Überzeugt. Aus Einsamkeit.
-Nach einer wahren Begebenheit-
"Bitte nicht. Lass mich leben, ich flehe dich an!“, schrie Adam aus vollem Halse und fing gleichzeitig an zu lachen. Er hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Dieser Tag war einfach perfekt, dachte Adam, als er schließlich mit einem leichten Stoß seines Kumpels John mit seinem Schlitten den Hügel hinunter gestoßen wurde.
Endlich war der Winter in seiner Heimat, dem amerikanischen Minenstädtchen Evanston im Bundesstaat Wyoming, angekommen. Lange hatte es nicht mehr so geschneit wie vergangene Nacht. Für Adam sogar eine gefühlte Ewigkeit. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt mit seinen Kumpels Rodeln war. John und Pierre teilten diese Ansicht, waren sie doch über ein Jahr jünger als Adam und hatten einen solch harten Winter noch nie bewusst miterlebt. Adam wuchs gut behütet bei seinen Eltern auf, ging in die fünfte Klasse und hatte heute ein wenig eher frei als sonst. Diese Zeit nutzten die drei, die zusammen alles teilten, gemeinsam ihre Freizeit verbrachten und auf die selbe Schule gingen, um bei diesem Wetter endlich einmal ihre Schlitten auszuprobieren, welche ansonsten ein trostloses Leben in ihren Kellern führten und nur darauf warteten, irgendwann einmal entsorgt zu werden.
Adam liebte den Winter. Er liebte den Schnee, vor allem, wenn er ein wenig fester war und man aus ihm lauter kleine Schneebälle formen konnte. Außerdem war diese Art von Schnee perfekt zum Rodeln. Im Sommer verbrachten die drei zusammen an diesem Hügel schon die ein oder andere Stunde, in welcher sie gemeinsam Frisbee oder verstecken spielten. Der kleine Hügel lag nah am Wasser, direkt an einer alten Eisenbahnbrücke. John hatte Adam ein wenig schief angeschoben, sodass er näher als sonst an die Mauern der Eisenbahnbrücke heran rauschte, wenngleich immer noch genug Abstand vorhanden war, um nicht mit ihr zu kollidieren. Adam hielt sich wie immer mit beiden Händen an den vorderen Griffen seines alten Holzschlittens fest und rodelte Meter für Meter den Hügel hinab. Als er beinahe unten angekommen war und gerade seinen Fuß für eine abrupte Bremsung in Richtung Boden strecken wollte, riss es ihn mit einem Mal aus seinem Gefährt. Adam erkannte viel zu spät, dass der weiße Boden an einer Stelle sehr uneben war. Direkt vor ihm musste eine Art Metallplatte unter dem Schnee gelegen haben, welche ihn aus seinem Schlitten hob und diesen an einigen Stellen zum Knacken brachte. Adam landete sanft im Schnee und war völlig perplex. Er hatte sich bis auf ein paar Schrammen nicht all zu viel getan, doch das Hindernis durch die tiefe Schneedecke nicht im Ansatz erahnt. Als Adam John und Pierres Gelächter von oben hörte, rappelte er sich auf und ging in Richtung der Metallplatte und seines leicht zerbeulten Schlittens. Im nächsten Moment fuhr Adam ein Schrecken durch die Glieder, den er seines Lebtages nicht mehr vergessen sollte.
Adam verlor komplett die Fassung. Als er nach einigen Sekunden des Schocks wieder zu sich kam, schrie er lauthals auf und rannte panisch und so schnell er konnte den Hügel hinauf. Er wollte nichts wie weg. Noch nie zuvor hatte er eine scheinbar harmlose Metallplatte im Schnee liegen sehen, welche bei genauerem Hinsehen deutlich als männliche Leiche erkannt werden konnte, etwa 50 bis 60 Jahre alt und konserviert durch die Witterung an diesem schrecklichen Tag.
Timothy Green war ein gutaussehender, kräftiger junger Mann Ende dreißig, der von Kindesbeinen an auf Actionfilme, Cowboystiefel und Pferde stand. Er machte nie einen Hehl aus seinem Faible für Cowboys und jeder, der ihn etwas näher kannte, wusste, warum Timothy so tickte. Schon sein Vater hatte ihn damals als kleinen Jungen immer wieder mitgenommen auf seine Ranch in den Rocky Mountains. Timothy fing früh an, diesen Lebensstil zu lieben, zu verinnerlichen und wuchs auf als Sohn eines waschechten Cowboys inmitten der Vereinigten Staaten.
Seine Mutter war recht früh gestorben, Timothy kannte sie nur von Fotos und aus vielen gefühlsbetonten Erzählungen seines Vaters. Sie musste eine ehrenhafte, eine großartige Mutter gewesen sein, dachte Timothy und redete jeden Abend mit ihr bevor er ins Bett ging. Er liebte sie, wenngleich er sie nie gesehen hatte. Sein Vater brachte ihm Schritt für Schritt alles bei, was einen guten Cowboy ausmachte. Pferde hüten und pflegen, die letzten verbliebenen Schafe aus besseren Zeiten auf der Ranch immer wieder eintreiben, und natürlich gut dabei aussehen. Timothy wusste durch seinen Vater früh, welch klischeehaftes Bild die meisten Menschen von einem Cowboy aus den Vereinigten Staaten hatten und er liebte es, diesem in großen Teilen zu entsprechen. Schon immer wollte er seinen Filmhelden ähnlich sein. Mit der Zeit erwuchs in Timothy eine regelrechte Leidenschaft bezüglich der Arbeit auf der Ranch seines Vaters, welche in späteren Jahren ihm gehören sollte. Sein Vater brauchte ihn nie groß um Hilfe bitten, da Timothy half wo er nur konnte. Er liebte die Natur, das Leben als Cowboy, als Rancher in seiner geliebten Heimat. Er wusste, dass er davon später nicht würde leben können, doch aufgeben würde er diesen kleinen Familienbetrieb niemals, so viel nahm sich Timothy vor.
Vor etwa einem Jahr nun hatte Timothy die Ranch seines Vaters geerbt und sie seitdem in Ehren weitergeführt. Er hing an ihr wie an sonst nichts anderem. Der Tod seines Vaters war für Timothy sehr schwer zu verkraften. Er kam nicht darüber hinweg, dass der wichtigste Mensch in seinem Leben ihn nun auch noch so plötzlich verlassen hatte. Timothy fing an, den Glauben an die Gerechtigkeit auf der Welt zu verlieren und ertrank seinen Schmerz, welcher von Zeit zu Zeit nur noch schlimmer zu werden schien, im Alkohol. Er verlor seinen Job als ordentlich bezahlter Kolumnist und konnte seine Wohnung nicht mehr bezahlen, welche sich nur etwa 500 Meter von der Ranch entfernt befand. Er brach den Kontakt zu Freunden ab und auch seine restliche Familie, entfernte und nahe Verwandte, kümmerte sich kaum um ihn. Timothy hielt seit ein paar Jahren nicht mehr viel von großen Familienbesuchen. Menschen, die für ihn beinahe fremd waren, so selten wie man sie sah. Er hatte kein Problem damit, den Kontakt zu der ihm verbliebenen Familie gänzlich abzubrechen.
Als Timothy 40 war, brach die Welt endgültig über ihm zusammen. Die Alkoholsucht hatte ihn weiterhin fest im Griff und er schlief im Sommer wie im Winter in dem kleinen Häuschen, welches zur Ranch gehörte und nie beheizt wurde. Seine Pferde hatte Timothy die letzten Jahre über so gut es ging gepflegt, die verbliebenen Schafe waren im Laufe der Zeit mehr oder weniger qualvoll verendet. Timothy konnte nicht mehr, das Geld fehlte an allen Ecken.
Im Dezember 2002 war es dann so weit. Die Ranch musste verkauft werden, Timothy konnte die Anforderungen des Alltags einfach nicht mehr bewältigen. Lange hatte er versucht, diesem Schritt zu entgehen, doch nun führte nichts mehr daran vorbei. Er bekam einen für ihn lächerlich kleinen Betrag für das, was von der Ranch noch übrig geblieben war samt der Pferde und war von nun an gänzlich auf sich allein gestellt. Keine Tiere mehr um ihn herum, denen er alles anvertrauen konnte. Denen er all seine Sorgen mitteilen und bei denen er sich wohlfühlen konnte. Timothy hatte das Heiligste in seinem Leben loslassen müssen. Er fühlte sich schuldig. Sich selbst sah Timothy als Verräter. Er hasste sich. Von nun an war Timothy Green obdach- und kurze Zeit später auch komplett mittellos.
Bernadette Curk war nicht gerade das, was man unter einer gescheiterten Existenz verstand. Sie war eine Frau mit Ansehen in der Stadt. New York war groß, doch mindestens genau so groß war Bernadettes Ruf in dieser Weltmetropole. Das lag nur zu wenigen Teilen an ihr selbst.
„Vater, du hast so viel bewegt. Das wirst du doch jetzt nicht aufgeben.“ Bernadette kniete sich zu ihrem Vater. Wohlwissend, dass dies sein letzter Abend in diesem Krankenbett sein könnte. „Bernadette, hör mir zu. Jedes einzelne Wort strengt mich an. Mein ganzes Leben habe ich nur drei Dingen gewidmet. Dem Kupfer, den Investitionen und dir, mein Schatz. Familie stand schon immer ganz oben auf meiner Liste.“ Bernadette schossen mit einem Mal die Tränen nur so in ihre Augen, welche sie zuvor erfolgreich unterdrücken konnte. „Du bist und warst schon immer mein Sonnenschein. Und Mamas Sonnenschein. Bernadette, bitte versprich mir, dass du eines Tages glücklich auf dein Leben zurückblicken wirst und sagen kannst, dass du dein Leben gelebt hast wie du es dir immer erträumtest. Mit dem Geld. Und trotz des Geldes. Bitte versprich mir das.“ Er hatte augenscheinlich große Probleme, die letzten Worte sicher herauszubekommen und doch verstand Bernadette unter Tränen jeden einzelnen Ton. „Vater, ich verspreche dir, dass ich mein Leben leben werde und all das Geld in Ehren halte. Ich liebe dich…“. Bernadette merkte, wie ihr Vater seine letzten Atemzüge tätigte. Für sie wirkte es unfassbar befreiend, ihrem Vater noch einmal ihre Liebe zeigen zu können. Sie wollte sein hart verdientes Geld immer gut einsetzen. Nichts dem Zufall überlassen. Nichts verschwenden. All das für ihren Vater, Willy Curk, einst bekanntester Mann Amerikas, Gründer der Stadt Las Vegas, schwerreich durch Milliardengeschäfte mit Metall und Kupfer.
Der Tod ihres Vaters ging Bernadette nah wie kaum ein anderes Ereignis zuvor in ihrem Leben. Sie dachte immer noch jeden Tag an ihn, auch wenn bereits sein 69. Todestag bevor stand. Bernadette hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihr der Trubel um den Tod ihres berühmten Vaters zu viel war. Kein einziges Interview hatte sie gegeben, niemand fremden zu sich herein gelassen. Und dennoch war sie niemals einsam. Da sie nicht allein wohnte, hatte sie immer jemanden zum Reden, zum Zuhören, zum Gebrauchtwerden. Und Bernadette hatte viel Redebedarf. So viel war bereits geschehen in ihrem langen Leben.
„Du glaubst nicht, wie sehr mich das auf die Palme gebracht hat. Du kannst es dir sicher nicht denken, wie auch? Mindestens zehn Mal bin ich heute Morgen zurück ans Fenster gegangen, nie hat es gepasst. Immer wieder der gleiche Fehler. Das gleiche Bild. Der Wind war einfach zu stark. Zu stark. Er war zu stark. Ich konnte das Fenster nicht zu machen, ich musste es angewinkelt lassen. Du ahnst nicht, wie sehr mich das auf die Palme gebracht hat. Aber er war einfach zu stark. Viel zu stark. Jedes Mal hab ich die Gardine wieder glatt gezogen. Jedes Mal hat der Wind sie wieder durcheinander gewirbelt. Jedes Mal. Das ging Ewigkeiten so. Sicher Stunden. Sicher. Doch dann hab ich es geschafft. Ich habe die Gardine so hingehängt, wie sie zu hängen hat. Und der Wind hat es akzeptiert. Einfach so. Ich fass es nicht.“ Bernadettes Puppe hörte ihr aufmerksam zu. Als Dank erhielt sie jeden Tag ein anderes Kleid, eine neue Frisur oder einfach einen Kuss. Genau wie die Anderen aus der Sammlung. Es waren wahrscheinlich über Hundert. Alle in etwa 70 Zentimeter groß und keine Einzige war ohne Kopfbedeckung. Dafür hatte Bernadette schon vor Jahren gesorgt. Sie mochte vor allem bunte Hüte, die ihren Puppen einen noch begehrenswerteren Anblick verschafften.
Das Krankenhauspersonal war für Bernadette wie eine kleine Familie. Eine Familie, nach der sie sich all die Jahre so gesehnt hatte. Doch nie hatte sie in den letzten Jahren zu irgend einem Familienmitglied Kontakt gepflegt. Ihre Mutter war bereits vor über zwanzig Jahren verstorben und seit geraumer Zeit lebte sie ohne ihren einst so geliebten Mann. Es war eine Schande, dachte sie, dass all ihre geliebten Menschen vor ihr gehen mussten. Dafür liebte sie ihre Krankenschwester um so mehr. Sie kümmerte sich so fürsorglich um sie, wie es wahrscheinlich nur eine Mutter tat, dachte Bernadette. Daher sollte das Pflegepersonal des Krankenhauses, in welchem sie seit 13 Jahren freiwillig hauste, auch ihr gesamtes Vermögen erlangen, wenn sie bereit war zu gehen.
Bernadette erinnerte sich an frühere Familienfeste, dachte an all die Menschen, welche ihr in ihrem Leben so begegnet waren und immer wieder hing sie in Gedanken an einer Person. Er hatte sie irgendwie einmal beeindruckt, doch nie hatte sie wirklich etwas über ihn erfahren, außer dass er in einer Weise zur Familie gehörte. Wie hieß er doch gleich? Gray? Ja, das war sein Name. Timothy Gray. Auch er sollte keinen Cent ihres geerbten Vermögens sehen, dachte sie. Nie hatte er sich bei ihr versucht zu melden. Nie. Er hatte sie wie all die Anderen allein gelassen.
Ihr Lieblingsmuseum. Ihre Patentochter. Eine angesehene Kunststiftung. Und vor allem ihre Lieblings-Krankenschwestern. Ihre zweite Familie eben. Dort war ihr Geld sicher in guten Händen, dachte Bernadette. Rund 300 Millionen Dollar waren bis heute übrig geblieben. Auf diesem Weg würde sie dem Versprechen ihres Vaters sicher Rechnung tragen. Dies waren einige der letzten Gedanken von Bernadette Curk im Juli 2011, als sie im Alter von 104 Jahren mit ihrer Puppe im Arm verstarb.
Mehr als 15 ihrer Verwandten wollten alles auf eine Karte setzen. Zu groß war die Wut über Bernadette Curk. Jeder Einzelne von ihnen hatte Bernadette im Laufe ihres Lebens durchaus etwas Gutes getan.
Da war Megan, sie hatte bis vor mehr als 60 Jahren sogar ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu ihrer einstigen Lieblingsschwester. Megan kehrte immer wieder in sich, während sie das letzte klärende Gespräch mit ihrem Rechtsanwalt vor dem Prozess hatte. Sie wusste, dass es richtig war, um einen Teil des horrenden Vermögens zu kämpfen. Immerhin hatte ihre Schwester aus unerklärlichen Gründen den einst so guten Kontakt abgebrochen und sich nie wieder gemeldet. Und das, obwohl Megan immer für sie da gewesen ist, nach heftigen Ehestreits genau so wie bei allen Flugreisen, die sie gemeinsam unternommen hatten und welche Bernadette des Fluges wegen einige Überwindung gekostet hatten. Doch Megan hatte aufgrund all dieser überwiegend schönen Erfahrungen mit ihrer Schwester auch ein wenig Sehnsucht nach vergangenen Zeiten. Sie stellte sich so oft vor, wie alles gelaufen wäre, wenn das Schicksal es besser mit ihnen beiden gemeint hätte. Dann müsste sie nicht nach dem einsamen Tod von Bernadette noch gegen ihren letzten Wunsch vor Gericht kämpfen. Es war kein leichter Gang für Megan.
Auch Robert kämpfte um das, was ihm seiner Meinung nach längst zustehe. Er war ein entfernter Verwandter aus Deutschland, hatte all die Jahre lediglich sporadischen Kontakt zu Bernadette gehabt. Und dennoch war Robert der Meinung, er sei rechtmäßiger und verdienter Erbe der Verstorbenen. Robert hatte wenig emotional auf den Tod von Bernadette reagiert. Doch auch nur ein Teil des Vermögens, welches ihm zustehe, würde sein Leben von Grund auf verändern. „So ein egoistischer Mensch ist mir selten vor Augen getreten“, wetterte Robert in diesen Zeiten nur all zu oft gegen Bernadette Curk. „Sie hat ihre eigene Familie verraten. Wir hätten uns alle so viel Ärger ersparen können, wenn Bernadette durch das ganze Geld nicht komplett ihren Verstand verloren hätte. Ich bete jeden Abend dafür, dass sie niemals ihre Ruhe finden wird und weiß, was sie ihrer Verwandtschaft und Familie angetan hat“.
Der Rechtsstreit zog sich wie ein Kaugummi durch die Finger eines verspielten Kindes. Als einige der Verwandten von Bernadette Curk die Befürchtung hatten, nie etwas von dem ihnen zustehenden Erbe zu sehen, stand das Urteil in zweiter Instanz endgültig fest. Im August 2012 wurde das Erbe neu aufgeteilt und der letzte Wunsch der Verstorbenen Bernadette Curk durch ein Gericht in New York revidiert. Nicht alle wussten sofort von ihrem Glück. Auch Bernadettes verschollener Großneffe hatte keine Ahnung von den ihm zustehenden sieben Prozent Erbanteil. Dabei hätte Timothy es gut gebrauchen können…
"Is dir nich kalt, weißer Penner?“ Es waren drei farbige Jugendliche, die Timothy unter der Brücke sitzen sahen und auf ihn einredeten. Sie schienen ihren Spaß dabei zu haben. „Hier, das passiert mit Leuten wie dir, die schnorren bis sie schwarz werden nur weil sie zu faul sind zum Arbeiten.“ Einer der Jugendlichen versetzte Timothy einen gewaltigen Tritt mit seinem rechten Fuß in den Unterleib. Timothy schrie auf vor Schmerzen. Doch er war zu schwach, um sich zu wehren. Zu schwach, etwas zu sagen. „Wenn du dich morgen hier nicht verpisst hast, kriegst du die nächste Ladung, Fettsack!“, rief einer der Jugendlichen von Weitem zurück, nachdem sie Timothy mit Schlägen auf den Hinterkopf und Tritten in den Magen fast bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt hatten. Timothy hatte erhebliche Schmerzen. Doch er kannte dieses Gefühl. Für ihn war es nichts Neues, so behandelt zu werden. Es war sein bitterer Alltag. Woche für Woche musste er sich Beleidigungen und Demütigungen ausgesetzt sehen. Doch er ertrug es. Was blieb ihm anderes übrig als der Glaube an ein besseres Leben. Notfalls erst nach dem Tod. Doch aufgeben wollte Timothy nicht. Jedenfalls nicht freiwillig, das sagte er sich so oft. „Das bin ich euch schuldig“! Gemeint waren seine Eltern.
Bis zu seinem Tode wurde Timothy seine Schuldgefühle nicht mehr los. Er lebte Tag fürTag mit seinen körperlichen und seelischen Wunden. Timothy hatte scheinbar keinen Platz in diesem Sozialsystem. Er konnte sich keine Krankenversicherung leisten, war in keinem der unzähligen Datensysteme Amerikas noch groß registriert. „Ohne Krankenversicherung ist man in diesem Land ein Nichts“, hatte ihm einer seiner Kumpels vor etlichen Jahren einmal gesagt. Und er hatte bis heute Recht behalten. Timothy empfand sich selbst als ein nutzloses Wesen.
Ende 2012 war es dann so weit. Eine kalte Dezembernacht sollte vor Timothy liegen. Er hatte kaum noch etwas bei sich, seine Decke wurde ihm am Tag zuvor entrissen. Wieder legte er sich an seine geliebte Brücke, die ihm wenigstens noch ein wenig Schutz gab vor der Kälte, dem Wind, dem Schnee. Timothy fror wie verrückt. Doch als er Stunde um Stunde im Schnee lag und sein Körper immer tauber wurde, machte sich Zufriedenheit in ihm breit. Er fühlte keinen Schmerz mehr, keine Kälte, keinen Hass der Menschen. Noch einmal ließ Timothy sein zu kurzes Leben Revue passieren.
So viel hätte er erreichen können, wäre er nur stark gewesen, dachte Timothy. Doch er war es nicht. Er war ein zerbrechlicher Mensch, vom Tode der wichtigsten Menschen in seinem Leben zermürbt. Timothy dachte an vergangene Zeiten. So gern hatte er mit seiner Mutter damals jeden Abend im Bett gesprochen. Und auch wenn er sie nie tatsächlich gespürt hatte, sie hatte immer weise und wahre Worte für ihn übrig gehabt. So gern hatte Timothy seinem Vater auf der Ranch geholfen. Die Pferde gebürstet. Die Grashalme ordentlich zurechtgeschnitten. So viele Details, die ihm nun wieder einfielen. Unzählige Familienfeste hatte es in seiner Kindheit gegeben. Er erinnerte sich an schillernde Sommerfeste, an Grillpartys, seine Eltern, die ausgelassen zusammen feierten und tanzten. An Seinen Onkel, der ihm jedes Mal ein kleines Geschenk mitgebracht hatte. Und an diese mysteriöse ältere Frau, zu der er nie groß Kontakt knüpfen konnte und welche bei all den Festen eher still und zurückhaltend war. Er wusste, dass er ihr Großneffe war, doch nie, was das wirklich bedeutete. Timothys Vater hatte das ein oder andere Mal von ihr und ihrem Vater Willy erzählt. Dies jedoch eher nebenbei, um Timothy nicht den Ärger der vergangenen Jahre um sein Verhältnis zu Willy Curk spüren zu lassen. Timothy bemerkte das früh und hatte nie weiter nachgefragt. So verblassten all die Erinnerungen nach und nach immer stärker bis Timothy mit einem guten Gefühl einschlief und im Schnee zurückblieb.
Timothy Green wurde am 21. Dezember 2012 im Alter von 60 Jahren nach einer der kältesten Nächte der letzten Zeit tot an einer Eisenbahnbrücke in Evanston aufgefunden. Nach langer Suche hatten seine einstigen Weggefährten sowie sein älterer Bruder die Gewissheit, dass Timothy bis vor kurzem noch lebte. "Wenn wir eine bessere Versorgung für psychische Erkrankungen in diesem Land hätten, dann hätten wir etwas für ihn tun können“, beschrieb Timothys Bruder Howard in einem der darauffolgenden Interviews seine Situation.
In der Socke von Timothy Green fand die Polizei einen Scheck über eine beträchtliche Geldsumme. Timothy hatte ihn nie eingelöst.