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Über die Freiheit
»Du bist eine Wildkatze, nicht wahr?« - Die Wildkatze, die sich eben noch das Fell geputzt hatte, erschrak, hatte sie sich doch vorher der Sicherheit der Umgebung versichert.
»Hier oben bin ich.« Die Wildkatze schaute an der Hauswand hinauf zum offenen Fenster; und dort saß eine Katze, blickte auf sie herab. Die Wildkatze wendete ihren Kopf in alle Richtungen, alles schien sicher.
»Was willst du?«, fauchte die Wildkatze, Richtung und Höhe für den Sprung an die Kehle der Katze prüfend.
»Guten Tag. Ich fragte mich eben nur, ob du eine Wildkatze bist. Als ich dich beobachtete, kam mir der Gedanke, dass ich dich einfach fragen könnte, ob du eine bist. Also habe ich dich gefragt. Und? Bist du eine Wildkatze?« Die Katze auf der Fensterbank setzte sich neugierig auf.
»Du kannst nicht einfach mit einem dir fremden Tier anfangen zu reden.«, ärgerte sich die Wildkatze und stellte ihre Ohren so, dass sie die Umgebung hinter sich belauschen konnte.
»Warum nicht? Ich habe dich doch einfach gefragt.«
»Es ist zu gefährlich. Weißt du, dass ich jederzeit zu dir hinaufspringen und dich zerfleischen könnte?« Die Wildkatze deutete ihre Bereitschaft zum Sprung an.
»Es erscheint mir ein wenig zu hoch für einen Sprung. Und etwas anderes kannst du nicht als Hilfsmittel benutzen.« Die Hauskatze leckte sich ihre rechte Vorderpfote ab, ein wenig Futter vom Morgen klebte noch daran.
»Dessen kannst du dir nie sicher sein.«, brummte die Wildkatze.
»Wie dem auch sei.«, unterbrach die Hauskatze, »wie ist das Leben als Wildkatze? Lauern überall Gefahren? Das höre ich stets.« Die Hauskatze legte sich seitlich hin und drehte sich einige Male über ihren Rücken.
»Ich bin vor allem frei. Ich bin nicht eingesperrt und bin niemandes Eigentum.« Die Wildkatze hob ihren Kopf und Erhabenheit und Stolz verriet ihre Haltung. »Du hast deinen Herrn und verstehst nichts von der Jagd. Du kennst nicht Wachsamkeit noch Gespür für die Umgebung. Du bist ein stumpfsinniger Jäger mit geregelten Mahlzeiten.«
»Nur, weil ich meine Sinne durch die Härte der Natur nicht schärfen kann, bedeutet das keine Unfähigkeit zu Verständnis oder Gefühl.« Die Pupillen der Hauskatze waren nur dünne Streifen der Schwärze.
»Du bist ein Knecht.«
»Es ist nicht jeder frei, der seiner Ketten spottet. Frei läufst du herum, frei aber wirst du niemals sein. Auch du hast deine Herrin. Es ist die Natur und die Furcht. Sie halten deine Zügel und lauern hinter jeder deiner Entscheidungen, um sie fester anzuziehen, bis dass der Atem dir fernbleibt.«
»Schweig!«, schrie die Wildkatze. »Du sprichst große Worte für eine kleine Katze, eine Hauskatze. Vielleicht – so könnte ich mir vorstellen – wärest du zu einer interessanten Abmachung bereit. Ein Geheul erschallte aus den nahen Bergen und die Wildkatze drehte sich in alle Richtungen, Büsche und Bäume musternd, auf Rascheln und Knistern lauschend. Gerade als sie wachsam zur Flucht ansetzen wollte, fragte die Hauskatze: »Was für eine Abmachung?« - »Ruhe!« Die Wildkatze lauschte starr weiter. Als sie sich der Hauskatze zuwandte, sagte sie: »Nun, wir können für einen Tag unser Leben tauschen. Ich wohne in deinem Haus und du streifst durch die wilde Natur. Du bist doch auf Abenteuer und Gefahren aus, nicht wahr?« Die Hauskatze richtete sich auf und starrte die Wildkatze ungläubig an. Die Wildkatze leckte ihre Pfote, horchte zugleich ihre Umgebung ab, schaute zur Hauskatze hinauf und leckte sich weiter – scheinbar die Wildheit der Natur vergessend – ihre Pfote ab.
»Ja, das wollen wir machen!« freute sich die Hauskatze und sprang ins Haus hinein, um die Haustür zu öffnen. Die Wildkatze schlich um das Haus und wartete vor dem Eingang.
»Gut«, sprach die Hauskatze, »morgen treffen wir uns wieder hier, um zurück zu wechseln.« - »Ganz recht, ganz recht.«, antwortete die Wildkatze. Sie schritt durch die Tür in das sichere Haus hinein und die Hauskatze tapste hinaus. Sie verabschiedeten sich voneinander – bis zum nächsten Tag.
Aber am nächsten Tag erschien weder die Hauskatze vor dem Haus, noch öffnete die Wildkatze das Fenster. Nicht etwa aus dem Grund, dass der Wildkatze das Hausleben und der Hauskatze das Leben der Wildnis Erfüllung brachten. Sie hörten nie wieder voneinander, weil die Hauskatze aus Unwissenheit, welche Gebiete zu meiden waren, in eine Falle geraten und auf der Stelle gestorben war. Die Wildkatze hingegen wurde durch den Herrn des Hauses, der Todesängste ausstand, als er sie erblickte, erschossen.