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Über den grünen Teppich
Ereignisse werfen einem nicht nur ihre Schatten vor die Füße. Sie lassen auch etwas zurück. Manches Mal ist das Zurückgelassene tief vergraben und nur schwer wiederzufinden. Manchmal ist es der Wind aus dem Osten, der das Wiederfinden möglich macht. Zum Beispiel der, der über die Seen von Masuren fegt. Der, der die Blüte der Wälder in einen schaukelnden grünen Teppich auf der Wasseroberfläche verwandelt.
Sie standen vor diesem Teppich und sie sagte, dass es so gewesen sein musste, als es Jesus schaffte, über das Wasser zu gehen. Sie hielt ihm ihren Blick entgegen und er versank darin und der grüne Teppich wogte und gluckste im Rücken der beiden und auf den letzten Sonnenfäden zogen Fischreiher zu ihren Schlafplätzen. Sie waren seit zwei Wochen mit dem Wagen unterwegs. Sie hatten ihren Traum wahr gemacht. Die alten Burgen und die Dörfer, durch die sie fuhren, hinterließen täglich aufs Neue tiefe Eindrücke. Sie bereuten in keinem Augenblick ihre Entscheidung, hierher gefahren zu sein.
Es war kurz vor diesem Dorf mit dem unaussprechlichen Namen gewesen.
Sie verstanden nicht die Sprache der Menschen hier, konnten sie ob der komplizierten Schreibweise nicht entziffern. Sie gestikulierten mit Händen und Füßen, schnappten da und dort ein Wort auf, das sie in ihrer zurechtgebogenen Zeichensprache unterzubringen versuchten. Susannes Blicke wurden von allen verstanden, zauberten ein warmes Lächeln in die Gesichter der Menschen, denen es nicht möglich war, diesen auszuweichen, halfen den Beiden in jeder Situation weiterzukommen, weiter hinein in das Land mit seinen Seen, Wäldern, den Luchsen darin, den letzten Wisentherden Europas. Sie ließen sich auf dem brüchigen Asphalt der schmalen Strassen treiben, lauschten dem Knarren der Eselskarren, hielten dort, wo es die Aura der unberührten Landschaft zuließ, ohne Eile und ohne voneinander loslassen zu können.
Die beginnende Nacht schlich schon durchs hochstehende Farnkraut und Susanne hockte mittendrin, als der Transporter mit den Holzstämmen auf der Ladefläche aus dem Wald glitt. Sie sah und hörte nichts, war ganz mit ihrem Geschäft beschäftigt, lachte dabei und winkte zu Kurt, der plötzlich aus dem Wagen sprang und durch den hohen Farn wild gestikulierend auf sie zurannte.
Das Bienchen summen lassen, sagte sie dazu. Wenn es ihr dringend wurde während der Fahrt, begann sie zu summen, immer lauter, bis alles in einem Lachen auf ihrem Gesicht zerfloss, er den Wagen anhielt und sie gackernd hinter den nächsten Baum, die nächste Hecke sprintete.
Als die Fischreiher hinter dem Horizont verschwunden waren, beschlossen sie, länger an diesem See zu bleiben, im nächsten Dorf Quartier zu suchen. Kaum waren sie auf der Straße, begann sie zu summen, gab ihm einen Kuss auf die Wange und ließ diesen mit ihrem Blick und für die Ewigkeit im Wagen zurück. Libellen vom See hingen im Ostwind und der strich ihr das Haar aus der Stirn. Als sie lachend mitten im Farn saß, gingen, für sie unbemerkt, die letzten Sekunden dieser Reise zu Ende. Sie schoben sich aus dem Wald, durch den Farn, berührten sie, begruben sie.
Kurt rannte, torkelte, keuchte mit rudernden Armen durch den Farn hin zu ihr, schrie wie ein Tier, als er merkte, dass er zu spät kam, dass nichts mehr aufzuhalten, nichts mehr zu ändern war.
Steh’ auf, Susanne, um Gottes Willen, sieh’ dich um, schrie Kurt.
Der Forstarbeiter hinter dem Lenkrad paffte eine übel riechende Pfeife und hob grüßend den linken Arm hin zu dem Mann, der wie besoffen durch den Farn stolperte. Das Tonnengewicht der Zugmaschine hatte den Körper Susannes tief in den feuchten Waldboden gepresst. Der Wind aus dem Osten ließ den Seeteppich aufflüstern und Susanne ging darüber, so wie damals Jesus.
Das Entsetzen im Gesicht des Forstarbeiters, dessen Wortschwall, der satte Geruch des Farnkrauts und seine eigenen Schreie, mit denen er den beginnenden Wahnsinn zu bekämpfen suchte – all das blieb danach bei Kurt.
Er kommt nicht oft aus dieser Richtung, aber er spürt den sich drehenden Wind schon Tage zuvor und wenn es dann tatsächlich kräftig aus dem Osten bläst, lässt Kurt sich ohne Wenn und Aber tief in den satten Geruch eines imaginären Farns fallen, sucht dort Susanne und findet erst nach Tagen des Irrens daraus hervor.
Alles ist noch da, zwar vergraben, aber doch auffindbar, weil nicht zu vergessen.
Zum Beispiel der Kopf Susannes, unkenntlich geworden, versickerndes, splittriges Gewebe, jetzt der Stoff seiner Träume. Das Wogen des grünen Sees, über den hinweg sie ihn verließ. Ihr Kuss auf seiner Wange, den sie ihm nach allem, was dann noch kam, nie hatten wegprügeln können.
Die leiser werdenden Schreie des Forstarbeiters, als ihm Kurt mit einem Holzscheit den Schädel zu Brei drosch, wanderten weg vom Farn, hingen in den Fichten rundum, verloren sich dann in den Wäldern..
Kurt schrie auch.
Er schrie bis Mitternacht.
Es geschah nichts weiter.
Niemand kam. Keiner störte.
Er saß die ganze Nacht im Farn und sprach mit Susanne. Er erzählte Susanne alles, was er über seine Liebe zu ihr wusste, hielt ihre Hand umklammert, hob seinen Arm, zeigte ihr im Morgengrauen die Fischreiher, die über dem Wald auf die Silberplatte des Sees zuglitten und auf ihre sanfte Art den Tag beginnen ließen. Er vertrieb mit fahrigen Bewegungen die grün schillernden Fliegen, die mit der ersten Sonnenwärme auch Susanne gefunden hatten. Er suchte ihre Lippen in dem geborstenen Etwas, ihre Augen, versuchte den letzten Blick darin zu finden. Seine schwindende Vorstellung reichte dazu nicht. Es reichte für nichts mehr.
Am Vormittag kam ein alter Skoda die Strasse entlang gerumpelt. Sein Fahrer, ein ältlicher Bauer, hielt ob des verlassenen, am Straßenrand abgestellten Wagens und wurde aschfahl im Gesicht, als er Kurt mit sabberndem Mund und im eigenen Kot kauernd zwischen dem Farn fand.
Wenn der Wind jetzt aus dem Osten kommt und sich an die Gitterstäbe vor dem Fenster klammert, riecht Kurt das Farnkraut, sieht er die Fischreiher, spricht er mit Susanne. Er ist ihr nicht besonders böse, dass sie über den wogenden grünen Teppich auf und davon ist. Er ist ihr aber böse dafür, dass sie ihm den letzten Blick aus ihren Augen verwehrt hatte, als sie aufbrach zum anderen Ufer. Wenn er ihr das sagt, dann kommen damit auch die Schreie wieder und Kurt kriecht durch das Farnkraut und sucht Susanne und ihre Augen. Das alles ist aber nur, wenn der Wind vom Osten kommt. Bei Windstille schaut Kurt aus dem Fenster, in den vergitterten Himmel und auch noch dahinter und erzählt dem Forstarbeiter, wie das mit seiner Liebe zu Susanne ist und das Susanne und er es nicht bereut hatten, hierher gefahren zu sein.