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Raoul Schrott: Homers Heimat - Hans Peter Duerr: Rungholt

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31.08.2008
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Raoul Schrott: Homers Heimat - Hans Peter Duerr: Rungholt

Zwei verrückte Autoren über zwei verrückte Städte – die beide in der Literatur ihren Niederschlag gefunden haben. Es sind schon merkwürdige Parallelen, die Schrott und Duerr verbinden. Sie sind aus verschiedenen Generationen, Duerr ist 66 Jahre, Schrott 45 Jahre alt. Unterschiedlich auch ihre Prägungen und ihre Herkunft. Trotzdem sind sie in Wesen und Biographie verwandt und jetzt treffen sich sogar ihre Arbeiten.

Duerr als Ethnologe, stets um eine lebendige Wissenschaftlichkeit bemüht, um „Wahrheiten, nach denen man tanzen kann“, der die Grenzen sprengt und dem das Denken besondere Freude macht, wenn es weh tut. Schon früh erkannte Duerr nicht die „Scientific Community“, sondern die breite Öffentlichkeit als Adressaten seiner Gedanken und Spekulationen, seiner uferlosen Gelehrsamkeit. Mit Büchern wie „Traumzeit“ und „Sedna oder die Liebe zum Leben“ erlangte er sofort Kultstatus, auch kann er seitdem von seinen Büchern leben ist von der Zustimmung seiner Fachkollegen nicht mehr abhängig. Mit beißendem Witz nimmt er Lehrmeinungen auseinander und erfreut mit einer endlosen Fülle an neuen Einsichten und großen Zusammenhängen; das Programm, die verdrängte Irrationalität in unserer rationalen Zeit darzustellen und ihre Sumpfblüten zu schildern, wird Teil seines Lebens.

Schrott ist Gelehrter, Weltenbummler, oder doch Romancier? Er läßt sich nicht fangen; das hat er mit Duerr gemeinsam. Neben seiner wissenschaftlichen Karriere als Sprachwissenschaftler entstanden Novellen, Romane, Essays; erinnert sei an die Novelle „Die Wüste Lop Nor“ oder den Roman „Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde“. Unabhängigkeit kennzeichnet auch ihn; er ist nicht so konfliktsuchend wie sein Kollege, aber er paßt sein Denken nie an. Geld, Forschungsaufträge, Berufungskommissionen? Schrott bleibt er selbst, und der Erlös seiner Bücher oder ein Auftrag eines Verlages geben mehr Freiheit als die mit Klinkenputzen erlangte Bewilligung eines Forschungsauftrages: da steht er drüber, genau wie Duerr.

Fachfremd? Was ist das? Duerr und Schrott kennen keinen Respekt, jedenfalls nicht vor den an den Universitäten so sorgfältig gezogenen Grenzen der Fakultäten.

Schrott erhält den Auftrag, die Ilias neu zu übersetzen, fährt in die Türkei, recherchiert, denn übersetzen geschieht nicht Wort für Wort, es erfordert Wissen und Einfühlung, und merkt: da ist etwas faul, die Ilias beschreibt nicht Troia. So wird aus dem Mythos, der der trojanische Krieg schon zu Zeiten Homers gewesen ist, ein neuer Mythos, der die Fiktion verkennt: Homer hat sich vieles ausgedacht, vieles neu komponiert, und die Geographie dazu hat er aus seiner nächsten Umgebung entlehnt: ein Ort in Kilikien in der südlichen Türkei birgt eine Fülle von Einzelheiten des Troia der Ilias, hier steht Homers Vorbild. Natürlich bleibt Troia Troia, das nämlich, wo die List mit dem trojanischen Pferd ausgeführt wurde und das Schliemann ausgegraben hat, aber Homers Troia kann man noch heute besichtigen: Karatepe.
Klar, daß dies einen Aufschrei auslöst, eine ganze Generation von Altphilologen ist empört über das Sakrileg, und es mag Schrott noch ein bißchen Spaß zusätzlich bereitet haben, daß er Homer selbst als Schreiber in einer Schreibstube in Kilikien verortet, dazu noch als einen Eunuchen.

Duerr macht Urlaub mit seiner Familie; welch Ereignis im Leben dieses umtriebigen Wissenschaftlers; seine Frau hat das Quartier auf Nordstrand gebucht, Einsamkeit und Stille scheinen gesichert. Duerr sieht den Nachdruck einer alten Wattkarte in der guten Stube hängen, sieht Rungholt: nicht dort, wo es den Grabungen des Lehrers Busch zufolge sein soll, sonder weit östlich davon, sagt sich: der Kartograph kann sich nicht irren, und hat sein Thema gefunden, stürmt die Husumer Bibliothek und der Urlaub ist dahin. Auch Rungholt unterlag einer Verrückung, nur daß es wirklich woanders existiert hat, als seit 80 Jahren der Lehrer Busch und in seiner Folge die Schleswiger Denkmalschützer und Archäologen uns Glauben machen wollen.
Duerr nimmt eine Professur an der Hochschule Bremen an, vielen Warnungen zum Trotz; seine Erfahrungen mit der dortigen Verwaltung und den Kollegen beschreibt er in dem Buch wie ein Stück besonders harter Feldforschung. Und er motiviert seine Studenten: wollen wir zusammen einmal eine alte Stadt ausgraben? Ja, wollen sie.
Es sind nur wenige kleine Ausflüge mit einem alten Schiff ins Watt, Spaziergänge, ein paar Funde werden gesammelt. Dann, später, auch einige zaghafte Spatenstiche. Ohne Grabungsgenehmigung; die Kollegen aus Schleswig erstatten Strafanzeige, aber der zuständige Landrat fühlt, was hier für ihn, für alle in dieser Landschaft, droht und verfolgt die Angelegenheit nicht („da müßten wir ja jeden zweiten Nordfriesen einsperren“).
Und dann die Überraschung, nein, nicht die eine, daß Rungholt ganz woanders lag und Busch nur einen Nachbarort gefunden hat, sonder viele Überraschungen, die Duerr genüßlich mit ausschweifenden Betrachtungen und Spekulationen präsentiert, Knappheit ist seine Sache nicht und in guter Duerrscher Tradition ist der Teil der Anmerkungen umfangreicher als der eigentliche Text, nur daß er in diesem Buch, anders als in „Traumzeit“, den Gedankenfaden nicht geradeaus spinnt, sondern ständig ab- und umherscheift.
Und was haben Duerr und seine Studenten mit ihren wenigen Funden nun herausgefunden?
1. Rungholt war weiter östlich, ca. 1,3 km nördlich von Südfall, nicht westlich davon.
2. Rungholt war nicht das unbedeutende Dorf, als das es bisher galt, weil Busch keine Anzeichen auf eine größere Siedlung gefunden hatte, sondern eine bedeutende Stadt, bei ihrem Untergang im Jahr 1363 hatte sie etwa 6000 Einwohner, zum Vergleich: Hamburg hatte 10.000.
3. Rungholt wurde nicht um 1000 n. Chr. gegründet; viele Funde deuten eine längere Geschichte an, kontinuierlich besiedelt war es seit dem 7. Jahrhundert n. Chr.
4. Unter einer Torfschicht, die eine Unterbrechung der Rungholtschen Geschichte anzeigt, wird die eigentliche Sensation hervorgeholt: minoische Funde, die ältesten 1400 v. Chr., nicht Handelsware, die über den Landweg hierher gelangt sein kann, sondern auch Gebrauchskeramik. Damit ist sicher: schon vor rund dreieinhalb tausend Jahren war hier ein Handelsplatz, wo griechische Schiffe verkehrten, zwei Jahrhunderte vor dem trojanischen Krieg.

Und damit schließt sich der Kreis, Duerr und Schrott haben zwei Geschichten zu einer verbunden, und die Welt des Altertums ist wieder ein Stückchen größer geworden.

Es ist schon eine Ironie, daß man Detlev von Liliencron wegen seines Gedichtes maßlose Übertreibung nachgesagt hat, weil die bisherigen Kenntnisse nicht auf eine Stadt schließen ließen. Dabei hat er nur aufgeschrieben, was die Menschen ihm nach fünfhundert Jahren noch erzählt haben - vielleicht war es doch ziemlich nahe an der Realität.

Rungholt ist reich und wird immer reicher,
kein Korn mehr fasst selbst mehr der größeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom,
staut hier täglich der Menschenstrom.
die Sänften tragen Syrer und Mohren,
mit Goldblech und Flitter in Nase und Ohren.
Trutz, Blanke Hans.

Ein einziger Schrei- die Stadt ist versunken,
und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm andern Tags der stumme Fisch.---

- Detlev von Liliencron, 1882

"Doch wir horchen allein dem Gerücht und wissen durchaus nichts." - Ilias, 2. Gesang, 486

 

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