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Inseln

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22.03.2024
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Inseln

Als er erwachte, war die Kälte der langsam fliehenden Nacht bereits tief in seine Knochen eingezogen und er musste sich zwingen unter dem blattlosen Strauch hervorzukriechen. Die feuchte Erde unter seinen nackten Füßen war mit dem plötzlichen Einzug des Winters gefroren. Er reckte sich, genoss den Schmerz, der nach Bewegen seiner steifen Knochen durch seinen Körper fuhr. Es zeigte ihm, dass er noch am Leben war. Am Leben sein war alles. Er hatte nie wirklich sterben wollen. Manchmal hatte er sich gewünscht, dass der Fluch des Aufwachens enden würde. Dass er eines Tages einfach aufhören könnte zu atmen. Dass er nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus der eisernen Spirale des Schmerzes gerissen würde. Jedoch waren diese Gedanken nur kurze Pflaster, die von der Hand eines unerstickbaren Lebenswillen bald abgerissen wurden. Die zurückbleibende Wunde erinnerte ihn an den Grund seines fortdauernden Herzschlages. Nein er hatte nie wirklich sterben wollen. Besonders heute nicht.

Ein kühler Wind ließ ihn erschaudern. Dennoch sog er gierig die nach Salz riechende Luft in seine Lungen. Heiße Tränen füllten seine trockenen Augen und er rief sich einen Entschluss ins Gedächtnis, der ihm gestern Nacht ein lang vermisstes Gefühl geschenkt hatte. Hoffnung. Der Sprössling dieses Plans, der den heutigen Tag bedeutender machte als alle anderen, wurde im Grunde bereits vor einer sehr langen Zeit gesät.

Es war das erste Mal gewesen, dass er ihn schwerer verletzte. Er war vielleicht elf gewesen. Als er damals langsam das Bewusstsein verlor, sah er Momente aus seinem kurzen Leben an ihm Vorbeiziehen. Warum hört er nicht auf, hatte er noch gedacht.

Er kam erst im Krankenhaus wieder zu sich. In der Schule hatte er gelernt, dass Menschen, die sterben, einen Tunnel sehen. Anstelle eines friedvollen Todesengels stand an jenem Tag jedoch lediglich ein unbetäubbarer Teil der Schmerzen in Form seines Vaters im Türrahmen. Er sah seinen Sohn abfällig an. Schwestern redeten mit ihm. Sein Vater ging. Der Junge wusste, dass es falsch war, ein Kind zu schlagen. Wenn er das wusste, so mussten diese Schwestern es auch wissen. Er wollte ihnen erzählen was passiert war. Vielleicht käme er dann in ein neues Zuhause. Vielleicht hätte er dort einen großen Bruder, der ihn von der Schule abholen konnte. Oder wenigstens eine Schwester. Nach der Schule käme er dann vielleicht zu Pfannkuchen oder Spagetti nach Hause, die ihm seine Mutter gekocht hätte. Und sein neuer Papa könnte mit ihm und dem Bruder im Garten Fußball spielen. Wenn er diesen Schwestern erzählen würde, was passiert war, konnten sie ihm bestimmt helfen. Oder?

Eine Schwester fragte, wie er denn von der Treppe gestürzt sei.

Enttäuschung fraß sich wie dunkler Nebel durch seine Eingeweide. Keiner würde ihm glauben. Er würde keine neue Familie bekommen. Keine Pfannkuchen und keinen Bruder.

Achselzucken.

Ob ihm noch etwas anderes wehtäte?

Nein.

Dass er Bettruhe bräuchte.

Ok.

Er lernte, dass ihm keiner helfen würde. Dass die Wahrheit als ewige, übergeordnete Macht bereits lange vor seiner Existenz von der Menschheit verunkenntlicht wurde. Sein kleines Kinderhirn begriff an diesem Tag, dass der Wahrheitsträger keine Bedeutung hatte. Nicht, solange er ein Kind war. Nicht solange er, der sich darauf verstand, die Wirklichkeit in seinem Sinne zu formen, über ihn herrschte. Nicht solange sein Vater lebte.

In diesem Moment im Krankenhaus: -ein falsches Wort, zu viele Schläge, ein gebrochener Rippenbogen, ein Leberriss und viele Schmerzmittel später- wünschte er zum ersten Mal seinen Tod. Damals war die Idee nur ein kleiner Wink gewesen, eine unscheinbare Hoffnung, die tief in ihm Wurzeln schlug. Jedes Wort, jeder Schlag ließ die Idee wachsen. Jedoch niemals zu hoch, stets unter einem Haufen kindlicher Naivität und Furcht begraben.

Viele Jahre später wachte er hier auf dieser Insel auf. Auf dieser Gottverlassenen Insel aus laubfreien, toten Bäumen, verziert mit einem Rinnsal an Süßwasser, umgeben von Tonnen an Meer. Ohne eine einzige Menschenseele verharrte er Tag ein Tag aus. Und immer war es kalt. Von morgens bis abends klapperten ihm die Zähne und seine Beine schlotterten. Von abends bis morgens verbarg er sich zusammengekauert unter einem Haufen Dreck in einem Busch. Die Insel kannte nur die Hälfte der Jahreszeiten. Aus Herbst wurde Winter und aus Winter wieder Herbst. Aus kaltem Nebel, der bald von endlosen Regenschlieren abgelöst wurde, wurden vereiste Böden und all sein Leid verhöhnende, dicke weiße, wunderschöne Flocken, die des Nachts zu aggressiven Schneestürmen mutierten, als versuchten sie ihn unter sich zu ersticken. Unablässig herrschte dieser Zyklus über das trostlose Stück Land, in welchem kein Menschenkind überleben konnte. Und dennoch blinzelte der hagere Bewohner an diesem neuen Tag in ein paar seltene Sonnenstrahlen, welche ihn in seinem Plan bestärkten.

Bereits letzte Nacht hatte er nicht schlafen können. Für gewöhnlich waren die paar Stunden traumlose Bewusstlosigkeit sein einziger Trost. Er schloss die Augen und seine regelmäßig werdenden Atemzüge befreiten ihn schnell von der bitterkalten Wirklichkeit. Vielleicht war es auch die andauernde Kälte, die sein Blut wie seinen Herzschlag verlangsamte und auf diese Weise früher den Schlaf einleitete.

Doch keine dieser Faktoren konnten in der vergangenen Nacht seinem aufgeweckten Geist entgegenwirken. Es ratterte in seinem System. Es war ihm, als flösse ein neues Blut in ihm. Als zapften seine Adern eine neue Quelle an, die wiederum sein System mit neuen Ideen speiste. Als hätte dieses Fremde seinen Verstand vergiftet. Diese neue Art von Gedanken berauschten ihn. Von jener Ekstase gepackt, erlaubte er sich, die neuen Ideen zu erforschen, sie zu begutachten, bis sie Vertraute wurden. Das fremde Gedankengut als das seine anzunehmen. Solange bis er es nicht mehr als fremd empfand. Denn es war schon immer da gewesen. Lediglich ein verloren geglaubter Bekannter, noch begraben unter all den Menschlichkeitserscheinungen.

Und der Junge grub. Die Zweifel wurden beiseite geschaufelt. Und sein Gehirn arbeitete, wie es lange nicht mehr arbeiten konnte. Bilder schossen ihm in den Kopf, während seine bloßen Hände die gefrorene Schicht Erde durchbohrten. Die Ohrfeige an Ostern, als er zu lange gequengelt hatte, ließ seine schmerzenden Finger näher an die kleine Pflanze kommen. Die längst verblassten Narben einiger Gürtelhiebe nach zu viel Bier. Die Fünf in Mathe, die seine Hand auf den noch heißen Herd presste. Die harte Erde schnitt in seine Fingerkuppen, als er die ersten Blätter einer schmächtigen Baumkrone erreichte.

Die Nacht eine Woche nach seinem dreizehnten Geburtstag, die ein entsetzliches Gewitter mit sich trug. Seine linke Hand bekam einen schmalen Stamm zu greifen, als einer der unzähligen Blitze durch seine Erinnerung flimmerte. Er hatte wimmernd an der Außenwand des Hauses gekauert. Überdacht vom Balkon der Wohnung über ihm. Dennoch peitschte der Wind den Sommerregen und die gelegentlichen Hagelkörner auf seinen Schlafanzugrücken. Er zog den kleinen Baum aus seinem Grab. Wischte flüchtige Tränen von seinen Wangen. Sein Atem ging schneller. Damals hatte er mehr Verzweiflung als Wut verspürt, als der Mann, der bereits vor seiner Geburt seine letzten Gefühle in einem Bierkasten ertränkt hatte, die Glastüre zur Wohnung öffnete. Die Sonne strahlte die ganze Woche über während der Junge eine Lungenentzündung bekämpfte, die seine körperliche Strafe einer Nacht im Sommergewitter war.

Als er diese Erinnerungen all die Jahre später auf der Insel erneut durchlebte fühlte er anders.

Er wälzte sich in einer Mischung aus Wut und Erregung unter dem Strauch hin und her. Der Sprössling einer wagen Idee war in der letzten Nacht zu einem monströsen Baum gewachsen, der nun neben seinem Strauch thronte. Neben stattlichem Blattwerk trug er die vergifteten Früchte eines zerstörten Lebens. Seit seiner Ankunft war dies der einzige Baum auf der toten Insel, der jemals etwas zum Reifen brachte.

Dank der Laublosigkeit seiner Artgenossen schienen die Sonnenstrahlen des neuen Morgens durch die dürren, höher gelegenen Äste der übrigen Gewächse und tauchten den neuen Baum in kaltes Licht. Der Junge begutachtete eine Weile den Auswuchs der gestrigen Nacht. Die Hoffnung auf Veränderung breitete sich noch ein wenig mehr aus. Und er machte sich ein letztes Mal auf zu dem Rinnsal an Süßwasser, um sich zu waschen.

Nie zuvor hatte der Junge darauf geachtet seiner hageren Gestalt etwas mehr zu geben als die erlernte, stets leicht gekrümmte Haltung. Der eingezogene Kopf, gebetet in die hochgezogenen Schultern, wurde von langen, eiligen Schritten getragen. Weniger mutige, von Selbstsicherheit gestärkte, als vor einer immerwährenden Gefahr fliehende Schritte. Seine tiefliegenden Augen huschten ähnlich flink und achtsam in den Höhlen herum, als dürfe ihnen nichts entgehen. Doch als er sich immer weiter von seinem Schlafplatz entfernte, in Gedanken mit den Fingern am rauen Stamm seines Baums entlang glitt, die tiefer hängenden Blätter inspizierte, eine Frucht zu fassen bekam, sie aufbrach, an ihr roch, probierte, -in seiner Vorstellung schmeckte sie bittersüß-, erlaubte er sich abzuschweifen. Seine Aufmerksamkeit der Vorstellung zu widmen, etwas mehr zu haben als die ständige Hut. Diese, seit er denken konnte sich erstmals von bisher regierenden Gedankenmustern unterscheidende, Vorstellung seines Lebens ließ seine Schultern entspannen. Er richtete sich ein wenig auf. Nicht viel, dennoch wirkte er augenscheinlich größer, nahm etwas mehr Raum ein. Er fühlte sich weniger schlecht als all die vergangenen Tage auf der Insel. Und so bestärkte er sich selbst in seinem Vorhaben.

Er verließ das Badezimmer und begann seine Suche in der Küche. Oberste Schublade. Er sah die Schleifstange. Zu morbide? Kochmesser. Sah scharf aus. Schleifen würde zu laut sein. Er nahm die Klinge. Sein Puls stieg an. Jetzt? Nein. Erst packen. Er konnte danach mit Sicherheit keine Zeit mehr verlieren. Mit der Klinge schlich er in sein Zimmer. Die Sporttasche oder der Rucksack? Beides. Kleider stopfen, Geldbeutel, Schlüssel, Pass. Geld aus Versteck holen. Geld aus seinem Geldbeutel stehlen. Kapuzenpulli und Jacke anziehen, Trinkflasche noch auffüllen. Jetzt. Jetzt passierte es.

Er war bereit. Warf einen letzten Blick auf den, inzwischen ferner liegenden Baum. Er machte sich auf Richtung Strand. Drehte sich nicht mehr um. Wurde schneller, als er durch die schmalen Baumstämme hindurch das Blau erblickte. Erst lief er zügig, dann rannte er bis sich der kalte Sand zwischen seine Zehen bohrte. Er schnappte nach Luft. Hitze stieg ihm in den Kopf, sodass seine Ohren und Wangen erröteten. Sein Brustkorb bebte. Einatmen. Kalte Luft brannte in seinem Hals. Ausatmen. Sein Herzschlag hämmerte durch seine Adern. Er konnte sich noch nicht ganz dazu bringen in das eisige Meer zu gehen. Betrachtete die gleichmäßig heranschwappenden Wellen.

Er legte die vollgestopfte Sporttasche und seinen Rucksack vor der Schlafzimmertür ab. Die Angst schnürte seine Lungen zu und er atmete stockend. Seine linke Hand zitterte als er nach der Klinke griff. Die andere Hand umklammerte die Klinge des Messers, als hinge sein Leben an ihr. Die Tür knarzte. Was wenn er aufwachte? Er schnarchte, hatte genug getrunken. Er würde nicht aufwachen. Das war gut oder? Etwas in ihm hoffte, sein Vater würde die Augen aufklappen und ihn entgeistert anstarren, anschreien. Er müsste es nicht tun. Doch er blieb ruhig liegen. Schlief. Atmete einfach weiter. Was wenn er einfach ginge? Was wenn er das Messer wegräumte und verschwand? Er sah ihn vor seinem inneren Auge erwachen. Seinen Sohn und dessen wenigen Habseligkeiten nicht auffinden. Und er sah die aufkommende Freude in seinem Gesicht. Jetzt musste er sich nicht mehr kümmern. Kein Geld mehr verschwenden. Er war befreit von seiner größten Plage. Einfach so. Weil sein Feigling von Sohn von selbst abgehauen war.

Und mit dieser Vorstellung wich die Angst zurück. Machte einem sehr viel mächtigeren Gefühl Platz. Wut breitete sich in ihm aus wie ein Feuer. Die Schnüre um seine Lungen lockerten sich. Er nahm endlichen einen tiefen Atemzug. Er hatte kein gutes Leben gehabt. Nie hatte er sich erleichtert oder frei gefühlt. Erst hatte er dem Jungen seine Mutter, dann seine Kindheit und Jugend geraubt. Der Junge erinnerte sich nicht an eine Zeit in der er noch keine Angst vor Papa gehabt hatte. Er hatte niemals eine Familie gehabt, in der er Sicherheit finden konnte. Er war wohl das einsamste Kind gewesen, das er kannte. Inmitten einer Gesellschaft lebte er in Gefangenschaft, abgeschottet, allein auf einer Insel. Und der Mann, der es schaffte, aus einem Kind seine Freude, sein Glück und seine Leichtigkeit zu schlagen, der sollte nicht die Genugtuung erhalten, irgendwann an einer Alkoholvergiftung zu sterben. Dieser Mann hatte ihn erschaffen. Er hatte aus ihm ein Monster gemacht, das dazu fähig war, die Kontrolle zu übernehmen, wann er seinen letzten Atemzug nahm. Dieses Gefühl der Macht leitete ihn. Er würde keine Reue empfinden. Er würde niemals zurückgehen wollen und diesen Moment ändern. Er beugte sich über den erbärmlichsten Menschen, den er kannte. Holte aus.

Und er trat auf das Meer zu. Hielt nicht an, als ihm die Kälte wie kleine Nadeln in seine Füße stachen. Er hielt nicht an, als die Wellen ihn ausbremsten, als wollten sie ihn zurück auf die Insel tragen. In Sicherheit. Doch trotz des eisigen Schmerzes hatte er sich noch nie glücklicher gefühlt. Kein Tag auf der Insel hatte ihm jemals das gegeben, was er fühlte, als er sie verlies. Erst stieg ein Glucksen in seiner Kehle auf. Er stand nun bis zum Hals im Meer. Eine Welle schwappte über seinen Kopf und hob ihn von seinen Füßen. Als er wieder nach Luft schnappen konnte, brach ein Lachen aus ihm heraus, wie er es noch nie von sich gehört hatte. Er legte sich auf das Meer und ließ sich von den Wellen tragen, während er lachte und lachte, und sein Brustkorb bebte vor Kälte und Lachen. Die Insel wurde kleiner und kleiner und er war freier und freier. Er vermisste nicht die oberflächliche Sicherheit, die die Insel ihm bat. Und er vermisste nicht die kurze Zeit der Wärme, wenn er sich in seinem Strauch einrollte, um zu schlafen. Er ließ sich treiben und die Lachtränen vermischten sich mit dem Salzwasser des Ozeans. Und selbst wenn er hier erfrieren würde, so war es das Schönste, was er seit seiner Gefangenschaft auf der Insel erlebt hatte.

Die Wellen schaukelten ihn. Er entspannte sich. Das Wasser um ihn herum färbte sich rot.

Plötzlich wurde das Schaukeln stärker. Er stieß gegen etwas. Sein Kopf schmerzte und er riss die Augen auf. Ihm war nicht mehr so kalt. Aber seine Hände waren noch nass. Er zog sie aus den Jackentaschen und erschrak. Das Blut war noch nicht ganz getrocknet. In Sequenzen kamen die Bilder zu ihm zurück. Er erinnerte sich an den entsetzen Blick, als der Mann erwachte. Der Blick der mit seinem Tod in seinen weit aufgerissenen Augen festfror. Er hatte stark geblutet. Es hatte viel zu stark gespritzt. Der Junge hatte sich nicht die Zeit genommen, das Blut abzuwaschen. Er übergab sich neben dem Bett, dann rannte er. Überlegte nicht wohin. Jetzt sah er seine Reflexion im Fenster des erstbesten Buses den er gesehen hatte. Während er gerade noch in einem Gedankenstrudel der Erlösung gebadet hatte, holte ihn nun eine Art des Schocks ein. Erschrocken wischte er mit seinem Handrücken das Blut von seinen Wangen. Die alte Dame am Nebensitz starrte ihn an und er zog die Kapuze tiefer in sein Gesicht und verbarg seine Hände wieder in den Taschen. Wo fuhr der Bus hin? Er beobachtete die Felder und Wiesen an ihm vorbeizogen als sie die Stadt verließen. Am Horizont konnte man schon das Meer erkennen und ein paar Tränen liefen ihm über die Wangen. Er war frei. Endlich. Er konnte den Gedanken noch nicht ganz fassen. Egal was ihm passieren würde, nichts konnte je wieder so schlimm sein, wie die Insel die ihn Jahrelang gefangen hielt. Die Insel, die sein Vater inmitten einer Zivilisation errichtete. Die ihn zu einem Insassen seines eigenen Leids machte.

Er hatte sich nie so stark gefühlt wie in diesem Moment. Er würde in der Nähe des Meeres aussteigen. Und zum ersten Mal einen Geburtstag feiern, der ihm mehr versprach als ein weiteres trostloses Jahr in seinem zerbrochenen Leben.

 

Hallo @August1988,

herzlich willkommen im Forum!

Vater trinkt, misshandelt Sohn, Sohn bringt ihn um. Das ist die Geschichte. Gute Geschichten lassen sich in ein oder zwei Sätzen zusammenfassen, aber für mich hat das hier nicht funktioniert. Hauptgrund: Die Prämisse wird nicht oder nur ansatzweise in Szenen ausgearbeitet (eine Ohrfeige für quengelig werden zu Ostern - quengelig werden warum, worüber?), stattdessen gibt es ganz viel Wort-Glitzer, hinter dem aber nichts steckt:

ein unbetäubbarer Teil der Schmerzen in Form seines Vaters im Türrahmen.
Im Türrahmen stand sein Vater. Einfach schreiben, was ist. Die Gefahr von Stilblüten schrumpft automatisch. Hier wäre zudem Spannung erzeugt, weil sich erst im Nachhinein erklärt, dass der Vater ein Problem darstellt.

Enttäuschung fraß sich wie dunkler Nebel durch seine Eingeweide.
Der Text besteht bestimmt zu siebzig, achtzig Prozent aus so etwas. Statt mit Situationen, mit Dialogen und Handlungen Figuren zum Leben zu erwecken, wird der Platz mit solchen Hülsen gefüllt, die obendrein keiner Überprüfung standhalten. Emotionen wie Angst und Liebe machen sich im Bauch bemerkbar, aber Enttäuschung? Und dann frisst die Enttäuschung wie ein Nebel? Welcher Nebel frisst denn? Warum ist das wichtig, dass der dunkel ist? Wie kann ich das überhaupt sehen, wenn der in meinem Bauch ist? Was ist dunkler Nebel außerdem? Google-Suche listet nur irgendein Fantasy-Rollenspiel.

Zweites Problem ist diese Null-Überraschung. Schlagen mit dem Gürtel, Bier, das sind alles so Klischees. Nun kommen Klischees ja auch immer irgendwo her, aber du könntest zum Beispiel den Gürtel oder das Bier oder die Narben beschreiben - BOSS-Gürtelschnalle aus Papas besseren Tagen, braune Plastiklasche 0,6 mit einer Burg und einem Pferd darauf, eine am Schulterblatt sah aus wie das Batman-Symbol - um Bilder entstehen zu lassen. So etwas Konkretes merkt man sich, selbst wenn man im Grunde etwas schon zigfach Gelesenes serviert bekommt.

Null-Überraschung zwei ist dann der Mord. Etwa so zur Hälfte ist klar, er will den Vater umbringen und dann … bringt er ihn um. Wert hätt’s gedacht. Der Vater könnte sich wehren oder es könnte rauskommen, der Vater hat ihm nie ein Haar gekrümmt und der Junge ist voll der Psychopath. Irgendwas. So fragt man sich am Ende, für was man die ganze Zeit drangeblieben ist.

Aber was ich auf jeden Fall als Erstes ändern würde: Das ganze Blabla raus. Bestimmt die Hälfte, vielleicht zwei Drittel der Geschichte. Dann würde ich auf den bereits in Ansätzen bestehenden Szenen (die Oster-Nummer zum Beispiel) auf- und diese massiv ausbauen.

Spagetti
h

Dass die Wahrheit als ewige, übergeordnete Macht bereits lange vor seiner Existenz von der Menschheit verunkenntlicht wurde.
Und sein Gehirn arbeitete, wie es lange nicht mehr arbeiten konnte.
Vorvergangenheit: „worden war“ und „lange nicht mehr hatte arbeiten können“

Die längst verblassten Narben einiger Gürtelhiebe nach zu viel Bier. Die Fünf in Mathe, die seine Hand auf den noch heißen Herd presste.
Beides so Misshandlungs-Klassiker. Um so wichtiger wäre es, sie hier spezifisch und so mit Wiedererkennungswert zu beschreiben.

die Glastüre zur Wohnung öffnete
Türe, das ist auch immer recht typisch für so unnötig aufgeblasenen Stil, wenn auf einmal Worte und Satzbau so ins 19. Jahrhundert wechseln.

Der eingezogene Kopf, gebetet in die hochgezogenen Schultern,
bettet?

Er sah ihn vor seinem inneren Auge erwachen. Seinen Sohn und dessen wenigen Habseligkeiten nicht auffinden.
? Wenige ? Aber auch dann … Häh?

als er sie verlies.
ließ

wie die Insel die ihn Jahrelang
, die ihn jahrelang

Ach so, ich würde Seltsam untaggen, dass er diese Vater-Sache in seinem Kopf in Metaphern packt, das ist schon sehr offensichtlich, wirklich Seltsames passiert hier nicht.

Viele Grüße
JC

 

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