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Gezeichnet
Ihre Absätze klapperten über den geölten Holzfußboden, als sie zum Lehrerpult ging. Seit Fräulein Meyer Deutsch und Zeichnen in unserer Klasse gab, machte der Unterricht irgendwie viel mehr Spaß.
„Guten Morgen! Setzt euch!“
Unsere Stühle scharrten. Peter, der neben mir saß, stieß mich in die Seite und wir mussten grinsen. Wir hatten die ganze Zeit auf ihren Vorbau geguckt. Und auf den Minirock. Sie war schon ein steiler Zahn.
Ich schaute zum Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, der, seit ich zur Schule ging, an der Wand neben uns hing. Klar, der hatte auch nichts Besseres zu tun, als der Meyern lüstern auf die Bluse zu starren.
„So, ich gebe euch jetzt die Hausaufgaben zurück. Dann werden wir uns mit Aquarellmalerei beschäftigen.“ Sie ging zu jedem von uns hin und überreichte das Blatt. Ich war als Letzter an der Reihe. Aber ich blieb ganz ruhig. Jeder in der Klasse wusste, dass meine große Schwester Tini meine Hausaufgaben machte, sie schrieb Aufsätze, sie malte Bilder für mich und beides konnte sie richtig gut. Sie sagte immer, das mache sie gerne, sie habe kein Problem damit. Ich auch nicht.
„Rolf Schuhmann!“ Die Meyer hielt die Zeichnung zwischen Daumen und Zeigefinger und verzog das Gesicht. „Hast du das selbst gezeichnet?“
„Klaro“, sagte ich und nickte, dabei schaute ich wie gefesselt auf ihre spitzen Brüste. Wenn die Meyer wüsste, dass Tini hinter dem Bild steckte, dann würde sie mich mit ihren Dingern erstechen. Oder ich müsste einen Diskussionsbeitrag zum Thema Fleiß und Ehrlichkeit ausarbeiten. Das könnte eigentlich wieder Tini für mich erledigen. Obwohl, die hatte ja kaum noch Zeit für mich. Die war gerade total verknallt. In so ’nen langhaarigen Macker, Christoph hieß er. Puh, hatte der eine Matte, der traute sich was. Wenn meine Haare mal ein paar Millimeter auf die Ohren stießen, jagte mich Papa gleich zum Frisör. „Abflug Freundchen! Von wegen wie ein Beatle aussehen.“ Damit traf er mich an meiner empfindlichsten Stelle, an meiner Eitelkeit.
„Steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede!“
Als ich mich vom Stuhl löste, waren meine Ohren heiß und sicher feuerrot. Und keine Haare drüber. Nur wegen Papa.
„Hier“, sagte sie. „Eine Drei.“
War nicht zu übersehen. Sie hatte die Zensur mit rotem Kugelschreiber direkt neben einer Locke von Christoph geschmiert. Sie hatte das Kunstwerk meiner Schwester übelst zugerichtet. Doch ich sagte kein Wort.
„Kannst du dir denken, warum?“
„Nein“, krächzte ich.
„Was du da abgeliefert hast, ist Schund, das Abbild eines asozialen Subjektes. Wie willst du dich so jemals zu einer sozialistischen Persönlichkeit entwickeln, hm?"
Was sollte ich antworten, wenn ich die Frage schon nicht verstand. Ich zuckte mit den Schultern und meine Ohren wurden noch heißer.
„Dann merke dir, Rolf Schuhmann, ein für alle Mal: Wir dulden keine Verherrlichung des Drecks, der aus dem Westen kommt. Für die Ideologie des Klassenfeindes ist bei uns kein Platz. Sie verdirbt unsere Moral.“
Papa sagte auch oft so komische Sachen. Erst neulich, als er die Büchse Thunfisch öffnete, die Oma Sarah aus dem Westen mitgebracht hatte: „Erst kommt das Fressen und dann die Moral.“ Dabei hat er Mama so lustig zugezwinkert. „Das hat sich bis in die südlichen Bezirke des Arbeiter-und Bauern-Staates herumgesprochen, gell Schatz?“ Was der blöde Westfisch mit Tinis Zeichnung von Christoph zu tun haben sollte, begriff ich nicht. Eine Tafel Vollmilch-Nuss wäre mir sowieso zehnmal lieber gewesen.
Anne meldete sich als Erste. Sie schnippte ungeduldig mit den Fingern. Als Gruppenratsvorsitzende hatte ihre Meinung großes Gewicht.
„Fräulein Meyer, ich finde die Drei nicht gerecht. Die Zeichnung von Rolf ist viel schöner als meine und mir haben Sie eine Eins gegeben.“
„Ja, das finde ich auch“, warf Frank ein, der voll auf Anne stand und selten etwas sagte. Und wenn, dann bekam er genauso eine rote Birne wie ich.
Dann sprang Petra auf und rief: “Wir sollten die Bilder an die Wandzeitung heften. Alle könnten sie sehen.“
Katharina und Christa riefen wie aus einem Mund: „Das ist eine gute Idee.“
Als hätten sie sich vorher abgesprochen.
Peter feixte. „Cool, jetzt flippen die Weiber total aus.“
Plötzlich war ein urster Krach in der Klasse, weil alle durcheinander redeten. Und das alles für mich.
„Ruhe!“, rief unsere Lehrerin völlig außer sich.
Robert, der echt was auf der Kirsche hatte, stand auf und es wurde ganz still im Raum. „Fräulein Meyer, ich möchte sie gerne etwas fragen.“ Er tat so, als müsse er nach Worten suchen und rückte seine Brille zurecht. „Wir hatten die Aufgabe, ein Portrait zu zeichnen. Sie haben es uns überlassen, wen wir abbilden möchten. Hat Rolf diese Aufgabe erfüllt?“
„Darum geht es nicht“, erwiderte sie.
„Nur darum. Sie sprechen von Dreck, der aus dem Westen kommt. Der einzige Dreck, den ich auf dem Papier sehen kann, ist die Kohle, mit der gezeichnet wurde. Stammt die nicht aus unserer sozialistischen Heimat?“
Fräulein Meyer schielte zu dem Foto an der Wand. Doch der alte Mann wirkte müde und erstarrt. Er schien nicht die Absicht zu haben, ihr helfen zu wollen und glotzte weiter in ihren Ausschnitt.
„Wir beruhigen uns alle erst mal wieder", sagte sie. „Schreibt euch hinter die Ohren, dass wir im Klassenverband nicht gemeinsam über Zensuren abstimmen. Die Benotung ist meine Aufgabe.“ Danach strich sie ihren Rock glatt und stöhnte. „Ich lass es mir noch mal durch den Kopf gehen.“
Kugelschreiber, südliche, Thunfisch, Eitelkeit, lüstern