Über die Moral, Blumen zu stehlen
Als Walther seine Frau beerdigte, legte sich seine Stirn in tiefe Falten.
Seither hatte sich seine Stirn nicht mehr entspannt. Nicht beim Einkaufen am Morgen, wenn er Brot und Käse über das Rollband laufen ließ und die Kassiererin ihm ausversehen zu viel Wechselgeld rausgab. Nicht zur Weihnachtszeit, wenn pausbäckige Kinder vor seiner Haustür den Herrn besangen. Nicht im spärlichen Licht abends vorm Fernseher, als der Nachrichtensprecher freudvoll verkündete, dass die Mauer gefallen sei. Auch nicht, als im Frühling der Garten erblühte, den seine Frau bis ans Ende ihrer Tage so geliebt hatte. Nein, Walthers Stirn blieb faltig.
Walther saß gerade am Frühstückstisch und kratze das letzte bisschen Butter aus der Dose, als sein Blick auf den Rosenbusch vorm Haus fiel. Seine Lippen pressten sich zusammen.
„Raus aus meinem Garten“, keuchte er und fuchtelte wild mit seinen Armen umher, als er aus der Haustür stolperte. „Mach, dass du verschwindest!“
Das Mädchen, an dessen Walthers Aufruf gerichtet war, blickte nur kurz auf und fuhr dann unbekümmert fort, Walthers schönste Blumen aus der Erde zu rupfen.
„Hast du nicht gehört, du Balg!“
„Natürlich habe ich sie gehört.“
„Wirst du wohl aufhören, meine Blumen zu pflücken!“
„Ihre Blumen? Das bezweifle ich“, bemerkte sie beiläufig, „steht denn Ihr Name auf den Blättern?“
„Nein, aber-“
„Na dann sind es wohl auch nicht ihre Blumen. Und selbst wenn ihr Name drauf stünde, gäbe es ihnen noch lange nicht das Recht, sie als die Ihren zu bezeichnen.“
Verdutzt hielt Walther inne, fasste sich und wollte gerade seine Wut in einem mächtigen Wortschwall auf das Kind niederlassen, als er Zeuge wurde, wie eine besonders schöne Tulpe dem Mädchen zum Opfer fiel. Seine Augenbrauen zogen sich weiter zusammen und ließen seine Augen in dunklen Höhlen versinken.
„Nein, ihr Name steht hier wirklich nicht drauf“, stellte das Mädchen fest, als es die Blätter einer Narzisse im Sonnenlicht betrachtete.
Walthers Stirn war so faltig wie nie zuvor und seine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Was fällt dir eigentlich ein, in fremde Gärten zu steigen und Blumen zu stehlen? Denkst du denn gar nicht nach, über das, was du tust? Na warte, wenn ich deine Eltern zu Gesicht bekomme, die werden dir-“
„Natürlich denke ich darüber nach“, meinte das Mädchen überrascht. „Sehen sie, Tulpen machen sich in einem Strauß nicht so gut mit Gänseblümchen. Aber mit Narzissen oder Hyazinthen sieht das schon ganz anders aus. Sie haben nicht zufällig Hyazinthen?“
„A-Aber darum geht es doch gar nicht. Es geht ums Prinzip! Man steigt nicht einfach in fremde Gärten!“
„Also sagen sie, dass dieses Stückchen Rasen hier ihnen gehört? Warum denn? Wegen dem Zaun, den sie drumherum gebaut haben? Oder wegen dem Klingelschild mit ihrem Namen darauf? Wer hat ihnen dieses Stück Land denn gegeben?“
„D-Das geht dich alles gar nichts an, du unverschämtes Bal-“
„Mutter sagte immer, wer nicht vernünftig diskutieren kann, der kann auch nicht verlangen, dass sich andere von ihrer Meinung abbringen lassen.“
„Sie hätte dir wohl besser beibringen sollen, dass es ungezogen ist zu stehlen!“
„Mutter war immer fröhlich. Sie liebte den Duft frischer Blumen über alles“, murmelte das Mädchen nachdenklich und rieb sich die Erde von den Händen, „und sie meinte -Wenn man etwas nicht mit ins Grab nehmen kann, dann gehört es einem auch nicht wirklich.- Sehen sie also, diese Blumen gehören ihnen genauso wenig wie mir.“
„Abe-"
„Und, verzeihen sie, aber sie scheinen nicht besonders viel Freude an diesem Garten zu haben. Haben Sie mal in den Spiegel geschaut? Sie sehen so grimmig aus! Ihre Stirn ist so faltig wie die Himalayas!“
„Ich bin nicht grimmig!“, schrie der alte Walther aufgebracht.
Das Mädchen gluckste. Ihre Augen schimmerten und sie erwiderte sanft:
„Wollen sie denn warten, bis alle Blüten verwelkt sind und sich niemand daran erfreut hat? Ist es das, worauf sie aus sind? Wollen sie all die schönen Dinge in ihrem Garten horten, damit sich niemand daran erfreuen kann, nur weil sie selbst es nicht können?“
Walthers Stirn zog sich noch weiter zusammen. Seine Lippen formten eine lange, dünne Linie. Für einige wenige Sekunden, die in der Anspannung wie Stunden schienen, herrschte komplette Stille.
Abrupt machte er auf dem Absatz kehrt, ohne sich noch einmal nach dem Mädchen umzublicken.
„Wo gehen sie denn hin?“
Walther schluckte. „Hinter dem Haus stehen Hyazinthen. I-Ich hol dir ein paar davon. Die duften so schön.“
Und als der alte Mann mit gesenktem Kopf davonstapfte, hoben sich seine Mundwinkel ein wenig und seine Stirn hellte sich ein wenig auf, sodass man beinahe sagen konnte, dass er lächelte.