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Über Leichen
Es war bereits einundzwanzig Uhr, als die zwei Männer den Übertragungswagen betraten. Thomas, der größere der beiden, lief vorne weg. Er hat schüttres, braunes Haar, war hager und ging leicht gebügt. Ihm folgte Ralph. Er hatte schwarzes, volles Haar, einen leichten Bauchansatz und trug immer Poloshirts passend zur Bluejeans. Thomas öffnete die Tür des Wagens. Drinnen war es immer noch brütend heiß. Thomas konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal geregnet hatte. Sie legten das Filmmaterial, das sie heute abgedreht hatten, ins Schneidegerät und setzten sich an einen Tisch, auf dem sich zahlreiche Armaturen befanden. Ansonsten waren in dem Übertragungswagen zahlreiche Monitore, ein paar, achtlos in der Ecke abgestellte Kameras und einige lose Zettel lagen verstreut auf dem Boden. Thomas und Ralph unterhielten sich über den heutigen Tag. Zufrieden mit dem abgedrehten Material, legten sie den Film ins Schneidegerät.
Sie hatten es noch nicht einmal eingeschaltet, als das Telefon klingelte.
„R-TV, Thomas Welke. Guten Tag!“
„Guten Tag Herr Welke, hier spricht Dr. Kügler.“
Thomas hielt den Hörer zur Seite und flüsterte verschwörerisch zu Ralph: „Der Chef ist dran.“
„Hallo Herr Dr. Kügler, wie hat Ihnen denn die letzte Reportage gefallen?“, fragte Thomas zögernd.
„Deshalb rufe ich an! Für was bezahle ich Sie eigentlich? Meinen Sie, ich schicke Sie ins Kriegsgebiet, um dann eine Reportage zu erhalten, die ein paar Interviews gepaart mit der schönen Landschaft Afrikas, enthält? Ihr Beitrag war so schlecht, dass wir ihn nicht einmal senden konnten!“, schrie Dr. Kügler.
„Entschuldigung“, stotterte Thomas. „Das war ein einmaliger Ausrutscher. Die Reportagen davor waren aber doch besser. So was wird nicht wieder vorkommen.“
„Von wegen besser! Die Einschaltquoten sind von Beitrag zu Beitrag gesunken. Ihre Dokumentarfilme können Sie vergessen, die will kein Mensch sehen! Die Zuschauer wollen Bilder des Kriegs sehen, keine langweilige Reportage!“
„Aber ... Wir haben doch Interviews mit Betroffenen gedreht. Das ... Das war doch authentisch“, stotterte Thomas
„Authentisch ... dass ich nicht lache! Ihre Authentizität können Sie sich sonst wohin stecken. Sie wissen was die Zuschauer wollen, also sorgen Sie dafür, dass sie es bekommen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“
„Ja, das haben Sie, Herr Doktor Kügler“, seufzte Thomas.
„Gut, wenn ich noch mal eine derart schlechte Reportage von Ihnen übersendet bekomme, war das ihr letzter Beitrag für R-TV. Richten Sie das auch Herrn Kunkel aus.“
„Das werde ich, Herr Dr. Kügler.“
„Auf Wiederhören.“
„Auf Wiederhören.“
Thomas sah nach dem Telefonat sehr bleich aus und war tief in seinen Stuhl gesunken, er prustete laut aus.
„Was ist denn los mit dir? Was wollte der Chef denn?“, fragte Ralph.
„Frag besser nicht!“
„Wieso denn? So schlimm?“
Daraufhin erzählte Thomas ihm die Einzelheiten des Gesprächs. Ralph war ebenso erstaunt wie Thomas, dass ihre letzte Reportage nicht einmal gesendet wurde. Das Material, welches sie heute gedreht hatten, konnten sie dann wohl vergessen. Beide sahen ratlos aus und starrten einige Zeit in die Luft, ehe Ralph das Wort ergriff: „Was willst du jetzt machen?“
„Keine Ahnung, auf jeden Fall müssen wir ihm liefern, was er will. Ich habe keine Lust meinen Job zu verlieren.“
„Denkst du etwa ich! Aber was sollen wir denn machen? Solange Gefechtspause ist, wird es nicht viel zu berichten geben.“
„Mir brauchst du es nicht zu sagen.“ Thomas überlegte lange, bevor er weiter sprach. „Wir könnten ihm aber wenigstens spannende Interviews liefern.“
„Was willst du denn anders machen?“
„Es fängt schön bei der Location an. Ab jetzt filmen wir nur noch vor Trümmern, und nur noch Leute, die bemitleidenswert und herunter gekommen aussehen. Außerdem können wir sie mit etwas Geld bestimmt auch zu einer dramatischeren Schilderung bewegen. Und überhaupt wird den Interviewten ab jetzt immer Blut ins Gesicht geschminkt und schäbige Kleidung angezogen.“
„Aber dadurch verdrehen wir die Tatsachen!“, insistierte Ralph.
„Was ist dir lieber: Die Tatsachen ein bisschen zu verändern, oder deinen Job zu verlieren?“
„Ja schon gut, du hast ja Recht.“
Die nächste Reportage mit aufgeschütteten Trümmern und getürkten Interviews kam besser an. Sogar Herr Dr. Kügler rief erneut an, um den beiden zu gratulieren. Bei weiteren Berichten dieser Art stellte er sogar eine Beförderung in Aussicht. Ralph und Thomas dachten sich immer weitere Szenarien aus.
Für ihre nächste Reportage ließen sie ein Massengrab vom letzten Bürgerkrieg, der vor zehn Jahren statt gefunden hatte, ausheben und filmten dieses. Es war gar nicht so leicht die ganze Aktion zu vertuschen, aber das schwierigste war, jemanden zu finden, der bereit war, das Massengrab auszuheben. Alle Bewerber lehnten dankend ab, als sie hörten, um was es ging. Keiner wollte ein Grabschänder werden. Ralph und Thomas sahen sich gezwungen den Lohn für die eigentlich einfache Arbeit (‚Es kann ja nicht so schwer sein, mit einem Bagger ein Grab umzubuddeln’, dachte Thomas) zu erhöhen. Erst dann erklärte sich ein Gruppe junger Männer bereit. Wenigstens rechtfertigte der Beitrag mit dem Titel: „Erneuter Genozid in Neuland?“ die Ausgaben. Kein anderer Sender berichtete über den angeblichen erneuten Genozid. Wie auch?
Im darauf folgenden Telefonat mit Dr. Kügler wurden Thomas und Ralph befördert. Das Gehalt sollte sich in Zukunft an den Einschaltquoten der Sendung orientieren.
Wie üblich besprachen sie am Donnerstag Abend die Pläne für die kommende Woche und den nächsten Beitrag.
„Was hast du dir überlegt, Thomas“, wollte Ralph wissen.
„Erschrick jetzt bitte nicht, aber ich dachte wir legen eine kleine Bombe und machen daraus eine Story über den wieder aufkommenden Terrorismus.“
„Du willst was in die Luft sprengen? Du bist doch komplett verrückt geworden!“
Ralph stand auf und wollte gerade den Übertragungswagen verlassen, aber Thomas hielt ihn am Arm fest, seine Augen funkelten.
„Nur eine kleine Explosion, es muss ja niemand zu schaden kommen. Wir verschleiern das Ganze und uns Reporter wird sicher niemand verdächtigen. Ist doch nur eine kleine Bombe, und überleg doch mal, wir können mehrere tausend Euro mit diesem Beitrag verdienen.“
Unter der Bedingung, dass niemand zu Schaden komme, ließ Ralph sich schließlich überreden und zwei Tage später flog das Haksi-Cafe, ein Treffpunkt vieler Regierungsmitglieder, in die Luft. Warum das Gebäude in der Nacht gesprengt wurde, erschien den meisten Beobachtern seltsam, jedoch wäre keiner auf die Idee kommen, jemand anderes als die terroristische Untergrundorganisation zu verdächtigen. Ralph und Thomas waren zufrieden, sie hatten die Detonation auf Band und keiner würde sie verdächtigen. R-TV war der erste Sender, der die Aufnahmen ausstrahlte.
Dann geschah es. Am nächsten Tag wurde in den Nachrichten berichtet, dass bei der Explosion zwei Menschen ums Leben gekommen waren. Ralph saß stumm in seinem Hotelzimmer und starrte auf den Bildschirm.
Ihm ging es sehr schlecht und tiefe Schuldgefühle plagten ihn. Er fühlte sich hundeelend und hatte den ganze Tag noch nichts gegessen, dafür umso mehr Bier getrunken. Er wollte weinen, konnte aber nicht. Ständig kreisten immer wieder dieselben Gedanken durch seinen Kopf. Er war ein Mörder! Nachmittags war er schon so weit, dass er ständig eine Stimme hörte, die „Mörder, Mörder!“ schrie. Er drehte sich um, aber da war niemand. Am Abend war Ralph kurz vorm Durchdrehen. Ralph verließ sein Hotelzimmer und traf sich mit Thomas im Übertragungswagen. Thomas war schließlich der einzige mit dem er über die Vorfälle reden konnte. Diesen schien das Ganze aber nicht sonderlich zu interessieren. Er war ziemlich gefasst. Zu gefasst! Ralph trank immer noch Bier und lallte bereits: „Thomas, wir haben zwei Menschen getötet. Wir sind Mörder! Wir müssen zur Polizei gehen.“
„Mörder? Du spinnst wohl! Alles, was wir müssen, ist die nächste Reportage schneiden und wegschicken. Im Krieg sterben nun einmal Menschen“, erwiderte Thomas trocken.
„Du bist ja komplett verrückt geworden! Ich mache da nicht mehr mit!“, schrie Ralph.
„Was willst du denn tun? Mich verpfeifen? Denk daran, du hängst genauso mit drin“, verhöhnte ihn Thomas.
„Ich werde jetzt zur Polizei gehen und uns beide anzeigen. Thomas, wir haben zwei Menschen ermordet!“
Ralphs Wangen waren stark gerötet und seine Stirn pochte, er schien kurz vorm Nervenzusammenbruch.
„Das wirst du nicht tun!“, fauchte Thomas.
„Doch das werde ich!“, drohte Ralph und ging nach draußen.
Draußen merkte Ralph nur noch wie ein harter Gegenstand seinen Schädel traf. Er wurde sofort bewusstlos.
Thomas hielt das Kameragestell noch in seiner zitternden Hand und überlegte, was er machen sollte. ‚Eine Reportage über einen entführten und anschließend getöteten Reporter fände mit Sicherheit reißenden Absatz’, dachte Thomas als er den leblosen Körper Ralphs in den Sendewagen zog.