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Übermorgen
Bis zu jenem Tag, an dem er seine Existenz zerstörte, war Kevin Harris Müller ein recht erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft. Er arbeitete als Programmierer in der Entwicklung von künstlichen Intelligenzen zur Steuerung von Haushaltsmaschinen, verdiente gutes Geld und hatte immer wieder Liebesbeziehungen mit schönen jungen Frauen, die teils über einen Monat anhielten. Selbstverständlich war er menschenfreundlicher Bürger genug, um die homosexuellen Akte, die die Quote vorgab, nicht abzulehnen. Er las den antifaschistischen Beobachter, informierte sich jeden Abend um 20 Uhr in der Stimme Europas über den Fortschritt des Kampfes für Freiheit und Menschenrechte und hatte überdurchschnittlich gute Werte im Register für gesellschaftliches Ansehen und politisch korrekte Mediennutzung. Und er hatte es immer ganz gut vor seinen Mitmenschen verbergen können, dass er sich teils in den Tiefen des Deepweb mit einem illegalen, da die Identität des Nutzers verschleiernden Programms perverse Sache aus der ewig gestrigen Zeit ansah. Vielleicht ging es ihm einfach ein wenig zu gut an diesem feuchtfröhlichen jungen Abend, den er mit seiner Jahresabschnittspartnerin und den beiden multikulturellen zu Erziehenden verbrachte, die diese groß zog (sie war also nicht nur sehr sexy, sondern aufgrund ihrer Lebenssituation stand sie auch hoch im Register). Und er hatte auch einiges zu viel getrunken und er hätte sich dieses abartige verbotene Zeug am Abend zuvor nicht ansehen sollen, wofür er sich, wie bei jedem Mal, schämte. Sie hatten einige Witze gerissen in der Runde, darüber, dass Hitlers Eltern hätten verhüten sollen und wie widerwärtig die Christen und die Volksdeutschen waren, dass ihr Steuersatz und ihr juristischer Indikator für zu verhängende Strafen bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei weitem nicht hoch genug waren. Und in jenem Moment, zwischen wertvollen politischen Ideen, der widerlichen Weltanschauung der Christen und einer Erinnerung an einen Sketch, den er heimlich am Abend zuvor gesehen hatte, entstand durch eine vom Alkohol verirrte synaptische Verbindung in Kevins Gehirn eine Assoziation, die ihn zu folgendem furchtbaren Satz verleitete:
„Dann geh doch mal in die Küche und hol den Kindern ein paar Negerküsse, Mutti.“
Fassungslos sah Fatima ihn an, mit offenem Mund und starr vor Grauen.
Der kleine Achmed begann zu weinen und Dezmilla rannte kreischend in den Flur hinaus. Bei der Gleichheit allen Lebens, was hatte er getan?
Erschüttert wich er einen Schritt vor seiner Freundin und sich selbst zurück und ließ sich in einen Sessel fallen, kreidebleich sah er auf die Uhr, die in die Digitalanzeige der zentralen Wohnungssteuerung integriert war.
Aschfahl wartete er ab. Die Sensoren für verbale Volksverhetzung, die jedes Gespräch in Europa mit schnitten, da ja nur Verbrecher etwas zu verbergen hatten, hatten seine widerliche Tat mit einhundert prozentiger Sicherheit erfasst. Es blieben ihm zwei Minuten, bis die Friedenstruppe für innere Sicherheit die Tür eintreten und ihn verhaften würde. Und die Mädels und Jungens verstanden keinen Spaß, denn das, was er gerade getan hatte, hatte ihn für immer zum Nazi gemacht und er wäre eigentlich der erste, der fordern würde, dass solchen Leute mit strengster Härte zu begegnen sei.
In einer Lache erbrochenen Blutes lag Kevin auf dem Boden einer Gefängniszelle. Der Schmerz seiner geschundenen Glieder vereinte sich mit der dunklen Hoffnungslosigkeit seiner Lage zu einer Sehnsucht nach dem Ende, der Auslöschung seiner Seele in der wissenschaftlich anerkannten Finsternis posthumer Nichtexistenz. Wie in einem Traum, so unwirklich alltäglich, nahm er die Stimmen und Bilder der Fernsehwand wahr, die selbstverständlich vierundzwanzig Stunden am Tag lief, da der Geist von Freiheit und Menschenrechten nicht verweigerbar war. Er wusste, was sich bei einem so schwerwiegendem Fall wie seinem ganz einfach abspielen musste. Die Schläge der Beamten waren nur die verständliche erste Reaktion auf sein Hassverbrechen gewesen. Es begann, nachdem die Stimme Europas über eine Kopftuchverbrennung im befreiten Pakistan berichtete.
„Ein ewig gestriger Nazi, ein Hassverbrecher, der sich öffentlich gegen Freiheit und Menschenrechte ausspricht.“
„Wie viel Hass kann die freie Gesellschaft ertragen?“
„Er hat immer den antifaschistischen Beobachter gelesen und er war mir gegenüber sexuell sehr aufgeschlossen, ich hätte nie gedacht, dass er zu so einer Tat fähig wäre, gerade in Gegenwart meiner zu Erziehenden...“
„Sehen Sie um 21 Uhr die Diskussionsrunde über den politischen Verbrecher Kevin Harris Müller.“
„Welch ein Abgrund rassistischer Vorurteile und sexistischer Unterdrückung in einer derart kranken Seele sich verbergen muss.“
„Dieses widerliche Schwein hat seine Jahresabschnittspartnerin als Mutter bezeichnet. Dass in der heutigen aufgeklärten Gesellschaft überhaupt noch ein solcher sexistischer Unterdrücker entstehen kann.“
„Er hat sich Volker Pispers und Georg Schramm angesehen. Diese ewig gestrigen Verräter mit ihren widerwärtigen Lügen über die tapferen Frauen und Männer im Kampf für Freiheit und Menschenrechte. Man muss sich das einmal vorstellen, der damalige Präsident Obama wurde öffentlich als Farbiger bezeichnet. Abstoßend, einfach nur abstoßend.“
„Glauben Sie daran, dass sich die Menschen unterscheiden, Herr Angeklagter Harris Müller?“
„Ich dachte, ich hätte ihn auf einen guten Weg gebracht. Ich hatte viele multikulturelle Jahresabschnittspartner, als er jung war, er hätte eigentlich wirklich etwas lernen sollen. All dieser Hass.“
„Alte Protokolle beweisen, dass der Nazi aus Sektor 43 auf eine krankhafte Art und Weise auf seine homosexuelle Initiation reagierte. Warum haben die Sozialdienste damals nicht schon eingegriffen?“
„Es stimmt, nachdem ich ihn ordnungsgemäß entjungfert hatte, er hatte da diesen seltsamen Ausdruck in den Augen, es wirkte fast schon… homophob.“
„Hatte oder hatte ihr zu Erziehender nicht gesagt, Frau Harris Müller, dass ihm sein sexueller Praxisunterricht nicht nur missfiel sondern, ich zitiere hier ein Sensorprotokoll, er sich missbraucht fühlte?“
„Ein absoluter Wahnsinn, wie geisteskrank muss man sein, um schon in einem solchen Alter einem Homosexuellen, der einfach nur Toleranz und Liebe will, einen derartigen Vorwurf zu machen.“
„Tod den Nazis! Vergewaltigt alle Homophoben! Vergast die Rassisten! Kastriert die Sexisten! Totale Vernichtung des ewig Gestrigen!“
„Im Namen Europas, der Freiheit und der Menschenrechte befinde ich Sie für schuldig, Herr Harris Müller. Sie sind ein unheilbar hasserfüllter Nazi und werden durch eine Luftinjektion gerichtet werden. Zudem werden ihr Freundeskreis und besonders ihre Elter 1 und 2 sowie Jahresabschnittsvertreter einer gründlichen Prüfung des Amtes für Innere Sicherheit unterzogen werden.“