Über lebende Tote und sterbende Lebende
Eines Tages beschloss K. ein Buch zu schreiben. Immerhin war er zweiter Angestellter eines führenden Unternehmens und deshalb dachte er sich, wäre dies ein guter Weg, den vielleicht nicht so erfolgreichen Menschen einen Einblick in sein glückliches und durchaus erfülltes Leben zu ermöglichen. Auch seine oft bewährten Arbeitsmethoden würde er etwas beleuchten- natürlich ohne zuviel zu verraten.
Also beeilte er sich am Freitag Abend mit seiner Arbeit, um dann, voller Erwartungen zu Hause den neuen Pc anschalten zu können und „es einfach mal aus sich heraus zu lassen“, wie er es bereits den Arbeitskollegen angekündigt hatte. Es sollte sein erstes Buch werden, dem, wenn es gut liefe noch ein zweites folgen könnte. Doch dann kam alles ganz anders:
Den Monitor fest im Blick, die Finger nah der Tastatur, wie auf einen Startschuss wartend, wurde ihm allmählich bewusst, dass dieser ausbleiben würde. Es würde nichts auf dem Bildschirm erscheinen, wenn er seinen Fingern nicht sagte, was sie schreiben, in welcher Reihenfolge sie sich senken sollten. Diese Unschlüssigkeit, um nicht zu sagen Ratlosigkeit, war ein neues, niemals kennengelerntes Gefühl, welches Beklemmung und Wohltat zugleich bildete.
Lange saß er so da.
Am nächsten Morgen war der Monitor immer noch so leer wie am Vorabend. Schließlich bestellte er sich ein Taxi, sagte dem Fahrer, er solle vor der Bibliothek warten und lieh sich dort einige Auto-Biographien verschiedenster Autoren aus. Wieder zu Hause, nahm er mit Bestürzung die Mitteilung seines Chefs entgegen, der auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte.
K. sei wohl krank und solle sich mal keine Sorgen machen: das mit dem „blauen Tag“ würde bei seinem so enormen Arbeitspensum schon in Ordnung gehen.
Doch was der Chef nicht wusste: K. würde auch die gesamte nächste Woche nicht zur Arbeit erscheinen. Er würde nicht einmal das Haus verlassen und nur selten das abgedunkelte, mittlerweile muffige Zimmer.
Es war einfach nicht möglich, dass gerade ihm, „dem immer schlagfertigen Mann mit Weltniveau“ ,
als den ihn das Kreisblatt einmal bezeichnet hatte, kein auto-biographischer Text gelingen sollte. Das Formen und Zurechtrücken von Sätzen war für ihn in der letzten Woche eine Art Manie geworden. Es war das, was er am sehnlichsten wünschte und doch am meisten fürchtete.
Weitere zwei Wochen später rief eine junge sympathische Dame bei ihm an. Sie sei von der Personalabteilung und müsse ihm leider seine Kündigung mitteilen...
Kurz darauf verließ ihn seine Frau und bald musste er, wegen Geldmangels, anfangen Dinge aus seinem Besitz zu verkaufen.
Das letzte was K. blieb, war der Computer.
Die Obduktion der Leiche hat ergeben, dass K. sich ungefähr zu dem Zeitpunkt das Leben nahm, als ihm der Strom abgeschaltet wurde.
Zuvor jedoch hat er sein Buch beendet. Es muss wohl sehr eindrucksvoll gewesen sein, denn in dem Gemeinschaftsraum saßen Menschen mit irritierten, ja sogar eingeschüchterten Mienen.
Ein Kollege las gerade mit schwacher Stimme die letzten Worte aus K.s Buch vor. Es war ein merkwürdiger, völlig unverständlicher Schluss:
Wieso sollte jemand, der in zwei Monaten alles verloren hat diese Zeit als „einzige“ seines Lebens bezeichnen?
Auf der nächsten Firmensitzung kam dies natürlich zur Sprache und wurde schließlich als „bedauernswerter Vorfall“ zu Protokoll genommen.
Mein Gott, Selbstmord, hätte es wirklich soweit kommen müssen? Wieso hatte er nicht mich um Hilfe gebeten. Mich, dem es Freude und Pflicht zugleich gewesen wäre, einem vielleicht nicht so erfolgreichen Menschen, durch einen Einblick in mein glückliches und durchaus erfülltes Leben, neue Perspektiven zu eröffnen. Mich, den ersten Angestellten unseres Unternehmens...