Über den Wolken
Die Frau Bundeskanzlerin traute ihren Ohren nicht. Genau genommen ihrem rechten Ohr, an das sie ihr Handy hielt.
„Das glaub ich jetzt nicht.“
Der aufgeregte Kanzleramtsminister am anderen Ende der Leitung war nach alter Tradition ein Vertrauter der Kanzlerin. Sein Job war die Geschäftsführung des ihres Amtes. Und er überbrachte seiner Chefin gerade eine ungewöhnliche Botschaft.
„Woher...?“ Über des Frau Bundeskanzlerins Kopf zeichnete sich ein imaginäres Fragezeichen ab, dessen Ausmaße über Flugzeugkabine hinauszuwachsen drohten. Sie war es gewöhnt hier oben Politik zu machen. Hier in den Wolken, wo das Ozonloch fast mit den Händen greifbar war, und doch niemand etwas dagegen tun konnte. Wo die Luft rein und klar war, aber nicht mehr viel zu erkennen war, weil alles so winzig wirkte. Natürlich nicht, wenn es unter ihr regnete. Dann sah die Bundeskanzlerin logischerweise nur Wolken.
„Kein Wort nach draußen. Ich rede mit dem Innenminister.“
Sie war es auch gewohnt, dass niemand von unten durch die Wolken sehen konnte. Mit einem leisen Klicken beendete sie das Gespräch und sah in die Runde. Ihre zwei anwesenden Beraterinnen schauten sie erwartungsvoll an. Da sie gleichzeitig auch Freundinnen der Kanzlerin waren, schwang auch eine gehörige Portion freundschaftlicher Neugierde mit, als sie das Gesicht der Chefin sahen.
„Was gibt’s?“ fragte Frau Libera.
„Er sagte, er hätte die Info vom BND-Chef.“
„Frau Kommuni fiel direkt ein: „Aber er ist doch selbst der Chef des BND.“
„Nein,“ entgegnete Frau Libera, „er ist der Chef vom BND-Chef.“
„Wie auch immer“, sprach die Kanzlerin. „Der BND ist der Auffassung, dass-...“
„Der BND oder der Chef?“
„Völlig egal. Sie glauben, dass wir beobachtet werden.“
„Wer wir?“ fragte Frau Libera.
„Wir. Unsere Politik. Alles, was wir hier machen.“
„Ja und?“ Frau Kommuni zuckte die Schultern. „War doch immer so.“
„Diesmal anders.“ Die Kanzlerin machte es gerne spannend. Meist, indem sie viel sagte, ohne wirklichen Inhalt in die Worte zu packen. „Es sind unsere eigenen Leute.“
„Wir beobachten uns selbst?“ Frau Kommuni war begeistert.
„Ich find, Eigenkontrolle ist eh viel sinnvoller“, meinte Frau Libera.
„Nein.“ Die Kanzlerin war zum Glück eine geduldige Frau. „Nicht wir selbst. Nur unsere eigenen Leute.“
„Da wer denn nun?“
„Der Verfassungsschutz.“
Das Innere des Flugzeugs, jedenfalls die geräumige und völlig schalldichte Passagier-Kabine, verfiel in tiefes Schweigen. Die Bundeskanzlerin nahm ihr Handy und wählte die 5. Auf der 5 war der Innenminister eingespeichert. Sie fand das witzig, weil die 5 in der Mitte der anderen Zahlen lag, also innen. Schnell erklärte sie ihm die Lage und stellte das Handy auf laut.
„Der Bundesverfassungsschutz?“ fragte der Innenminister. „Kontrolliert uns?“
„Ja, das sind doch deine Leute. Musst doch du wissen.“
„Ich weiß nichts. Wieso kontrolliert uns der Verfassungsschutz?“
„Jemand hat wohl ein Ermittlungsverfahren dort eingeleitet. Sagt der BND.“
„Der BND sieht überall Kobolde mit Spitzhacken in unseren Stollen. Ist er sicher?“
„Er ist sicher.“
„Das dürfen die doch gar nicht! Nicht, ohne Zustimmung des Bundestags.“
„Wir sollen einem Ermittlungsverfahren gegen uns zustimmen? So naiv sind die nun auch nicht.“
„Und mit welchem Grund ermitteln sie gegen uns?“
„Irgendein Neuling bei denen hat den Verdacht geäußert, wir würden die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährden.“
„Womit?“
„Mit deinen neuen Sicherheitsverordnungen und -gesetzesvorhaben zum Beispiel.“
„Ich muss die innere Sicherheit aufrecht erhalten! Das ist mein Job!“
„Weiß ich. Aber der andere Grund ist viel schlimmer.“
„Welcher?“
„Sie legen unsere Beziehungen zur Wirtschaft als Korruption aus, womit wir unsere demokratische Legitimation ausnutzen, wenn ich das so richtig verstanden hab.“
Frau Kommuni nickte, Frau Libera schüttelte den Kopf.
„Ich sprech mit ihnen.“ sagte der Innenminister. Als Chef des Chefs des Bundesverfassungsschutzes konnte er dort mit jedem reden, jederzeit. Er legte auf. Nach drei Minuten rief er wieder an: „Sie hören nicht mehr auf mich, da ich auch unter Verdacht stehe. Mensch, so eine Demokratie ist echt kompliziert. Mein Vorschlag: Wir wechselnd den Chef des Verfassungsschutzes aus. Das müsste ja gehen. Begründung in der Öffentlichkeit: Er hat den Geheimschutz missachtet, oder sowas.“
„Das ist gut“, überlegte die Kanzlerin laut, „damit stürzen wir den V-Schutz in eine Krise und sind aus dem Schneider. Wir brauchen nur eine Info, die er verraten haben soll.“
„Wie wärs mit irgendwas aus der Kofferbombensache vom August?“
„Klingt zu abgedroschen. Obwohl, warte.“ Sie zögerte kurz. „Die Koffer-Affaire. Wie klingt das?“
„Skandalös.“
„Sehr schön. Das im Kabinett durchzukriegen dürfte kein Problem sein. Die sind alle betroffen, nehm ich mal an. Und wenn nicht erfahren sie das nach der Abstimmung.“
Frau Libera und Frau Kommuni nickten zustimmend.
„Das ist Regieren, wie ich es mag“, meinte der Innenminister. „Man ist Herr der Lage.“
„Vielleicht,“ meinte die Bundeskanzlerin, „sollten wir überlegen, ob das internationale Verflechtungen nach sich zieht. Ist der V-Schutz-Chef beliebt bei den Nachrichtendiensten?“
„Es geht. Er ist verzichtbar.“
„Und wie stünden wir da in der Welt mit dem Skandal?“
„Wird kaum für Aufsehen sorgen. Wir schicken schließlich zur Zeit Soldaten in den Nahen Osten, das ist spannender.“
„Gut.“ Sie legte auf.
„Wir müssen uns beim BND bedanken“, merkte Frau Libera an.
Die Kanzlerin dachte kurz nach. „Ja. Gut, dass man den Behörden in unserem Staat vertrauen kann.“
Frau Kommuni nickte. „Eine personelle Aufmerksamkeit ginge vielleicht.“
„Was haben wir heute so vor?“ fragte die Chefin mit einem Blick auf die sonnenbeschienenen Wolkenoberflächen.