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Überholspur
Jeden Morgen das Gleiche. Vorbei an vielen Häusern, Menschen und Fahrzeugen. Dort ein Volkswagen, hier ein Porsche. Die Menschen wollen Hektik. Schneller an ihr Brötchen, schneller erledigt, schneller zum Ziel kommen. Eile und keine Zeit. Denn Zeit ist Geld. Freizeit ist Arbeit. Schneller, effizienter, besser. Alles auf Leistung. Nur ich nicht. Gemütlichkeit.
Auf der Straße fahren in Schrittgeschwindigkeit - gemütlich. Langsamkeit ist der Schlüssel zum Glück. Langsam aber sicher. Gefühlt sind überall Blitzer. Ich will nicht nochmal ein Knöllchen kassieren.
Fahre ich deswegen so langsam?
Während ich darüber nachdenken möchte: Dröhnen von mehreren Autos in weiter Ferne. Ich höre mehrere Hupen, welche vor dem drohenden Zusammenstoß warnen. Sie kommen näher.
Soll ich schneller fahren?
Ein Licht, ein Foto. Zu schnell. Der Porsche hat mich überholt. Das Geld hat er ja sowieso - fährt er doch einen Porsche. Ich rolle weiter in Schrittgeschwindigkeit.
Das einzige offene Geschäft hier. In weiter Ferne. Eine Bäckerei. Die anderen haben noch geschlossen, denn es ist 6 Uhr morgens. Die Häuser sehen marode aus, nur eines sticht heraus. Es ist das Rathaus. Ein sehr altes Haus, aber jedes Jahrzehnt aufs Neue gewissenhaft modernisiert. Instandhaltung wird großgeschrieben. Kulturerhaltung. Die Frau bestellt ein Käsebrötchen. -
Wollen Sie sonst noch etwas? Ja, ein belegtes Brötchen mit Käse bitte. Neben dem Rathaus ist direkt ein Netto. Noch geschlossen. Es liegt ein bewusstloser Obdachloser davor. Braune Haare, blaue Jacke. Er zittert.
Soll ich anhalten?
Ist der Mann vielleicht krank? Bedacht handeln. Ruhe bewahren. Morgen, da komme ich vorbei. Morgen, da schaue ich nach ihm. Da geht es ihm bestimmt schon besser. -
Drei Euro Achtzig bitte. Kann ich mit Karte zahlen? Sehr gerne. Mastercard nehmen wir leider nicht. Nur Visa und Giro bitte. Bar zahlen dann. Alles geht so schnell, dass man denken könnte er renne gleich aus dem Laden. Und das tut er auch. Schließlich ist Zeit Geld und Geld ist schön.
Da vorne ist mein Ziel; ein unscheinbares Gebäude; mein Zuhause. So müde und kaputt von der Nachtschicht ich auch bin - trotzdem werfe ich einen letzten Blick auf meine Umgebung. Auf den Obdachlosen, auf den Porschefahrer, auf den Bäcker. Der Porschefahrer hatte einen Unfall, der Bäcker versucht die Schlange abzuarbeiten. Schneller, besser, effizienter. Für Freundlichkeit ist keine Zeit. Doch der Obdachlose ist verschwunden.
Und so stehe ich auf dem Parkplatz vor meinem Haus. Gleich endlich schlafen. Am Abend höre ich Radio, während ich wieder zur Arbeit fahre.
"Bürgermeister bewusstlos aufgefunden. Wird er überleben?"
War ich zu langsam?