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Über lebende Tote und sterbende Lebende

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10.08.2003
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Über lebende Tote und sterbende Lebende

Eines Tages beschloss K. ein Buch zu schreiben. Immerhin war er zweiter Angestellter eines führenden Unternehmens und deshalb dachte er sich, wäre dies ein guter Weg, den vielleicht nicht so erfolgreichen Menschen einen Einblick in sein glückliches und durchaus erfülltes Leben zu ermöglichen. Auch seine oft bewährten Arbeitsmethoden würde er etwas beleuchten- natürlich ohne zuviel zu verraten.
Also beeilte er sich am Freitag Abend mit seiner Arbeit, um dann, voller Erwartungen zu Hause den neuen Pc anschalten zu können und „es einfach mal aus sich heraus zu lassen“, wie er es bereits den Arbeitskollegen angekündigt hatte. Es sollte sein erstes Buch werden, dem, wenn es gut liefe noch ein zweites folgen könnte. Doch dann kam alles ganz anders:
Den Monitor fest im Blick, die Finger nah der Tastatur, wie auf einen Startschuss wartend, wurde ihm allmählich bewusst, dass dieser ausbleiben würde. Es würde nichts auf dem Bildschirm erscheinen, wenn er seinen Fingern nicht sagte, was sie schreiben, in welcher Reihenfolge sie sich senken sollten. Diese Unschlüssigkeit, um nicht zu sagen Ratlosigkeit, war ein neues, niemals kennengelerntes Gefühl, welches Beklemmung und Wohltat zugleich bildete.
Lange saß er so da.
Am nächsten Morgen war der Monitor immer noch so leer wie am Vorabend. Schließlich bestellte er sich ein Taxi, sagte dem Fahrer, er solle vor der Bibliothek warten und lieh sich dort einige Auto-Biographien verschiedenster Autoren aus. Wieder zu Hause, nahm er mit Bestürzung die Mitteilung seines Chefs entgegen, der auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte.
K. sei wohl krank und solle sich mal keine Sorgen machen: das mit dem „blauen Tag“ würde bei seinem so enormen Arbeitspensum schon in Ordnung gehen.
Doch was der Chef nicht wusste: K. würde auch die gesamte nächste Woche nicht zur Arbeit erscheinen. Er würde nicht einmal das Haus verlassen und nur selten das abgedunkelte, mittlerweile muffige Zimmer.
Es war einfach nicht möglich, dass gerade ihm, „dem immer schlagfertigen Mann mit Weltniveau“ ,
als den ihn das Kreisblatt einmal bezeichnet hatte, kein auto-biographischer Text gelingen sollte. Das Formen und Zurechtrücken von Sätzen war für ihn in der letzten Woche eine Art Manie geworden. Es war das, was er am sehnlichsten wünschte und doch am meisten fürchtete.
Weitere zwei Wochen später rief eine junge sympathische Dame bei ihm an. Sie sei von der Personalabteilung und müsse ihm leider seine Kündigung mitteilen...
Kurz darauf verließ ihn seine Frau und bald musste er, wegen Geldmangels, anfangen Dinge aus seinem Besitz zu verkaufen.
Das letzte was K. blieb, war der Computer.

Die Obduktion der Leiche hat ergeben, dass K. sich ungefähr zu dem Zeitpunkt das Leben nahm, als ihm der Strom abgeschaltet wurde.
Zuvor jedoch hat er sein Buch beendet. Es muss wohl sehr eindrucksvoll gewesen sein, denn in dem Gemeinschaftsraum saßen Menschen mit irritierten, ja sogar eingeschüchterten Mienen.
Ein Kollege las gerade mit schwacher Stimme die letzten Worte aus K.s Buch vor. Es war ein merkwürdiger, völlig unverständlicher Schluss:
Wieso sollte jemand, der in zwei Monaten alles verloren hat diese Zeit als „einzige“ seines Lebens bezeichnen?
Auf der nächsten Firmensitzung kam dies natürlich zur Sprache und wurde schließlich als „bedauernswerter Vorfall“ zu Protokoll genommen.
Mein Gott, Selbstmord, hätte es wirklich soweit kommen müssen? Wieso hatte er nicht mich um Hilfe gebeten. Mich, dem es Freude und Pflicht zugleich gewesen wäre, einem vielleicht nicht so erfolgreichen Menschen, durch einen Einblick in mein glückliches und durchaus erfülltes Leben, neue Perspektiven zu eröffnen. Mich, den ersten Angestellten unseres Unternehmens...

 

Hallo Felix!

Herzlich willkommen auf kg.de! :)

Mir hat Deine Geschiche sehr gut gefallen, obwohl ich nicht ganz verstehe, warum er sich gerade dann umbringt, wenn er sich doch gefunden hat und diese Zeit als die einzige seines Lebens bezeichnet. - Könnte mir da sehr gut auch einen Schluß ohne Selbstmord vorstellen.
Der Realist in mir sagt dazu außerdem, daß er sicher auch nicht so schnell hätte alles verkaufen müssen, da er ja zuvor gut verdient hat und dann sicher auch ein nettes Arbeitslosengeld bekommen würde, wovon er Strom usw. erstmal bezahlen könnte. - Den Abstieg würde ich daher langsamer gestalten. Dabei könntest Du auch noch einige Gedanken mehr einbringen, die Dein Protagonist in dieser Zeit hat und ihn zu der Aussage der einzigen Zeit seines Lebens führen. ;)

Auf jeden Fall finde ich Deine Geschichte aber sehr interessant und den Schluß (die Aussage des "ersten Angestellten"), finde ich besonders gelungen! :)

Liebe Grüße,
Susi

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo Häferl,
Erst einmal möchte ich mich für deine Kritik bedanken.
Ich habe mir die Geschichte noch einmal durchgelesen und genau auf die von dir angesprochenen Punkte geachtet. Schließlich bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass ich es nicht "schaffen würde" die Geschichte deinen Vorstellungen der Verbesserung anzupassen. Meiner Meinung nach würde die Geschichte sehr viel von ihrer eigentlichen Idee verlieren, wenn man sie irgendwie verändern würde.
Vielleicht muss ich noch manche Sachen etwas erklären:
Die Geschichte "Über lebende Tote und sterbende Lebende" ist in meinen Augen keine einfache Geschichte, sondern eher eine Parabel.
Der Protagonist "K." ist mit seinem Leben zufrieden. Er hat einen guten Beruf, Geld, eine nette Frau, usw.
Eines Tages beschließt er sein "erfolgriches Leben" auf Papier zu verewigen.
An diesem Punkt kippt die Handlung.
K. wird allmählich bewusst, dass er sich in seinem bisherigen Leben an Idealen und Wertvorstellungen orientiert hat, die bei genauerer Betrachtung abstoßend auf ihn wirken, die ihm Angst machen.
Er beschließt sich von diesem alten Leben (von dem Leben als lebender Toter) zu lösen und bemerkt bald die Schwierigkeit seines Unternehmens.
Nur mit größter Anstrengung gelingt es ihm schließlich sein Buch zu vollenden.

Doch wovon handelt dieses Buch, und warum begeht K. trotzdem Selbstmord?
Meiner Meinung nach hat K. es geschafft sich (wenigstens) Teilweise von seinen alten Wertvorstellungen zu lösen und hat grade diesen Prozess in seinem Buch niedergeschrieben, welches eigentlich nur sein "glückliches und durchaus erfülltes Leben" beschreiben sollte.

Du hast Recht, das Ende ist sehr zugespitzt, doch so soll es auch sein. K. ist der Einzige, dem es gelungen ist sich von dieser oberflächlichen, ja beinahe künstlichen Welt zu trennen, doch er ist auch genau bei diesem Vorhaben zerbrochen. (Bsp.: K.s Frau. Sie lebte bis zu ihrer Trennung von K. weiter in ihrer bisherigen Welt (in unseren?). K. entfernt sich immer weiter von seinem bisherigen Umfeld. Diese Tatsache wird ihm spätestens zu dem Zeitpunkt bewusst, als ihm gekündigt wird, oder seine Frau ihn verlässt und trotzdem sehnt er sich nach der Vollendung seines Buches, welches nun den Vorgang K.s "Erweckung" verdeutlichen soll(siehe: "Es war das, was er am sehnlichsten wünschte und doch am meisten fürchtete")

Wieso K. sich schließlich umbringt?

Es klingt komisch, aber selbst ich (der Autor:)) bin mir manchmal nicht 100 % sicher.
Was ich mir gut vorstellen könnte, dass K. nachdem er "erweckt wurde", erkannt hat, dass er in dieser Welt nicht weiter existieren kann.
K. begann Suizid, etwa zu dem Zeitpunkt, als ihm der Strom abgeschaltet wurde... (darüber sollte man sich auch einmal Gedanken machen).
Es ist selbstverständlich, dass der Ich-Erzähler sich nicht in die Lage K.s hineinversetzen kann. Er lebt weiterhin in einer "allumfassenden Konsumwelt", die niemanden aus ihren Fängen entlassen möchte.

K. hat es geschafft, er ist den Greifarmen der Gesellschaft entflohen. Er ist erweckt worden und hat gelebt (und somit der zermürbenden Realität ins Auge geschaut, an welcher er schließlich zerbrochen ist).
Er ist ein "sterbender Lebender".

 

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