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Über den Wolken muß die Freiheit grenzenlos sein
Einige Mitschüler waren sichtlich verwirrt. So etwas hatte es noch nie gegeben! Ich wollte tatsächlich die Jugendweihe verweigern. "Vaterlandsverräter!", schleuderte mir eine entgegen. "Du wirst nie erwachsen!", meinte eine andere. Ich wurde nicht in den Kreis sozialistischer Erwachsener aufgenommen. Dafür bekam ich ein Geschenk von meinen staatsfeindlichen Eltern - meinen ersten Flug.
Aus den Mauern Berlins entkam niemand so leicht. Im Einheitsdenken treue Proletarier kontrollierten Paß und Handgepäck. Um den Frieden zu schützen und den Sozialismus gegen jeden Angriff zu verteidigen, wurden Kinder, Jugendliche, Erwachsene, und Alte einzeln in eine Kabine geführt und gründlich abgetastet. Sie durchfilzten jeden Körperteil. Gedanken sind unantastbar - ich durfte passieren.
Ein Bus brachte uns zum Flugzeug. Erwartungsvoll betrachteten wir jede elegante Maschine, an der wir vorbeifuhren. Sie waren den Devisenzahlern vorbehalten. Wir hielten vor einer alten Kiste mit vier Propeller. Das war eine Meisterin ihres Faches. Sie brachte dem Geiste des proletarischen Internationalismus entsprechend würdige Staatsbürger in brüderlich verbundene sozialistische Länder.
Eine Stewardess führte mich zu einem Fensterplatz. neben mir saß eine Fremde. Die Maschine startete mit rotierenden Lärm.
Ein Menschheitstraum, fliegen zu können. Ein Traum aus meiner Kindheit - die Arme ausgestreckt erhob ich mich in die Lüfte und flog hoch über die Häuser hinweg. Unermüdliches Forschen und Bemühen anderer machten es möglich - ich flog.
Die Welt unter mir wurde kleiner und kleiner. Die Häuser und Bäume sahen wie eine winzige Puppenlandschaft aus. Die Menschen, wenn überhaupt erkennbar, krabbelten emsig herum wie Ungeziefer. Ich stellte mir vor, das Flugzeug stiege noch höher, ins All hinein. Die Erde würde zu einem Ball, zu einem Punkt, zu einem Nichts. Nur die Sonne könnte ich noch eine Weile als Stern in der Dunkelheit blinken sehen.
Mir erschien der Mensch in diesen zeitlosen Dimensionen des Alls bedeutungslos. Die erniedrigende Durchleuchtung des Flughafenpersonals kränkte mich nicht länger.
Meinen staatsfeindlichen Gedanken wurde ein jähes Ende bereitet. Das Flugzeug sank plötzlich in die Tiefe. Suchend blickte ich um mich. Kein vertrautes Augenpaar sah mir entgegen. Ich war allein. Mir wurde schmerzhaft die Endlichkeit meines Lebens bewußt.
Meine Sitznachbarin bemerkte meine Panik. Lächelnd erklärte sie mir, daß wir gerade durch ein Luftloch flogen. Tatsächlich hatte der Sinkflug schnell ein Ende.
Sie erzählte mir von ihren bisherigen Reisen. Sogar am Kilimandscharo war sie gewesen - Verdienst ihrer Parteigläubigkeit. Ihre Augen sahen keine Lügen und hinterfragten keine Anweisungen. Ich wußte, daß die schöpferische Gestaltung der sozialistischen Zukunft darin bestand, raffinierte Mittel zu erfinden, um Andersdenkende von den großen humanistischen Idealen zu überzeugen, oder diese Subjekte unschädlich zu machen.
Ich sah aus dem Fenster. Wir flogen über den Wolken. Eine zauberhafte Welt lüftete ihren Schleier: das Land der ewigen Sonne. Die Königin des Lichtes gehörte niemanden. Sie erhellte alle Herzen. Keiner konnte es ihr verbieten. Ich möchte hinausspringen, mit den Sonnenstrahlen auf den Wolken tanzen und mit ihnen rund um die Erde ziehen. Meine Gedanken glitten davon - ich war frei.
Ich gelobte, meinen Geist nicht einzuengen, sondern dem weiten Horizont entgegenzugehen. Ich würde keine Mauer errichten aus Angst vor fremden Einflüssen. Ich wollte mir ein eigenes Bild von der Welt machen! Ich
wollte sie selbst erforschen und lieben dürfen.
Ich bedauerte plötzlich die Frau neben mir.
Das Flugzeug landete. Ich entstieg dem Ort meiner Weihe - eine Weihe ganz anderer Art. Scheinbar war ich nicht die einzige.
Ein Jahr später fiel die Mauer in Berlin.
Zum besseren Verständnis des Textes hier das Gelöbnis der Jugendweihe:
(...) "Liebe junge Freunde!
Seid ihr bereit, als junge Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik mit uns gemeinsam, getreu der Verfassung, für die große und edle Sache des Sozialismus zu arbeiten und zu kämpfen und das revolutionäre Erbe des Volkes in Ehren zu halten, so antwortet:
Ja, das geloben wir!
Seid ihr bereit, als treue Söhne und Töchter unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates nach hoher Bildung und Kultur zu streben, Meister eures Faches zu werden, unentwegt zu lernen und all euer Wissen und Können für die Verwirklichung unserer großen humanistischen Ideale einzusetzen, so antwortet:
Ja, das geloben wir!
Seid ihr bereit, als würdige Mitglieder der sozialistischen Gemeinschaft stets in kameradschaftlicher Zusammenarbeit, gegenseitiger Achtung und Hilfe zu handeln und euren Weg zum persönlichen Glück immer mit dem Kampf für das Glück des Volkes zu vereinen, so antwortet:
Ja, das geloben wir!
Seid ihr bereit, als wahre Patrioten die feste Freundschaft mit der Sowjetunion weiter zu vertiefen, den Bruderbund mit den sozialistischen Ländern zu stärken, im Geiste des proletarischen Internationalismus zu kämpfen, den Frieden zu schützen und den Sozialismus gegen jeden imperialistischen Angriff zu verteidigen, so antwortet:
Ja, das geloben wir!"
(...)
Der Sprecher sagt dann noch:
"Wir haben euer Gelöbnis vernommen. Ihr habt euch ein hohes und edles Ziel gesetzt. Feierlich nehmen wir euch auf in die große Gemeinschaft des werktätigen Volkes, das unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer
revolutionären Partei, einig im Willen und im Handeln, die entwickelte sozialistische Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik errichtet.
Wir übertragen euch eine hohe Verantwortung. Jederzeit werden wir euch mit Rat und Tat helfen, die sozialistische Zukunft schöpferisch zu gestalten."
[ 28.05.2002, 09:48: Beitrag editiert von: Sommersprossenelfe ]