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Winogrono
“Lange Nacht?”, fragt er.
Ich nicke.
“Trinken oder Frauen?”
“Beides!”, sage ich.
“Wird nicht letzte Mal sein”, sagt er und drückt seine Zigarette in der noch feuchten Erde aus. “Ich bin Jerzy, aber Deutsche sagen Jürgen. Und du?”
“Band. Arthur Band.”
Am Münzberg geht das elektrische Einfahrtstor auf und ein Motor startet, japst nach frischem Öl.
“Ist spät dran”, sagt er, während ein Deutz-Traktor aus den 60ern vorrollt. Man gibt uns Handzeichen und wir steigen in den überdachten Anhänger. Platz genug für zwei.
Langsam zieht uns das Gefährt den Wirtschaftsweg hinauf in die Weinberge. Tau liegt über den Feldern. Im Osten klettert die Sonne hinter einem Hügel hervor und funkelt in den Wassertropfen auf den Grashalmen. Schiebt sie sich voran, wie Lieder von Ennio Morricone, die in meiner Vorstellung durch die endlose Ebene aneinandergereihter Parzellen klingen. Ich denke an das Auslandssemester in Italien; das kleine Café am Campus der John Cabot; die Schönheit in ihrem Sommerkleid; wie es im seichten Wind über ihren Oberschenkeln flattert und sie es an sich schmiegt, als sie sich setzt und einen Espresso passend zu ihrer Haarfarbe bestellt. Wir kannten uns flüchtig aus einem Kurs für Englische Literatur, den ich nur belegt hatte, weil ich Stephen Spender, Virginia Woolf und Oscar Wilde für einarmige Blender hielt. Es hatte zur Folge, dass mein Stipendium gekürzt wurde. Aber an diesem Nachmittag in Rom war das schnell vergessen. Ihre Pupillen kratzten an den Gläser meiner Sonnenbrille, weiteten sich und verlangten, dass sich unsere Blicke trafen. Sie zahlte die Kaffees, ich die Biere. Und auf dem Weg durch die dunklen Gassen, unter einem der Torbögen, nahm sie meine Hand und küsste mich. Ich stieß sie von mir. Es war mit meinem Gewissen nicht zu vereinbaren. Was für ein Idiot ich doch war!
Der Wagen hält. Jerzy streckt mir einen Strohhut hin.
“Wirst du brauchen”, sagt er.
Wir greifen nach Seselmessern und Handschuhen und steigen aus. Der Anhänger wird abgekoppelt. Wir schieben ihn etwas abseits auf eine kahle Fläche. Man erklärt mir, wie ich vorzugehen habe. Die oberen Ranken einklemmen; Disteln und Klettenlabkraut am Rebstock entfernen; Blätter, die die Beeren verdecken, abschneiden; faule Trauben von den guten trennen; zwei Rispen pro Holz. Jerzy steht daneben und dreht eine Lulle.
“Keine Kippen im Wingert”, mahnt es vom Fahrersitz des Deutz herunter.
Dann brummt der Traktor ins Tal wie eine Hummel, die penetrant gegen die Fensterscheiben eines Gewächshauses knallt und an Übermüdung stirbt.
“Manche lassen dran”, sagt er und deutet auf eine schimmelnde Rispe am unteren Holz. “Wenn auf Etikett Gerichte, du trinken faule Traube.” Er schneidet sie ab und lässt sie auf den Boden fallen.
Wir warten, bis wir den Deutz nicht mehr hören, dann stecken wir uns Zigaretten an.
“Wie heißt das eigentlich bei euch”, frage ich. “Weintraube?”
“Winogrono”, sagt er. Seine Kippe flappt dabei im Mund und er wiederholt es. “Winogrono.”
Es ist stupide Arbeit. Körperliche Arbeit. Anstrengend. Doch viel besser als Hausarbeiten für wohlhabende Studenten. Wir gehen die Zeilen nach unten, dann auf der anderen Seite nach oben. Ich beginne die Reben zu zählen. Hundert Reben pro Zeile, sechsundfünfzig Zeilen pro Parzelle. Ein blau gestrichener Pfahl markiert das Ende des Wingerts. Wir bewegen uns wie Schnecken auf ihn zu. Zigarettenrauch steigt über die Köpfe der Reben.
Im Anhänger ist es heiß. Die Luft darin stickig, drückt auf meine Lunge. Wir hängen unsere Shirts über den Ast eines nahegelegenen Baumes und setzen uns in seinen Schatten. Ein letzter Rest, der mit jeder Minute schwindet.
“Gleich Mittag, dann kein Schatten mehr.”
Jerzy kaut auf einer Weintraube und spuckt die Kerne ins Gras, geht zum Wagen und kommt mit einer Flasche Wein zurück.
“Trink und erzähl!”, sagt er.
“Gibt nichts zu erzählen.”
“Jeden Sommer ich komme. Zwölf Jahre schneiden Trauben für alten Kessler. Oktober fahre nach Hause. Bringe Kinder deutsche Sußigkeiten, aber macht Zęby kaputt”, sagt er und zeigt grinsend auf die braunen Stellen an seinen Zähnen. “Trotzdem schmecken gut. Frau sieht deutsche Scheine, deutsche Auto, alles gut, mag mich noch. Du trinken gestern, was war Anlass?”
Ich nehme einen Schluck.
“Hat ‘nen anderen. Kim.”
“Deine Kim hat anderen?”
“Nein. Sie hat einen namens Kim. So ‘nen Fitnesstrainer.”
“Kim Frauenname. In Polen ist Frauenname.”
“Ist es hier auch.”
“Leg ihn um. Kann von Schwarzmarkt Glock besorgen.”
“Kille keinen mit ‘nem Frauennamen. Ist doch Strafe genug.”
“Immerhin haben Eltern Kind nicht Sue genannt. Johnny Cash, ja?”
Wir lachen. Die Flasche geht noch ein paar Mal rum. Die letzten Schlücke schmecken warm. Dann verschwindet sie im Rucksack.
Die Sonne steht jetzt im Zenit, brennt auf unseren Rücken und reibt die weiße Haut auf meinen Schultern auf. Jezrys Schultern sind braun. Einmal setze ich mich dicht unter eine Rebe, mache eine Pause, zünde eine Zigarette an und denke, dass er Recht hat mit dem, was er sagt. Dass ich ihn umlegen sollte. Aber dazu habe ich keine Eier. Hey Joe, das war eine andere Zeit, ein ganz anderes Land. Außerdem brachte er im Lied seine Frau um, nicht die Affäre. Und was die Zeitungen darüber schreiben würden … Arthur Band tötet Kim Bohlen; Arthur Band auffällig still im Verhandlungssaal; Zur Verhandlung im Mordfall Kim Bohlen: Anklage Lebenslänglich. Niemand würde wissen, dass es sich um einen Mann handelte. Die Öffentlichkeit würde mich noch im Gerichtssaal mit altem Obst und Gemüse bewerfen. Arthur Band der vermeintliche Frauenkiller. Ich würde stattdessen nach Hause gehen und Moniques ganzen Kram aus dem 4. Stock des Studentenwohnheims werfen. Unten in den Innenhof, in dem die Erstsemester abends sitzen und Bier trinken. Das erscheint mir eine bessere Lösung.
Die letzte Traube fällt in die Erde. Wir gehen einige Schritte und setzen uns ins trockene Gras neben den Hänger und warten. Langsam verschwindet die Sonne. So, wie sie kam, bloß auf der gegenüberliegenden Seite. Legt sich zwischen zwei Hügeln nieder, ändert ihre Farbe in dunkles Orange, zieht einen Schimmer über sich. Eine kühle Bettdecke aus Wolken.
“Das war’s”, sage ich.
“Und, was machst du mit Problem?”
“Ich denk, ich leg ihn um.”
Jerzy lacht. “Könntest auch Arm brechen, musst nicht gleich umlegen. Glock teuer.”
Unten hören wir den Traktor langsam heran tuckern. Morgen würden wir zur nächsten Parzelle gebracht.
Die Tür fällt ins Schloss. Beide Fenster stehen weit offen. Es ist ein leeres Zimmer. All ihre Sachen ausgeräumt, bis auf die Matratze. Ich gehe zum Kühlschrank und hole eine Flasche Wein raus. Wenigstens den hat sie dagelassen. Ich entkorke ihn mühevoll mit einer Schraube, die einsam und allein dort liegt, wo das Bett stand. Wenn ich ihm die Arme brechen wollte, wie Jerzy vorschlug, müsste das mit einer Abrissbirne geschehen. Aus dem Hinterhalt.
Hier kann ich nicht bleiben. Ich betrachte meine schwieligen Hände. Die Rückseite des Etiketts blitzt auf. Kalb, Käse, Pasta. Ich trinke faule Trauben.