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Österreich 1907
Da ich als Kind schon mit schweren Asthma-Anfällen zu kämpfen hatte, galt die Sorge meiner Eltern hauptsächlich mir, dem Nesthäkchen der Familie. Die übertriebenen Befürchtungen meiner Mutter ließen mir in meiner Jugend nur wenige Freiheiten, im Gegensatz zu meinen Geschwistern, denen, so dachte ich damals, so gut wie alles erlaubt wurde. Umso überraschender war es dann für mich, als ich im Alter von 18 Jahren endlich allein verreisen durfte.
Schon lange sehnte ich mich danach, nach Deutschland zu fahren, um eine dort lebende Brieffreundin zu besuchen. Wir schrieben uns seit nunmehr vier Jahren regelmäßig.
Zustande kam dieser Briefkontakt, durch ein Projekt in der Schule. Damals las ich gerade den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe und malte mir in meinen Träumen aus, wie schön es doch wäre, eine derartige Verbindung die meine nennen zu können.
Und nun erfüllten meine Eltern mir meinen innigsten Wunsch und ließen mich nach München fahren, um meine Freundin endlich in die Arme schließen zu können. Ich verbrachte eine wunderschöne Zeit dort. Ich lernte ihre Freunde kennen, von denen sie mir in ihren Briefen immer berichtete, ihren Bruder, über den sie oft so schimpfte und ihre lieben Eltern, die alles dafür taten, mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Gemeinsam spazierten wir mit ihrem Hund durch den Wald, den sie so sehr liebte, gingen ins Theater oder in ein Konzert. Die Zeit verging rasend schnell und bald schon war der Tag meiner Abreise gekommen. Wir gaben uns das Versprechen, uns so bald wie möglich wiederzusehen und überlegten uns, dass sie zu meinem Geburtstag, zwei Monate später, schon zu mir kommen könnte. Noch während der Rückfahrt nach Wien dachte ich darüber nach, was ich alles mit ihr unternehmen würde und war schon jetzt voller Vorfreude.
In Wien angekommen stieg ich voller Enthusiasmus aus dem Zug. Ich wollte meine Eltern überraschen und hatte sie daher nicht über den Zeitpunkt meiner Ankunft benachrichtigt. Erst jetzt fiel mir auf, dass es reichlich schwierig war, allein mein Gepäck nach Hause zu tragen. Immer wieder musste ich meinen Weg unterbrechen, da mir entweder etwas runterfiel, oder ich die Last einfach nicht mehr länger tragen konnte. Während ich mich weiter abmühte – ich muss ziemlich hilflos gewirkt haben – bemerkte ich nicht, wie ein junger Mann auf mich zukam. Zaghaft fragte er: „Kann ich Ihnen helfen?“
Erstaunt blickte ich auf und sah in das Gesicht eines schüchternen, dunkelhaarigen Jungen. Erleichtert und dankbar über die angebotene Hilfe lächelte ich ihn an. Da ich es aber nicht gewohnt war, von einem Fremden einfach so angesprochen zu werden, geriet ich etwas in Verlegenheit und so plapperte ich also einfach drauf los, berichtete ihm von meiner Reise, der geplanten Überraschung und den Schwierigkeiten, die mir der Transport des Gepäcks bereitete. Er war wohl ein wenig erschrocken über meinen plötzlichen Redeschwall, dennoch bot er mir höflich an, mich nach Hause zu begleiten und mir beim Tragen meiner vielen Taschen zu helfen. Er schien ungefähr in meinem Alter zu sein, war etwas kleiner als ich und hielt sich mit Worten sehr zurück. Da mir das immer wieder auftretende Schweigen aber unangenehm war, begann ich ihn auszufragen. Er erzählte, dass er eigentlich mit seiner Mutter in Linz wohnen würde, sich aber in Wien an einer Kunstakademie bewerben wolle, da er schon lange für sich beschlossen habe, Künstler zu werden. Hin und wieder warf er mir während des Gespräches verstohlene Blicke zu, starrte aber, sobald ich ihm mein Gesicht zuwendete, gleich wieder stur geradeaus, so dass ich mich fragte, wie es überhaupt dazu kam, dass er sich traute, mich anzusprechen.
Vor dem Wohnhaus meiner Eltern angekommen bedankte ich mich bei meinem Retter: „Ich hätte jetzt wahrscheinlich noch nicht mal die Hälfte des Weges geschafft, wären sie nicht gewesen. Wie heißen sie eigentlich?“
Mit zögerndem Blick sah er mich an und streckte mir seine Hand entgegen: „Adolf. Adolf Hitler.“
„Ich bin Johanna Weiß,“ sagte ich, während ich ihm meine Hand zum Abschied reichte. Lächelnd fügte ich hinzu: „Vielleicht treffen wir uns ja mal wieder, wenn sie ein großer Künstler sind.“
Es war Freitag, der 28. September 1907. Während ich die Treppe zu unserem Haus hinaufging, freute ich mich auf die Gesichter meiner Eltern, die in diesem Moment noch nicht ahnen konnten, dass ich bei Sonnenuntergang, dem Beginn des Sabbats, schon wieder gemeinsam mit ihnen bei Tisch sitzen würde.