt wird. Man spricht das a lang gezogen, also Maaaaaß.“
„Ja, stimmt“, entgegnete ß und wischte sich heimlich die letzte Träne aus dem Gesicht. „Das gleiche gilt für ‚Maaaaßstab’, ‚Maaaaaßnahme’, ‚Maaaaaaßeinheit’….“ ß wollte gar nicht aufhören und zog die Worte immer weiter in die Länge.
„Für das Wort ‚Hefekloß’ gilt das auch“, unterbrach s die Wörterkette von ß. „Da siehst du, wenn du auftauchst, kann man erkennen, wann ein Vokal vorher lang gesprochen wird."
Plötzlich ertönte im Lautsprecher auf den Gang eine laute Stimme: „Hallo s! Wo bist du? Beeile dich! Wir brauchen dich sofort im Klassenzimmer der 5 b. Der Lehrer will mit dem Diktat beginnen. Alle anderen Buchstaben sind schon da, nur du und ß fehlen noch. Wenn du deinen Buchstabenpartner siehst, dann sag ihm, dass er sich ebenfalls sputen soll. Denn ohne ihn hagelt es wieder Fehler um Fehler in den Klassenarbeiten.“
S stieß seinen Freund in die Seite: „Da, hörst du es! Wir werden beide verlangt. Na, dann mal los Sportsfreund!“