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Zugzwang
Anschuldigend ruhen die Augen der anmutigen Dame auf mir. Ihr Porträt hängt in meinem Wohnzimmer, direkt zwischen dem alten Bücherregal aus Eichenholz und den dünnen Fensterscheiben. Gleich einer moralischen Wächterin nimmt ihre Präsenz den Raum hoheitlich ein, ihre langen Finger ruhen auf dem dicken Buch, das aufgeschlagen auf ihrem Schoß liegt. Das majestätische, kalte Antlitz mahnt mich ab, wann immer ich mich hier aufhalte, so auch jetzt. Es fühlt sich an, als spüre sie trotz ihrer ewigen Starre, wenn ich nichts tuend hier herumlungere. Beinahe höre ich sie, wie sie mir gut zu redet, mich mithilfe eines schlechten Gewissens ermutigt, endlich tätig zu werden, ob es ein Stift oder die Axt, ein Pinsel oder der Hammer ist, die ich aufnehmen soll, sie drängt mich in ihre Richtung und es wird zunehmend schwieriger, ihren Druck zu ignorieren.
Auf meinem gemütlichen Sessel mit den weichen Polstern, gerade neu bezogen, sollte ich mich doch entspannen, mich wohlfühlen und ausruhen, den hektischen Alltag aussperren können. Stattdessen spüre ich darauf in jeder Minute die strafenden Blicke der Dame, sodass ich mich nur in den seltensten Fällen hier niederlasse. Eigentlich immer nur, wenn ich die Nachrichten schaue, meine Zeitung lese oder im Radio die Geschehnisse fremder Länder verfolge. Dabei kann ich meine Gedanken der Macht des Porträts entziehen, im weichen Sitz versinken und gedanklich entschwinden. Ich lasse mich treiben und wandere durch die engen Straßen der Stadt, in der gerade der nächste Terroranschlag verübt wurde, ich rieche den Rauch und höre noch Schreie, dann sehe ich das Team der Polizei, das soeben die Puzzleteile zusammen zu setzen versucht und begegne einem Schatten der Hoffnung in dieser dunklen Gasse, der mir hilft, aufzustehen, das Gewicht, dass die Detonation erdrückend auf meine Brust gelegt hat, anhebt und mich dann an der Hand vom Aufstehen zum Aufstand geleitet. Die traurigen Augen der Hinterbliebenen sehen zu mir hoch, mich bittend, flehend, drängend. Tief Luft holen, geräuschvoll ausatmen, dann fühle ich mich bereit für diese Aufgabe.
Allerdings wecken diese Geräusche meine Wächterin, die mich nun wieder ihrerseits drängt. Ohne Regung, ohne Worte oder Zeichen bedeutet sie mir, mir eine Waffe in die Hand zu nehmen und hinzufliegen, keine zweiten Gedanken, kein Warten, keine Vorbereitungen, einfach mal machen. Die Verantwortlichen finden, einsperren, ausliefern oder was auch immer tun, Hauptsache, die Welt ist ein bisschen sicherer. Ich bin versucht, ihrem Wunsch nachzugeben und Hals über Kopf loszuziehen, stemme mich schon aus dem Sessel, da steigt mir ein betörender Duft in die Nase, fasziniert mich und lenkt meine Aufmerksamkeit ab, alle Vorhaben sind vergessen. Ich sehe durch den Nebel des Dufts eine friedfertige Gemeinschaft, voller Harmonie, Vertrauen und Güte. Mein Geist weitet sich, ich schwebe über weite Felder, übersät von Jasminsträuchern, lasse mich auf den Wolken der natürlichen Betörung meiner Sinne treiben.
Aus dem Nichts greift mich eine Hand fest am Kinn, sie trägt goldene Ringe, die sich kalt in meine Haut graben. Sie dreht mein Gesicht gewaltvoll, wendet es ab von der Schönheit der unberührten Pflanzen. Ich will protestieren, da sehe ich, weshalb die Pflanzen ungestört wachsen durften. Obwohl mir dieser Ort wie das Paradies auf Erden und eine Oase der grenzenlosen Gutmütigkeit erscheint, umrahmt das weite Feld ein Zaun, mehrere Meter hoch, aus engen Maschen, Stacheln, soweit das Auge reicht. Ich laufe ihn mit meinen Blicken ab, finde kein Loch, keine Lücke, nicht eine Unregelmäßigkeit.
Die perfekte Seifenblase, deren Flug ich bis eben beobachten konnte, wird jäh gestört, trifft auf den stachligen Zaun und zerbirst. Die Idylle der Natur, vergangen durch eine Bewegung meines Kopfes, nicht mehr kunstvoll, nur noch künstlich, der honigsüße Geruch nicht mehr bezaubernd, sondern verwunschen. Mein Wunsch, in diesem Meer aus Blüten zu baden verwandelt sich ebenso schnell wie diese Felder es tun, wird zum Bedürfnis unterzutauchen, Augen, Ohren und Nase zu bedecken, die Luft anzuhalten, bis die Wellen der Überwältigung sich gelegt haben und wegspülen, was ich empfinde.
Der Zaun zieht mich nun an. Ein Bollwerk gegen die Freiheit. Gegen die meine? Nein, wie auch, ich sitze im kuschligen Sessel daheim, die einzigen Zäune in Sichtweite sind die morschen Weidezäune der Bauern. Doch lässt er sich nicht ausblenden, dieser brutale Zaun, er hält meine Aufmerksamkeit als seine Geisel, die nur durch das Zerschneiden der Maschen zu befreien sein wird. Ich muss mich selbst entfesseln, werde dabei aber auch befreien, was vielleicht aus gutem Grund eingesperrt war.
Ich schalte das Radio aus, genug des Neuen, obwohl die Titelseite der Zeitung mich noch erwartet. Einladend sieht sie nicht eben aus, Panzer posieren stolz auf dem Foto. Fabrikate meines Staates, also auch von mir... Gut, siehst du, Alte, ich habe doch schon etwas getan, das ist doch ein Anfang. Innerlich triumphierend schmunzle ich über meine Antwort auf die unausgesprochenen Worte des Tadels des Porträts, schlage die Zeitung auf und beginne mit der Lektüre. Mich interessiert, was genau ich denn schon Gutes vollbracht habe mit meinen Steuern, wie viele Leben ich schon selber beschützt habe. Kurz schaue ich auf, da sitzt sie, hochgezogene Augenbrauen, als wollte sie mir verächtlich entgegenschreien: "Hab ich's dir doch gesagt!" Noch den Umriss ihres gewaltigen Kragens im Auge beginne ich zu lesen und erfahre, dass diese Panzer vielleicht einige Leben geschützt, aber aktiv Tausende beendet haben.
Ich will schreien, mich empören, wer war das? Ich sicher nicht. Aber ich muss dorthin, helfen, ich werde schlichten, diesen Krieg beenden. Hilfe brauchen sie sicherlich, auf welcher Seite auch immer, aber es ist nötig. Andererseits ist es ein Krieg der Wirtschaft, der Politik bedeutet er nichts, nicht einmal den Menschen. Verächtlich bohrt sich der stechende Blick der Alten in meine Stirn, ich blättere schuldbewusst die Seiten um. Wahlergebnisse, die Rechten haben gewonnen. Toll, auch noch hier. Ich hätte es verhindern können, müssen, meine Rhetorik ist denen sicher überlegen und Charisma habe ich auch, dann hätten sie mindestens weniger Stimmen gehabt und alles wäre gut. Ist es aber nicht. Zumindest wählen hätte ich sollen. Habe ich aber nicht. Sie hätte es garantiert getan, das weiß ich, ich kenne sie mittlerweile, ihre Blicke sagen immer so viel aus. Ich schäme mich, ich sollte wirklich aktiver werden, sie hat recht.
Aber wer würde ihr dann noch Gesellschaft leisten, wen würden die Nachrichten kümmern, wer würde sie überwachen? Diese Pflichten bleiben mir, sie brauchen mich. Während das Dickicht aus sterbenden Wäldern auf den Seiten sich um mich herum auftürmt und in äußerst lebendiger Sprache von aussterbenden und bereits verschwundenen Tierarten berichtet wird, unternimmt das Porträt einen erneuten Versuch, mich zu bewegen, schiebt meinen Geist an. Dieses Gefühl kommt wohl dem Zustand einer arbeitslosen Biene nah, eine Königin, die keine Anweisungen für dich hat, der du aber unbedingt dienen willst, eine Kraft in dir, die kein Ziel hat. Mein Kopf brummt.
Ein Blick hinüber zur Tür, verstaubte Plakate und Megafone, Überreste des letzten Klimaprotests. Hat er was bewegt? Hat sich irgendwas getan? Die Welt wird wärmer, die Herzen kälter, die Meere dreckiger, wir waschen unser Gewissen rein. Resigniert sage ich mir, dass es eben so ist. So muss es sein. Mit der zusammengefalteten Zeitung im Arm hieve ich mich hoch, verneige mich vor dem Porträt und begebe mich auf den Weg in die Zukunft. Draußen ist es warm, Sonne ohne Wolken, niemand, der mich beobachtet. Ich grüße den schwitzenden Nachbarn, sicher freuen er und seine Tiere sich über das angenehme Wetter.