Über den Dächern
Wieder konnte ich nicht schlafen. Wieder riss mich ein wirrer Traum aus meinem Schlaf. Ich lief diese schmale, hölzerne Treppe hinab in das dunkle Kellergewölbe. Überall waren Spinnweben. Ich lief und lief ohne den Keller zu erreichen. Endlose Stufen, ich konnte sie nicht zählen. Es waren zu viele. Meine Hand war voller Blut, in der Hand hielt ich ein langes Messer. Barfuss lief ich über das Holz und schaute auf meine Hand. In langen Fäden tropfte das Blut auf den Boden. Spitze Schreie hallten durch die Nacht, ich konnte sie nicht zuordnen. Ich lief immer weiter, meine Hand wurde ganz ruhig. Das Blut rann über meinen Arm. Auf der Treppe begegnete ich zahlreichen selbstgemalten Bildern, die schief und teilweise zerbrochen an den maroden Wänden hingen. Ein Seefahrer, der schreiend seinen Anker warf. Eingebettet in rote Wellen und schwarze Felsen, die wie Messerklingen aus dem Wasser schauten. Sein Gesicht unkenntlich gemacht. Jede Nacht lässt mich dieses Bild erschauern. Aufzucken. Dann noch diese alte Frau, die ein totes Kind in ihren Armen hält. Sie lächelt zufrieden und drückt es zum Stillen an ihre Brust. Ebenfalls unkenntlich das Gesicht des toten Kindes. Immer an diesem Bild werden meine Schritte langsamer, bin fast unfähig mich zu bewegen, dennoch muss ich es ansehen. Immer und immer wieder. Ihre Augen verfolgen mich. Sie scheint mich zu beobachten. Ich entferne mich von ihr, spüre ihre Blicke in meinem Nacken. Ich laufe weiter. Halte ihren Blicken nicht stand. Wieder diese Schreie von oben.
Im Keller unten brennt Licht. Es ist aber noch so klein und so weit weg, dass ich ihn nur erahnen kann. Gesehen habe ich ihn noch nie. Ein kleines Geländer an dem ich mich abstützen kann. Wie eine große Spirale führt mich die Treppe nach unten. Unter meinen Füßen tanzt das schwache Licht. Meine Finger kleben und ziehen länge Fäden. Das Blut wird schwer. Vorsichtig schaue ich über das Geländer. Ein dunkler Schatten ist zu erkennen...
Es war wie jede Nacht. Ich wachte schweißgebadet auf. Ich brauchte einige Minuten um mich zu sammeln und mich zurechtzufinden. Meine Frau schlief ganz ruhig, sie hatte von alledem nichts mitbekommen. Sie lag mit dem Gesicht mir zugewandt und schlief ganz tief und fest. Ganz leise hörte ich sie atmen. Sie sah so friedlich aus. Ich stieg in meine Schuhe und ging auf den Balkon um eine Zigarette zu rauchen. Kalter Wind blies mir ins Gesicht. Seit zwei Monaten weckte mich jede Nacht dieser Traum und seit zwei Monaten stand ich nachts auf dem Balkon. Was hatte er zu bedeuten? Jede Nacht stand ich auf dem Balkon und musste etliche Zigaretten rauchen um mich zu beruhigen. Meiner Frau erzählte ich nichts davon. Was hätte ich auch sagen sollen? Wie hätte sie mir helfen können?
Von meinem Balkon hatte ich einen tollen Ausblick. Das ganze Dorf lag unter mir. Ich konnte fast alle Häuser erkennen. Das Dorf lag in seinem Schlaf. Langsam beruhigte ich mich wieder, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich ging in die Küche und machte mir einen Tee.In drei Stunden würde die Sonne aufgehen. Ich setzte mich in die Küche und griff nach meinem Buch. In zwei Stunden würde ich meine Frau wecken, zwei Stunden hatte ich noch Zeit. Ich genoss die Ruhe und las.
Langsam stieg ich die Stufen hinab. Aus der Ferne sah ich wieder die Frau mit ihrem Kind. Sie schien schon auf mich zu warten. Ich verkrampfte und meine Schritte wurden langsamer. Wieder hörte ich von oben diese Schreie. Dieses Mal waren sie noch lauter und entsetztlicher als an den Tagen zuvor. Das Blut an meiner Hand ist mehr geworden. Ich hatte Mühe das Messer zu halten. Das Kind an der Wand hatte ein blasses Gesicht und schaute zu ihrer Mutter. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und lief weiter., ohne das Gesicht gesehen zu haben. Ich torkelte hinab und schaute wieder über das Geländer. Das Licht im Keller zuckte und ging immer wieder aus. Ich stützte mich und lief weiter. An diesem Tage bin ich weiter gekommen. Ich war dem Licht näher als jemals zuvor. Die Stufen wurden brüchig und knarrten. Meine Schritte schienen zu versinken. Die Dunkelheit wurde immer unheimlicher. Nur die Gemälde an den Wänden waren beleuchtet. Aus weiter Ferne konnte ich das nächste erkennen. Es war mir neu und völlig unbekannt. Eingebettet in einen goldenen Rahmen strahlte es auf mich herab. Ich trat an das Geländer und betrachtete es. Anders als bei den anderen, blieb ich davor stehen. Ein Mann lag in einer Hundehütte und aß aus einem Napf. Blutige Striemen liefen über seinen nackten Körper. Davor stand eine Frau mit einer Peitsche. Sie stand vor ihm und hob ihre Peitsche. In dem Napf lag ein kleiner Hund mit geöffnetem Schädel. Der Mann schien ihn mit verzerrtem Schrei zu essen. Man sah nur seinen Schrei, der Rest war verschleiert. Wortlos ging ich an dem Bild vorbei. Es schien mich nicht mehr zu interessieren. Das Licht kam näher und ich spürte die Wärme. Was war in diesem Keller?
Etwas riss mich aus meinem Schlaf. Ungläubig blickte ich mich um. Obwohl ich dieses Mal später ins Bett gegangen bin, war ich früher wach als sonst. Es war noch tiefe Nacht und vielleicht hätte ich es tatsächlich noch geschafft noch einmal einzuschlafen, aber mir schmerzte der Kiefer. Zu stark hatte ich beim Schlafen meine Zähne aufeinander gebissen. Die Schmerzen krochen in meinen Kopf und an Schlaf war nicht mehr zu denken. Wieder ging ich auf den Balkon und griff nach meinen Zigaretten. Es musste aufhören. Leichte Nebel lagen über den Dächern und verschleierten ihre schöne Gestalt. Straßenlaternen brannten auf die leeren Gassen. Leuchteten auf die Wege, die zu einsamen Häusern führten. Es musste einfach aufhören. Warum träumte ich immer diesen Traum? Was hatte er zu bedeueten? Es ließ mir einfach keine Ruhe. Ich hasste alles und jeden. In all diesen Häusern lagen sie friedlich in ihren Betten. Kamen zu ihrem wohlverdienten Schlaf und stärkten sich für den nächsten Tag. Nur ich stand jede Nacht auf diesem Balkon und musste ihnen zuschauen. Nur ich war es, der nicht schlafen konnte und erschöpft und entkräftet auf sie herabblickte. Ich hasste sie. In meiner Verzweiflung überlegte ich angestrengt, was mich veranlasste jede Nacht diesen entsetztlichen Traum zu träumen, fand aber nie die passende Antwort, so sehr ich mich auch bemühte. Wie konnte sie denn schlafen? Wir erlebten doch jeden Tag die gleichen Dinge. Wir waren jetzt 20 Jahre zusammen und verbrachten all unsere kostbare Zeit zusammen. Jeden Abend verbrachten wir vor dem Fernseher und lösten Kreuzworträtsel. Jeden Abend teilten wir uns das Sofa und kuschelten ein wenig.
Lag es etwa an ihr? An unserem Streit, den wir vor Monaten hatten? Sie konnte so uneinsichtig sein. Immer musste ich nachgeben. Immer musste ich den ersten Schritt auf sie zu machen. Von alleine wäre sie nicht gekommen und wir würden jetzt wohl wortlos nebeneinander sitzen und uns anschweigen. Wahrscheinlich hätten wir immer noch Streit. Aber das wäre doch auch keine Lösung gewesen, also bin ich wieder auf sie zugegangen, obwohl ich wusste, das ich im Recht gewesen war. Ich reichte ihr die Hand, wie ich es immer tat und wir schlossen Frieden. Sie konnte so furchtbar kompliziert sein. So furchtbar anstrengend. Immer musste es nach ihr gehen. Immer musste sie ihren Willen durchsetzen. Immer diese Streitigkeiten, immer dieser spitze und vernichtende Ton. Warum konnte sie denn nicht so sein wie die anderen? So wie die Freundin von Thomas. Sie war wunderbar. Bildhübsch und unaufdringlich. Sie sprach nicht viel, aber wenn, gewählt und bedacht. Thomas war so glücklich mit ihr. Immer schwärmte er von ihr, wenn wir alleine waren. Immer baute er sie in seine Geschichten mit ein. Ich machte das nicht. Ich war froh, wenn ich sie für ein paar Stunden nicht sehen musste. Ich genoss es, wenn ich mit meinen Freunden alleine war. Ohne darauf achten zu müssen, was ich sage oder wie ich es sage. Diese wenigen Stunden in der Woche waren mir heilig und für kein Geld der Welt hätte ich darauf verzichtet. Seit dreißig Jahren trafen wir uns jeden Mittwochabend. Thomas kannte ich noch von meiner Schulzeit. Gemeinsam hatten wir damals zum ersten Mal Alkohol getrunken und ich war es, der ihn damals mit Larissa zusammenbrachte, weil er viel zu schüchtern war. Ich habe sie in der Kneipe für ihn angesprochen. Sie gefiel mir schon damals, aber ich hatte schon Lea.
Vor drei Monaten hatte Thomas seinen schrecklichen Unfall. Er fuhr mit dem Auto zu schnell und die straßen waren glatt und teilweise gefroren. Sein Auto brach aus und er knallte gegen einen Baum. Larissa erzählte es mir am Telefon. Zuhause sagte ich nichts. Die ersten Wochen ging ich weiterhin Mittwochs in die Kneipe. Ich traf mich mit Larissa. Wir tranken ein wenig und sprachen über Thomas. Sie gefiel mir und ich freute mich die ganze Woche sie wiedersehen zu dürfen. Ab und an besuchte ich Thomas im Krankenhaus, aber nicht Mittwochabends. Ich machte es oft in meiner Mittagspause. Es war ein Donnerstag, als mich Larissa vor ein paar Wochen bei der Arbeit anrief. Sie sagte mir, dass sie sich nicht mehr mit mir treffen könne, da sie es irgendwie falsch fände. Ich reagierte verständnisvoll und ließ mir nichts anmerken. An diesem Tag wollte ich gar nicht nach Hause gehen.
Das Licht flackerte, als ich an dem goldenen Rahmen vorbeilief. Ich trat einen Schritt heran. Die Frau mit der Peitsche schaute mich an. In ihrer Hand hielt sie einen Ring, mit kleinen Zacken. Der kleine Hund lag in seinem Blut. Kleine Bissspuren waren an seinem Schädel zu erkennen. Der Mann in der Hütte lief auf allen vieren und wirkte verstört, sein Gesicht war nicht zu erkennen. Es war nie zu erkennen. Er war ausgemagert und sein Nacken schien leicht verdreht zu sein. Ich hielt mich an dem Geländer und folgte weiter den Spuren. Zuerst bemerkte ich es nicht, erst später auf dem Balkon. Dieses Mal war der Traum anders. Es war ruhiger. Ganz ruhig. Die Schreie schienen sich der Stille zu beugen. Alles war seltsam still. Langsam ging ich die letzten Stufen hinab. Ein letztes Bild, das schwer und thronend an den untersten Wand hing, welches in einem schweren Rahmen lag, zwang mich es näher zu betrachten. Derselbe Mann, der in der Hütte den Hund verspeisen musste stand barfuss auf einem Stuhl in Glasscherben, die Stuhlbeine waren Messerklingen. Das Blut an seinen Füßen rann über den Stuhl und tropfte auf die Erde. Triumphierend hielt er eine Peitsche in seiner Hand und streckte sie in den Himmel. Vor ihm lag eine erschlagene Frau, die ich schon von den anderen Bildern kannte. Ihre Hände waren geschunden und ihr Schädel eingeschlagen. Die Gesichter waren ganz klar und ihres voller Verzweiflung. Der Mann lachte und sah mir verblüffend ähnlich. Ich lief weiter, ohne mich umzudrehen. Ich war im untersten Raum angekommen, vor mir lag nur noch eine Türe. Ich öffnete sie und trat ein. Riesige Spiegel kamen mir entgegen. Alle Wände waren riesige verspiegelte Scheiben. Ich ging in die Mitte des Raumes und setzte mich, die Klinge in meiner Hand. Mit meinen Fingern fuhr ich über die Klinge und streichelte sie. Ich entfernte das Blut, streifte es mit meinen Fingern ab. Die Schreie meiner Frau waren nicht mehr zu hören, sie verstummten endgültig, das Messer brauchte ich nicht mehr. Noch lange saß ich da und betrachtete mich. Endlich hatten die Schreie ein Ende. Endlich ließen sie mich in Ruhe. Am nächsten Morgen weckte mich meine Frau. Ich ging auf den Balkon und rauchte eine Zigarette. Ich fühlte mich frisch und ausgeruht. Der Traum kam nie wieder und ich fand meinen Schlaf.