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Heinrich (7): Als Opa verloren ging
»Heinrich?«
Die Deckenlampe blendete mich. Ein dickes Sandkorn drückte gegen das Augenlid und ich kratzte es weg. Es war noch leicht klebrig. Mama nahm die Bettdecke beiseite und hievte mich aus dem Bett, stellte mich auf die Beine.
»Mama, was ist denn?«
»Wir wollen alle Opa suchen und da kannst du nicht hierbleiben«, erklärte sie, zog mir Oberteil aus und das Unterhemd an. Was hatte sie gesagt? Opa suchen?
»Wo ist denn Opa?«
Strumpfhose an, Hose drüber.
»Draußen ist es kühl. Ich zieh dich dicker an. Wenn man aus dem Schlaf geweckt wird, friert man schneller.«
»Wo ist denn Opa?«, wiederholte ich. Mama atmete tief ein, nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände.
»Wir wissen es nicht. Oma hat geschlafen, ist aufgewacht und Opa war weg. Die Haustür stand offen und auch das Gartentor. Seine Kleider sind aber noch da. Er ist wohl …«
»Kommt ihr?!«, rief Papa von draußen.
»Komm, Heinrich. Du kannst bei Onkel Heinz und mir im Auto fahren. Papa und Tante gehen zu Fuß. Oma fährt in einem Polizeiauto und ein Polizist bleibt hier.«
Ich staunte. »Ein Polizist?«
Wir gingen hinaus, die Außentreppe hoch und auf die Straße. Zwei Polizeiautos und vier Polizisten standen vor der Garage. Einer reichte Papa ein kleines Gerät und zwei Taschenlampen. Ich rieb meine Augen und gähnte. Es kribbelte in mir, den Rücken hinab, sogar auf meinem Kopf. Das war selten. Bauchweh meldete sich dumpf und Mama setzte mich auf den Rücksitz von Onkel Heinz' Ford.
»Gehen Sie bitte Richtung Kräheneck! Melden Sie sich von dort!«, sagte ein Polizist zu Papa und Tante. »Wenn Sie mit uns sprechen wollen, drücken Sie auf diese lange schwarze Taste«, erklärte er. »Dann rufen Sie: ‚Baden eins‘ für ‚Baden zwei‘. Sie sind ‚Baden zwei‘. Verstanden?«
»Alles klar«, erwiderte Papa und zog Tante am Ärmel. Sie verschwanden in der Nacht. Mama setzte sich neben mich.
»Es ist jetzt zwei Uhr achtunddreißig«, meinte ein zweiter Polizist. »Wir suchen bis vier Uhr. Dann müssen wir eine Hundestaffel anfordern.«
Er zeigte seinen Kollegen eine Karte. Sie einigten sich über die Straßen und Staffeln, die sie absuchen wollten. Mein Herz klopfte wild. Jeden Schlag spürte ich im Hals. Es tat schon fast weh. Mama nahm mich in den Arm. Opa fiel mir ein. Im Schlafanzug durch die Nacht. Ihm war doch bestimmt kalt. Onkel Heinz stieg ins Auto, der Polizist auf den Beifahrersitz. Er nahm seine Mütze ab und das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in seiner Glatze.
»Fahren Sie bitte im Schritttempo den Gänsebuckel hinunter und dann in die Bekstraße«, forderte er meinen Onkel auf. Wir fuhren los. »Der Fahrer fährt und guckt nur nach vorne, bitte«, dann drehte er den Kopf und sah Mama an. »Sie schauen links aus dem Fenster, ich rechts und vorne.«
»Ist gut«, antwortete Mama. Ihre Stimme zitterte und ich drückte mich an sie.
»Warum ist Opa denn weg, Mama?«
»Ihr Vater ist bei uns schon zwei Mal als abgängig eingetragen«, meinte der Polizist, »aber beide Male kehrte er von allein zurück. In den Unterlagen steht, dass er manchmal verwirrt ist, aber nicht warum. Erklären Sie mir das bitte.«
Mama seufzte.
»Im Krieg, in Norditalien, suchte er Schutz in einem Granattrichter und wurde dort verschüttet. Seine Kameraden gruben ihn aus. Zu lange zu wenig Sauerstoff ist wohl die Ursache für seine Verwirrtheit. Aussetzer hatte er schon immer. Kann nur noch halbtags arbeiten, und das meist daheim …«
Sie begann zu weinen und brachte keinen Ton mehr heraus.
»… in der letzten Zeit nehmen die Aussetzer zu«, setzte mein Onkel fort. »Wir sind schon lange dafür, dass …«
»Heinz!«, fuhr Mama ihn an. Sie schlug ihm auf die Schulter. »Du bist dafür. Mutter und ich aber nicht!« Sie ballte ihre Hand zur Faust. Eine zitternde Faust, an ihrem Arm um meine Brust. Es schmerzte und ich versuchte mich aus der Klammer zu befreien.
»Mama …«
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Polizist ein wenig lauter. »Wir sind unterwegs, um ihn zu finden. Das ist jetzt wichtig! Konzentrieren wir uns.«
Wir schwiegen, Mama ließ mich los, rutschte an ihre Scheibe und starrte hinaus.
»Der verdammte Krieg«, flüsterte der Polizist nach einer Weile.
Onkel Heinz fuhr durch die Bekstraße. Das muss der Krieg sein, von dem Opa immer erzählte. Der, in dem viele böse Menschen waren.
»Wie gut ist ihr Vater zu Fuß?«
»Sehr gut«, sagte Mama. »Wirklich sehr gut.«
»Mist«, erwiderte der Polizist. »Er könnte ja überall sein.«
»Waren Sie im Krieg?«, fragte Onkel Heinz gegen die Windschutzscheibe. Der Polizist starrte weiter hinaus, folgte Zäunen, Einfahrten, Hecken, drehte sich immer wieder nach etwas um.
»Das war ich«, murmelte er. Ich verstand ihn kaum. Aber seine Stimme war nicht mehr dieselbe. Nicht mehr die Stimme eines Polizisten, der uns erklärte, was wir nun tun sollten. »Ich rede nicht darüber, wenn es Ihnen recht ist.«
»Tschuldigung«, gab mein Onkel etwas leiser von sich.
»Fahren Sie jetzt die Emilie-Binder-Straße hinunter und rechts in die Sonnenbergstraße. Am Spielplatz bitte langsam.«
»Mach ich.«
Das langsame Tuckern und die Stimmen schläferten mich zusehends ein und ich legte den Kopf auf Mamas Schoß. Opas Stimme tauchte in meinem Kopf auf, sein Gesicht. Er saß vor seinem Arbeitsbrett und feilte an Münzen, gab mir sein Werkzeug. Ich bin ein guter Goldschmied, erklärte er stolz und ich fragte mich, ob ich das auch werden könnte. Dann schlief ich ein.
Krächzen, ein lautes Knacken und dann rauschte es. Stimmen wie aus einer anderen Welt. Ein Zittern überraschte mich und ich spürte die Kälte. Mamas Hand lag auf mir und fühlte mein Zittern ebenfalls.
»Heinz, hast du eine Decke hier?«
»Im Kofferraum.«
Das muss die Stimme meines Onkels gewesen sein. Wo war ich? Eine Tür öffnete sich und kühle Luft wehte herein. Dann ein lautes Knacken.
»Baden eins für Baden-Zentrale. Bitte wiederholen Sie das.«
Die krächzende Stimme kehrte zurück.
»Unbekannte Person auf der Brötzinger Eisenbahnbrücke entdeckt. Hat ein Busfahrer der Stadtwerke gemeldet. Baden zehn kontrolliert.«
»Baden eins hier. Verstanden.«
»Vielleicht ist er das«, hörte ich Mama sagen. Dann fiel die Autotür zu und eine dunkelrote Decke wurde über mir ausgebreitet. Ich kuschelte mich hinein und spürte Mamas Hände auf meinem Kopf.
»Vielleicht.« Ich erkannte die Stimme des Polizisten. Langsam kehrte die Welt zurück. Opa war aufgestanden und abgehauen. Im Schlafanzug in die Nacht. Jetzt spürte ich Angst. Mein Opa. Ich mochte ihn sehr. Aber ich wusste auch, dass noch ein Krieg in seinem Kopf war, denn davon erzählte er und meist weinte er dann.
»Wo fahren wir hin?«, fragte Onkel Heinz.
Der Polizist atmete hörbar ein und aus. »Wir sind bis zur Büchenbronner Straße alles abgefahren und über die Hercyniastraße zurück …«
Er schwieg und Onkel Heinz startete den Motor. »Ich weiß ja nicht …«, meinte der Polizist, »aber ich glaube, er ist durch den Tunnel gelaufen. Ich könnte wetten.«
»Durch den Tunnel?«, wunderte sich Mama. »Warum denn das?«
»Wenn es so ist, wie Sie sagen, verwirrt und das seit dem Krieg, dann ist es gut möglich, dass er das tut, was im Krieg notwendig war, nämlich Schutz suchen. Und was bietet besseren Schutz als ein Tunnel?«
»Mann, so ein Kerl!«, platzte es aus Onkel Heinz heraus. Es krächzte und die Stimme rief uns.
»Ja, Baden eins hört.«
»Etwa sechzigjähriger Mann mit weißen Haaren im blauen Schlafanzug auf der Brötzinger Brücke. Kollegen sind schon da. Anfahrt über den Hanfackerweg. Krankenwagen ist unterwegs und der Frühzug wird zurückgehalten.«
»Gott sei Dank fährt da nachts kein Zug«, sagte Mama mit versiegender Stimme und begann zu weinen.
»Zum Hanfackerweg, bitte«, forderte der Polizist Onkel Heinz auf.
Ich staunte über den langsam heller werdenden Himmel, die erwachende Stadt, Menschen in den Bussen und Autos. Kurz bevor wir den Bahnübergang erreichten, drehte sich der Polizist zu uns.
»Bitte steigen Sie aus, wenn Sie möchten, aber warten Sie am Auto. Laufen Sie nicht auf das Gleis oder am Damm zur Brücke. Überlassen Sie das den Kollegen.«
Er sah mich an und grinste ein wenig. Onkel Heinz bog in den Hanfackerweg und parkte vor dem Bahnübergang. Ein Krankenwagen stand auf der anderen Seite und ein Polizeiauto links von uns. Die blauen Lichter malten seltsame Schatten auf die Häuser. Es kitzelte wieder.
»Mama, ich muss mal.«
Sie sah mich an und nickte. Onkel Heinz stieg aus und Mama nahm meine Hand. Wir stellten uns an eine Hecke und ich pinkelte. Dabei sah ich nach links, unter den Bäumen durch. Auf der Brücke standen Männer und da sah ich Opa. Er steckte in einer großen Decke und sie redeten offenbar auf ihn ein. Das Rauschen des Flusses schluckte alle Geräusche.
»Fertig?«
»Ja, Mama.«
»Dann komm schnell. Es ist kalt.«
Wir gingen zurück zu Onkel Heinz' Auto und stiegen ein. Zwei Polizisten und zwei andere Männer in grauer Uniform brachten Opa über die Gleise zum Bahnübergang. Er schaute nur auf den Boden, legte sich freiwillig auf die Bahre, die vor dem Krankenwagen stand, dann schoben sie ihn hinein.
»Wo geht Opa denn jetzt hin? Geht er nicht mit uns nach Hause?«
Es war so still im Auto. Ich drehte mich zu Mama und sah, wie das blaue Licht ihre Sommersprossen rhythmisch abdunkelte. Dann entdeckte ich ihre ebenso blauen Tränen und dachte an ein Bild in meinem Weltraum-Buch, voller großer Sterne in schwarzer Welt.
»Mama?«
Sie schüttelte nur den Kopf und schloss die Augen.
»Sag nichts, Heinrich. Komm her.«
Ich drückte mich an sie und horchte auf das Pochen in ihrer Brust.
»Morgen holen wir Opa«, sagte Mama freudig und strahlte mich an. Mit der Hand verstrubbelte sie meine Haare. Onkel Heinz hatte mir nach dieser abenteuerlichen Nacht erklärt, dass Opa jetzt vollkommen verrückt geworden sei und nun in der Klapse säße; wer weiß für wie lange. Und vielleicht käme er nie wieder, was ich abends Mama erzählte und sie seufzend als Blödsinn abtat. Natürlich kommt Opa wieder, beruhigte sie mich. Er sei eben ein wenig krank vom Krieg und die Ärzte werden ihn ein paar Tage beobachten, aber das würde schon in Ordnung kommen. Ich war beruhigt. Ein Haus ohne Opa? Unvorstellbar.
»Ist er wieder gesund?«
»Ja, Heinrich, gesund ist er natürlich nicht, denn wenn das Gehirn ein Weilchen ohne Sauerstoff ist, dann bleiben Schäden. Aber er ist jetzt wieder ganz bei sich.«
Ein Weilchen ohne Sauerstoff …
»Wie lange ist denn ein Weilchen, Mama?«
Sie dachte nach.
»Die Grenze ist um die zwei Minuten, habe ich mal gelesen.«
Zwei Minuten hörte sich sehr wenig an. Und die Suche nach Opa dauerte viele Stunden. Und dann all die Tage im Krankenhaus …
»Mama? Ist es nicht besser, wenn wir das Gartentor abschließen und Opa den Schlüssel wegnehmen? Wenn er dann wieder abhauen will, muss er im Garten bleiben, oder?«
Sie hob die Augenbrauen, starrte mich an und begann laut zu lachen. Hörte gar nicht mehr auf, setzte sich auf den Küchenstuhl und zog mich an sich. Dieses Mal hatte sie Tränen in den Augen vom Lachen, und das war nicht schlimm.
Wir fuhren das Nagoldtal entlang und ich fand es wunderschön. Ab und zu starrte ich durch die Seitenscheibe auf den vorbeiziehenden Straßenrand, folgte der weißen Linie, die sich mal näherte und dann wieder entfernte. Wie ein Zug auf den Schienen, dachte ich. In Bad Liebenzell hielten wir am Kiosk vor dem Kurpark und Mama kaufte drei Eis. Im Auto wird kein Eis geschleckt, sagte Onkel Heinz. Mama und ich lehnten an der Kioskwand und Onkel an seinem weißen Ford. Er sah aus wie einer dieser großen Jungs, denen ich ungern begegnete. Das Knie angewinkelt und einen Fuß auf den Reifen gestellt.
»Mama? Onkel Heinz ist aber älter als du, oder?«
Sie sieht mich an.
»Ja. Zehn Jahre.«
Ich biss ein großes Stück ab und schob es im Mund hin und her. Das war aber wirklich kalt …
»Na? Kalt, was?« Mama grinste. »Nicht so große Stücke auf einmal. Manchmal bekommt man Kopfweh davon.«
Ich nickte und atmete mit leicht geöffneten Lippen durch den Mund ein.
»Warum fragst du, wie alt Heinz ist?«
»Er hat keine Kinder, aber du hast schon mich. Das ist komisch.«
»Na ja«, setzte sie an und schleckte die letzten Reste vom Holzstiel, »Kinder bekommen ist nicht immer so einfach, wie man denkt. Manchmal dauert es sehr lange, ein anderes Mal geht es fast über Nacht.« Sie lachte. »So wie bei dir.«
Das verstand ich nicht so ganz, aber ich war zufrieden, das Eis leer und Onkel Heinz stieg ins Auto.
»Komm, Opa wartet.«
Das Krankenhaus lag mitten im Wald, auf einem Berg über Hirsau. Der Ford musste ziemlich arbeiten, um dort hochzukommen. Onkel Heinz schaltete immer wieder und der Motor hörte sich wie Omas Küchenmaschine an, wenn sie Karotten raspelte.
»Wenn die Karre jetzt verreckt, zahlt er mir eine neue«, maulte mein Onkel. »Er hätte auch mit dem Taxi fahren können.«
Mama schwieg und guckte seitlich aus dem Fenster. Ich dachte an Opa und seinen Krieg. Manchmal träumte ich von dem, was er mir erzählte. Ob ich auch mal in den Krieg musste? Niemals würde ich das tun, nahm ich mir vor. Auf keinen Fall. So viele tote Menschen. Für was sollte das gut sein? Opa ist dadurch krank geworden. Also war Krieg zu nichts zu gebrauchen. Und doch dachte ich daran, dass ich mich gerne gruselte und immer interessiert zuhörte. Es war so spannend wie Raumschiff Enterprise. Etwas war wohl nicht in Ordnung mit mir …
Onkel Heinz fuhr durch eine Schranke und parkte unter einem Baum, den er Linde nannte. Die versaut mir den Lack, stellte er fest und wir stiegen aus. Ich entdeckte Opa unter einem großen Vordach, einen Koffer neben sich. Er winkte uns zu.
»Opa!«, rief ich und rannte quer über den Parkplatz zu ihm hinüber, prallte ungebremst gegen ihn und wurde hochgehoben. »Vorsicht, kleiner Mann«, grinste er mich an. Er war unrasiert. Seine Augen strahlten. Von hinten kamen Mamas Arme und umarmten uns beide.
»Tag«, sagte Onkel Heinz und nahm den Koffer. »Gehen wir? Ich will noch den Rasen mähen.«
Endlich gingen wir wieder spazieren. Über den Wasserleitungsweg in den Schwarzwald hinein, vorbei an der Baumwüste, die der Tornado hinterlassen hatte. Ich erzählte Opa von der Schule an diesem Vormittag und dachte dabei nur an meine Frage, die ich mich nicht zu stellen traute. Ob in Opas Kopf wieder alles in Ordnung sei. Als wir die Baumwüste hinter uns ließen und in den Schatten der hohen Tannen eintauchten, uns die Kühle umgarnte, wir auf keine der Ameisenstraßen treten wollten, ich Opas große, warme Hand hielt und zu ihm aufschaute, meinte ich in einer anderen Welt zu sein.
»Weißt du, Heinrich, das in meinem Kopf …«, begann er, um doch wieder kurz innezuhalten, tief Luft zu holen, »das in meinem Kopf ist wie ein Schatten, wie die kühlen Schatten der Tannen hier.« Seine freie Hand beschrieb einen Kreis. »Ich spüre ihn kommen und dann ist alles Nebel. Ich höre die Stimmen von damals, Explosionen und das ganze Geschrei und kann mich dazwischen verlaufen. Als würdest du in ein Zimmer nebenan gehen, das nur manchmal existiert. Weißt du, wie ich meine?«
Ein Zimmer neben meinem, das nicht immer da ist?
»Nein, Opa. Aber kannst du nicht die Augen offen lassen und Mama und mich angucken, wenn der Nebel kommt? Du siehst uns. Dann kann doch nichts passieren, oder?«
»Niemand will das hören, Heinrich. Niemand will wissen, was ich zu erzählen habe. Als wäre es nur in unseren Köpfen passiert.«
»So wie ein Traum?«
Er sah mich an und rieb sein unrasiertes Kinn. Ein Vogel keckerte laut und eindringlich.
»Ein Eichelhäher, der Alarmvogel im Wald«, stellte ich fest. »Mama hat mir das gesagt.« Ich wusste nicht, ob Opa den Eichelhäher überhaupt gehört hatte.
»Du bist wirklich der Einzige, der mir zuhört«, sagte er fast abwesend. Diese brüchige Stimme erkannte ich und mir wurde mulmig im Bauch. So weit von daheim weg. Die Kurve nach Neuenbürg hatten wir schon passiert. Wenn nun wieder etwas mit Opa war? Was sollte ich dann tun? Der Abzweig nach Waldrennach kam in Sicht und er zog mich in die kleine Schutzhütte. Wir setzten uns auf die Rundbank. Am Türpfosten allerlei eingeschlagene Wegmarken. Farben und Zeichen für die Wanderer, hatte Opa einmal erklärt. So fänden sie sich im Schwarzwald immer zurecht. Aus meinem kleinen Rucksack nahm ich einen Apfel, biss zwei Mal hinein und reichte ihn weiter, aber er lehnte ab und sich an die Holzwand, die voller Spinnweben war.
»Der Doktor hat nur gesagt ‚Sie müssen das vergessen‘ und mir Tabletten gegeben. ‚Es sei ja auch viel Gutes passiert‘ meinte er allen Ernstes.«
»Was denn?«, fragte ich neugierig.
Opa lachte. Es klang wie ein Hustenanfall.
»Das habe ich mich auch gefragt. Offenbar war er nicht im Krieg. Oder irgendwo, wo es besonders schön war.«
Wo es besonders schön war … aber Opa sagte, Krieg sei nicht schön. Wo sollte das also sein?
»Opa? Darf ich dich was fragen?«
Er klopfte auf meine Schulter und ich drehte den Apfel hin und her.
»Du hast gesagt, im Krieg sind die Menschen böse …« Ich sah ihn an und er nickte. »Dann sind sie vorher nicht böse? Und ich verstehe nicht, wie die Menschen dann nach dem Krieg auf einmal wieder gut sind? Oder bleiben sie böse?«
Opa starrte mich für einen Moment an, als wäre ich ein Geist. Dann wanderte sein Blick von mir weg, auf etwas, das ich nicht sehen konnte. Ich ließ den Apfel fallen. Er schmeckte nicht. Dann rutschte ich an Opa heran und legte meinen Arm um ihn, so gut es ging. Eine große rote Waldameise entdeckte den Apfel.