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Übergwicht-Ein Fünkchen Hoffnung
Mit hochrotem Kopf steige ich die laut knarzenden Stufen hinauf zu meinem geliebten Zimmer, das einst unser Dachboden war.
Das, was mich damals so faszinierte, war das Dachfenster, durch das man abends, wenn es dunkel wurde, zu den Sternen hinaufsehen konnte. Doch in meinem jetzigen Zustand würde mich nicht einmal interessieren, wenn mein Zimmer die Gestalt einer Gefängniszelle annehmen würde, grau und trist, wie das Spiegelbild meiner Seele. Mein Problem, oder eher das der anderen: Die Pfunde, die ich zu viel auf die Waage bringe. 80 Kilo, verteilt auf eine Körpergröße von 1,60m für eine 14 jährige sind schon bedenkenswert.
Auf dem Schulhof sitze ich, wie jede Pause, alleine an einem Zweiertisch und verschlinge mein Wurstbrötchen. Hin und wieder lasse ich meine Augen umherschweifen. Mein Blick bleibt an einem gut aussehenden Jungen hängen, der zu mir hinübersieht. In mir kocht und brodelt es. Wenn er mich schon so doof angucken muss, kann er das dann nicht wenigstens unauffällig machen?
Ich habe mein Wurstbrötchen gerade aufgegessen, da klingelt es zur nächsten Stunde. Die letzten zwei Unterrichtsstunden ziehen sich wie Kaugummi. Auch hier bleiben Beleidigungen nicht unausgesprochen.
Völlig aus der Puste von der kurzen Strecke, die ich gelaufen bin, um der Schule und meinen Klassenkameraden zu entfliehen, lasse ich mich auf mein Himmelbett fallen. In Gedanken bin ich wieder in der Schule, und frage mich, wie ich bloß die letzten Stunden Unterricht durchgehalten habe…
„Na, Julia, darf ich mitkommen wenn ihr heut‘ zu McDonalds fahrt? Oder sind dort etwa nur Stammkunden erwünscht?“
„Lass mal Till, im Auto ist doch eh kein Platz mehr für dich, die Schneiders haben nur ‘nen Viersitzer und Julia braucht die Rückbank für sich!“´
Ihr Gelächter hallt in meinem Gedächtnis nach. Tränen laufen mir die Wangen hinunter und bringen mich zurück in die Realität.
Mit einem gezielten Griff auf mein Nachttischschränkchen schnappe ich mir ein Taschentuch und wische mir hastig die Tränen weg.
Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, dass ich morgen und die darauf folgenden Tage erneut in der Schule erscheinen und mir die fiesen Bemerkungen der anderen über mich ergehen lassen muss. Letzten Endes aber bekomme ich die Chance, meine Sorgen wenigstens für einen kleinen Moment zu vergessen, und schlafe ein.
Geweckt werde ich durch meine Mutter, die mich zum Abendessen ruft. Ein Blick durchs Fenster verrät mir, dass ich länger als gedacht geschlafen habe und es mittlerweile draußen dunkel geworden ist. Ich schlage die Bettdecke zurück, in die ich mich im Schlaf eingewickelt haben muss und gehe nach unten in die Küche, wo meine Eltern schon auf mich warten.
„Julia, bist du etwa am helllichten Tag eingeschlafen? Heute Abend kriegst du wieder kein Auge zu.“ Besorgt hält mir meine Mutter ein Croissant hin.
Mir wäre es lieber, wenn sie sich Sorgen über die Situation in der Schule machen würde. Aber immer wenn ich sie darauf anspreche bekomme ich die gleiche Antwort:
„Mein Schatz, mit der Zeit werden die schon aufhören, dich zu ärgern. Ihr seid 14, das ist ein schwieriges Alter.“
Der Abend verläuft schweigsam. Während des Essens reden meine Eltern über die Arbeit, wo ich nicht mitreden kann. Gegen acht Uhr verzieh ich mich in mein Zimmer und schiebe aus Frust ein KitKat nach dem anderen in mich hinein.
Am nächsten Tag in der Schule treffe ich erneut auf den Jungen vom vorigen Tag. Wir sind zusammen zum Mülldienst eingeteilt. Bei uns an der Schule ist es so, dass einer aus der 8. und einer aus der 9. für einen Tag den Mülldienst übernehmen. Ich streife mir die Einweghandschuhe über und fange an den Tischtennisplatten an, eine Brötchentüte in dem Müllbehälter zu versinken.
Hin und wieder treffen sich unsere Blicke. Jedes Mal habe ich das Gefühl, als würde mich ein Speer durchbohren. Doch nach gefühlten zehn Minuten nimmt er das Gespräch auf.
„Ich bin Tim, der Neue.“
Aha, der Neue. Welcher Neue? Ich habe nichts von einem neuen Schüler gehört.
„Ich bin Julia.“ Ich nehme allen Mut zusammen. Mein erstes Gespräch seit langem, denke ich.
„Ist es nicht total kindisch? Wir haben uns jetzt mehrere Minuten lang angeschwiegen, obwohl wir zusammen Hofdienst haben. Es könnte viel unterhaltsamer werden, wenn wir uns ein bisschen unterhalten.“
Ich bin mir noch nicht sicher, ob er ernsthaft Interesse an einer Unterhaltung hat, oder ob er nur austesten will, ob ich wirklich so naiv bin um auf seine Masche reinzufallen. Aber was soll‘s? Einen Versuch ist es wert.
„Ich bin nicht so gut im Reden. Mit den anderen hab ich nichts am Hut.“
„Wieso?“
Ist das nicht offensichtlich? Ich meine, sieh mich doch an. Eine große, fette Zielscheibe, die nur existiert um verachtet und verspottet zu werden.
„Es liegt an meinem Aussehen.“
Tim hebt die Augenbrauen.
„Es kommt doch nichts aufs Aussehen an. Charakter ist mir viel wichtiger.
Ich habe hier noch keine Freunde gefunden. Wie wär’s, wenn du mir heute Nachmittag die Stadt zeigst?“
Nachdenken, Julia. Sag Ja. Das wäre deine erste Verabredung seit langem.
„Okay.“
„Super, dann hol ich dich heute um drei Uhr ab? Wo wohnst du denn?“
„Ehm… Beckerskamp 9, gleich hier um die Ecke.“
Von weitem sehe ich den Hausmeister auf uns zusteuern.
„Ey, ihr da. Ihr sollt arbeiten und kein Kaffeekränzchen halten!“
Tim und ich schauen uns an. Dann müssen wir beide anfangen zu lachen.
„Was gibt’s da zu lachen? Arbeiten sollt ihr! Hopp Hopp!“
Tim antwortet gelassen.
„Ist ja schon gut. Wir machen ja schon weiter.“
Damit nehmen wir die Müllzangen in die Hände und heben den restlichen Müll auf. Ich bin glücklich, jemanden gefunden zu haben, der mich so akzeptiert wie ich bin. Das mit dem Frustessen muss aufhören. Jawohl!