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Fina und ich
Es war heiß in jenem Sommer, in dem meine Mutter mit Fina und mir aus der Stadt aufs Land zog. Ganze Tage streunten wir in der neuen Umgebung umher, während meine Mutter alles, was sie zu geben hatte, in die Renovierung unseres neuen Hauses steckte. Tagsüber bestrich sie Wände mit heller Lehmfarbe und ihrer Trauer. Nachts hörte ich die frisch geschliffenen Dielen ächzen und es schien mir ein dunkles Wimmern darin zu sein, ein schweres Atmen. Ich wusste, das war die Trauer meiner Mutter; das Haus atmete sie raus in die Nacht. Die Trauer umgab meine Mutter so dicht, dass niemand hindurch kam. Aber ich hatte Fina.
Das neue Haus mochte ich sehr. Ich mochte, wie es die Trauer meiner Mutter in sich aufnahm, wie es uns alle tröstete. Trotzdem wollte ich nicht allein in meinem Zimmer sein, hatte meine Matratze zu Fina geschafft und schlief jede Nacht bei ihr. Ich redete nicht viel in dieser Zeit. Eigentlich nur mit Fina. Fina dagegen redete mit allen, mit dem Bäcker im nächsten Dorf, mit unseren Großeltern, wenn sie uns besuchten, mit den Kindern, auf die wir hier und da trafen. Und wenn niemand zum Reden da war, dann sang sie. Sie sang viel in diesem Sommer.
Als wir eines Tages vom Dorf zurück nach Hause gingen, sagte sie: „Erik hat erzählt, dass es nicht weit von uns ein Spukschloss gibt. Er sagt, die Hintertür ist offen und man kommt einfach so rein, und dass noch alle Möbel drinstehen und überall liegt meterhoch der Staub. Das gucken wir beide uns an, Levi. Gleich morgen.“
„Ich glaub nicht, dass ich das will, Fina“, sagte ich. „Ich hab Angst, wenn‘s spukt.“
„Ach, spuken gibt’s doch gar nicht, Dummkopf. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin doch dabei.“
In dieser Nacht konnte mich auch das Atmen des Hauses nicht beruhigen. Als ich einschlief, träumte ich von meinem Vater und dass er in dem Spukschloss wohnte. Am nächsten Morgen weckte mich Musik, die aus der Küche heraufdrang. Fina war die Einzige, die Musik hörte in jenen Tagen. Sie fürchtete die Stille, die meine Mutter umgab und das Haus vollkommen auszufüllen schien. Doch es war egal, wie laut Fina das Radio drehte, gegen diese Stille kam nichts und niemand an. Meine Mutter machte uns Frühstück. Und während Fina und ich unser Müsli aßen, stand sie an die Spüle gelehnt und schaute aus dem Fenster, wie jeden Morgen seit wir hier eingezogen waren.
Nach dem Frühstück machten wir uns gleich auf den Weg. Ich war nie ohne Fina in dieser Zeit, nur darum ging ich mit, um bei ihr zu sein. Wir gingen über die Streuobstwiese hinter unserem Haus. Die Luft war schon warm und ließ die kommende Hitze des Tages erahnen. Und während wir gingen und Fina sang, umklammerte die Angst mit festem Griff meinen Rücken. Wie einen zu schweren Rucksack trug ich sie zum Schloss, das ein altes, kleines Gutshaus war. Ein mit Feldsteinen gepflasterter Weg lief auf das Haus zu, dessen Mauerwerk aus Backsteinen bestand und von dunklen Holzbalken durchzogen war. Rechts und links des Weges standen Gräser hüfthoch, dazwischen Goldgarbe, die hier überall wuchs, und mich an Sonnen in einem grünen Himmel denken ließ. Wir folgten einem Pfad, auf dem das Gras heruntergetreten war und standen schließlich vor dem Hintereingang.
„Lass uns reingehen!“, sagte Fina und drückte die Klinke hinunter. Die Tür gab bereitwillig den Weg in einen Flur frei, auf dessen dunklem Holzfußboden ein alter, ausgeblichener Läufer lag. Die fünf Türen, die vom Flur abgingen, waren alle geschlossen, sodass einzig das Licht, das durch die Hintertür fiel, den Flur ein wenig erhellte. Ein muffiger Geruch nach abgestandener Luft und altem Holz strömte mir in die Nase. Fina stand für einen Moment bewegungslos da und ich hoffte schon, dass sie es sich anders überlegt hatte, da ging sie rein. Natürlich folgte ich ihr. Die Holzdielen knarzten, als wir den Flur betraten; mir schien es eine Warnung zu sein, aber Fina ließ sich nicht beirren. Zwei der Türen führten in Kammern ohne Fenster, in denen Regale mit verstaubten Einmachgläsern standen. Hinter der dritten Tür fanden wir zwei Betten, die jeweils an der Wand rechts und links der Tür standen. Zu jedem gehörte eine vergilbte Matratze, ein Nachttisch sowie ein Holzschrank. Auf einer der Matratzen lag ordentlich zusammengerollt ein Schlafsack. Dann gab es noch eine Küche, in deren Mitte ein Holztisch mit vier Stühlen stand. Auf dem Tisch stand ein Einmachglas aus einer der Kammern, bis zum Rand gefüllt mit Zigarettenkippen. Vor einem alten Herd lagen Holzscheite, der Holzboden vor der Feuerluke war schwarz und angekokelt. Es roch nach kaltem Feuer und abgestandenem Zigarettendunst; außerdem verbarg sich etwas Dunkles und Unheilvolles in dieser Küche.
„Fina, ich hab Angst“, sagte ich.
„Komm einfach, Levi!“ Fina nahm meine Hand und ging auf die letzte geschlossene Tür zu. Sie führte auf eine große Diele. Der Boden bestand hier nicht aus den langen, dunklen Holzbrettern wie im Flur, sondern glänzte bernsteinfarben und war in quadratischen Mustern angeordnet. Durch Fenster, die fast bis zur Decke reichten, fiel die Morgensonne in den Raum, die auch das Buntglas der zweiflügeligen Eingangstür zum Leuchten brachte. Im Unterschied zu den Räumen zuvor war die Diele komplett leer. „Wow!“, sagte Fina. Ich entspannte ein wenig, weil der Raum so friedlich wirkte. Es war hier wärmer, auch die Luft war besser. Ein sanfter Luftzug strich über meinen Hals und ich fröstelte.
„Fina“, sagte ich, „wir sollten nicht hier sein. Lass uns gehen.“
„Ach was!“, antwortete sie und schlug ein Rad.
„Du kannst helfen!“, hörte ich eine Stimme sagen. Sie klang rau und heiser, als hätte sie lange nicht gesprochen. Ich blickte mich um, Fina schlug noch ein Rad.
Die Stimme wiederholte und war jetzt ganz nah: „Du kannst helfen!“
„Fina, komm!“, rief ich und lief so schnell ich konnte durch die Diele und den dunklen Flur, um das Haus herum, quer durchs hüfthohe Gras, über den Feldsteinweg, an den Feldern vorbei, über die Streuobstwiese hinter unserem Haus zurück in Finas Zimmer. Dort versteckte ich mich in ihrem Bett, unter ihrer Decke. Fina kam kurze Zeit später. Ich zitterte und sagte: „Hast du denn die Stimme nicht gehört, Fina? Du hast ein Rad geschlagen. Aber es war niemand sonst da. Nur die Stimme."
Fina hatte keine Stimme gehört.
"Levi hört Stimmen!" kicherte sie. Aber ich konnte nicht darüber lachen und auch nicht aufhören zu zittern. Schließlich setzte sie sich neben mich, hielt mich im Arm und flüsterte: "Alles in Ordnung, Levi. Alles in Ordnung."
Eine Kühle hatte sich dort in der Diele auf meine Haut gelegt. Sie war nicht unangenehm in der Hitze des Sommers, aber verstörend und angsteinflößend. Ich sagte Fina nichts von der Kühle, ich wollte nicht, dass sie sich sorgte. Meine Mutter bestrich irgendwo eine Wand mit ihrer Trauer. Wenigstens ich musste normal bleiben. Den Rest des Tages blieben wir zu Hause. Wir lagen auf einer Decke im Schatten eines alten Apfelbaumes. Fina las mir aus einem ihrer Bücher vor, aber ich hörte nicht richtig zu. Ich schaute in das Blätterdach des Apfelbaumes, das nur an wenigen Stellen die Sonne hindurchließ, versuchte die Kühle auf meiner Haut zu ignorieren, aber sie war da, lenkte mich ab. In dieser Nacht schlief ich bei Fina im Bett.
„Du bist so schön kalt“, sagte sie, bevor sie einschlief.
In der Nacht träumte ich vom Spukschloss. Ein Vater, nicht meiner, wohnte darin mit seiner Tochter, die aussah wie Fina, und einem Sohn, der aussah wie ich. Der Sohn war stumm. Doch als er vor einem Spiegel stand, war sein Spiegelbild ich. Und mit heiserer Stimme sagte er zu mir: „Du kannst helfen!“ Ich schreckte hoch und schwitzte, trotz der kühlen Nachtluft, die durch das Fenster hineindrang, trotz der Kühle, die seit dem Spukschloss auf meiner Haut lag. Lange lag ich wach, lauschte Finas Atem und dem dunklen Atem des Hauses.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war die Sonne schon so weit gewandert, dass sie in Finas Zimmer schien. Die Kühle auf meiner Haut war noch da. Fina war schon aufgestanden, doch es drang keine Musik aus der Küche herauf. Als ich nach unten ging, kam meine Mutter in ihrem Maleroverall aus einem der Zimmer. Sie machte mir Frühstück und stand an der Spüle, während ich mein Müsli aß und an den Jungen aus meinem Traum dachte. Ich war froh, dass sie bei mir in der Küche war. Ihre Stille bekümmerte mich nicht, nur die Trauer, die sie umgab.
Nach dem Frühstück ging ich in mein Zimmer und nahm die Wiesenfibel heraus, die ich von meinen Großeltern geschenkt bekommen hatte, und zwischen deren Seiten ich gepresste Blätter und Blüten von der Wiese hinter unserem Haus aufbewahrte. Ich blätterte zur Echten Kamille und nahm vorsichtig die gepresste Blüte heraus. In meiner Wiesenfibel stand, dass sie eine Heilpflanze ist. Ob sie auch die Kühle heilen konnte? Ich ging ins Bad, um mir die Zähne zu putzen, sah in den Spiegel und mein Spiegelbild sagte: „Du kannst helfen!“ Ich ließ die Zahnbürste fallen, rannte in Finas Zimmer und verkroch mich unter ihrer Decke wie am Tag zuvor. Zunächst hielt ich die Augen geschlossen, dann traute ich mich, Finas Bettdecke zu betrachten. Es waren viele kleine Pferde darauf, die meisten waren braun, manche schwarz und auch ein paar Schimmel waren dabei, die ich sanft streichelte. Dann stand ich auf, ging mit einer Schüssel in den Garten und pflückte Kamillenblüten. Ich ließ warmes Wasser in die Badewanne laufen, zerrieb die Blüten zwischen meinen Händen und ließ sie ins Wasser fallen. In der Wanne liegend atmete ich den Duft der Kamille tief ein, bevor ich so lange untertauchte, wie ich konnte. Das wiederholte ich einige Male: Einatmen, untertauchen, auftauchen, einatmen, untertauchen, auftauchen ... , bis Fina plötzlich neben der Wanne stand.
„Badewanne? Bei dieser Hitze?“, fragte sie.
Ich fing an zu weinen und erzählte ihr von der Kühle, die sich im Spukschloss auf meine Haut gelegt hatte.
„Zeig mal her!“
„Komisch!“, sagte sie und kaute auf ihrer Unterlippe. „Komm raus, wir fragen Erik, vielleicht weiß der irgendwas.“
Weinend zog ich den Stöpsel, weinend stieg ich aus der Wanne und weinend zog ich mich an.
„Jetzt hör auf!“, sagte Fina schließlich, aber den ganzen Weg ins Dorf, wo wir zum Bolzplatz wollten, hielt sie meine Hand. Auf der kleinen Mauer vor der Bäckerei saß ein Mann mit langem schwarzem Haar, das in der Sonne glänzte. Ich hatte ihn schon öfters auf dieser Mauer sitzen sehen, immer allein, immer schweigsam. Doch heute, als wir an ihm vorbeigingen, sagte er: „Hilf, wenn du helfen kannst!“
Danach rannten Fina und ich den restlichen Weg zum Bolzplatz, wo Erik im Schatten der Bäume mit anderen Kindern Fußball spielte.
„Hallo Fina, wollt ihr mitspielen?“, fragte er, als er uns sah, aber Fina schüttelte den Kopf.
„Komm mal her“, sagte sie. Erik kam auf uns zu, sein schweißnasses blondes Haar klatschte ihm am Kopf fest.
„Sag mal, was weißt du über das Spukschloss?“, fragte Fina. „Was für ein Spuk soll es denn dort geben? Wird man da verflucht oder was?“
„Wieso wollt ihr’n das wissen?“
„Wir waren ja letztens da und Levi hat eine Stimme gehört. „Du kannst helfen!“ hat die gesagt und jetzt ist er immerzu ganz kalt, wird gar nicht mehr richtig warm. Hier, fühl mal!“ Fina nahm Eriks Hand und legte sie auf meinen Unterarm, wo Erik sie schnell wieder wegzog. Ich wischte mir mit dem Handrücken Rotz von der Nase, weil ich nach dem Ereignis beim Bäcker wieder angefangen hatte zu weinen.
„Und? Weißt du, was das ist? Wie kriegt er denn das wieder weg?“
„Keine Ahnung! Aber ihr könnt ja mal den irren Lothar fragen, der schläft da manchmal, hat so lange, schwarze Haare, habt ihr bestimmt schon mal gesehen, der sitzt öfter mal vorm Bäcker, vielleicht weiß der was.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich hab Angst vor dem.“
„Jetzt sei kein Baby, Levi!“, sagte Fina. „Du kannst nicht immerzu weglaufen, wenn du Angst hast, du willst doch, dass das wieder weggeht, oder?“
Also gingen wir zurück zum Bäcker, wobei Fina meine Hand nahm und mich hinter sich herzog: „Nun komm schon, lass dich nicht so ziehen, du bist schwer!“
Lothar saß nicht mehr vor der Bäckerei und Fina wollte noch mal zum Spukschloss gehen, weil er vielleicht dort sein würde. Da ließ ich ihre Hand los und lief nach Hause.
Ich hörte sie noch rufen: „Dann geh ich eben allein!“
Zu Hause angekommen, verkroch mich erneut unter Finas Bettdecke. Ich wollte die Kühle nicht und den Umzug nicht und, dass mein Vater tot war, nicht und helfen, wollte ich auch nicht. „Sei kein Baby, Levi!“, hatte Fina gesagt. Aber wie ging das? Wie war man mutig? Wieder betrachtete ich die Pferde auf Finas Decke, die braunen, die schwarzen und die weißen. Ich begann sie zu zählen und zählte sie alle. Dann stand ich auf, ging ins Bad und stellte mich vor den Spiegel, während mein Herz galoppierte wie die Pferde auf Finas Decke. Ich konnte ihn sehen, den Jungen, der aussah wie ich, auch wenn ich nur mich selbst sah. Aber er sagte nichts und so ging ich wieder, legte mich mit meiner Wiesenfibel unter einen Apfelbaum, war aber zu abgelenkt und sah einfach nur zu, wie der Wind sanft über die Gräser und Blumen der Wiese strich.
„Der irre Lothar war nicht da“, sagte Fina, als sie vom Spukschloss kam. „Wir müssen noch mal wann anders hin.“
„Und was, wenn die Stimme wieder da ist?“
„Dann fragst du, wie du helfen kannst.“
„Das hab ich ja schon versucht. Ich hab ihn vorhin im Spiegel gesehen, aber er hat nichts gesagt.“
„Wen hast du im Spiegel gesehen?“
„Na, den Jungen.“
„Welchen Jungen denn?“
„Den Jungen, der im Spukschloss wohnt mit seiner Schwester und seinem Vater. Der Junge, der mir gesagt hat, dass ich helfen soll.“
„Woher weißt du denn das alles mit dem Jungen und dem Vater und so? Ich denke, du hast nur eine Stimme gehört? Levi, jetzt rück mal langsam raus mit der Sprache, was ist alles passiert? Was weißt du denn nun?“
Da erzählte ich ihr alles, was passiert war.
„In der Nacht, nachdem wir im Schloss waren, hab ich geträumt, dass im Schloss ein Junge wohnt, mit seiner Schwester und seinem Vater. Und als er in den Spiegel geguckt hat, hat er mir gesagt, dass ich helfen kann, und da wusste ich natürlich, dass es der gleiche Junge ist, und heute Morgen dann, als du nicht da warst, da hab ich Zähne geputzt und auch in den Spiegel geguckt und da hat er mir wieder gesagt, dass ich helfen kann und …“, an dieser Stelle fing ich an zu weinen, fuhr aber fort: „… und da bin ich weggerannt und dann hab ich aber vorhin, als du beim Schloss warst, noch mal in den Spiegel geguckt und da hab ich ihn gesehen, aber er hat nichts gesagt, war einfach nur stumm …“
„Hast du denn vorhin gefragt, wie du helfen kannst?“
Ich wusste nur, wie man Angst hatte, nicht, wie man mutig war, aber das sagte ich nicht. Ich ignorierte das galoppierende Pferd in meiner Brust, ging noch mal ins Bad, stellte mich noch mal vor den Spiegel, fragte: „Wie kann ich denn helfen?“
Doch der Junge blieb stumm.
Am Abend lag ich auf meiner Matratze in Finas Zimmer und dachte an den stummen Jungen. Wach lag ich da und hatte genauso viel Angst davor, zu träumen, wie davor, nicht zu träumen. Ich hörte Fina in den Schlaf hinübergleiten, ballte meine Hände zu Fäusten und fragte: „Fina, gehst du morgen noch mal mit mir zum Spukschloss?“
„Klar!“, murmelte sie. „Wird alles gut, wirst schon sehen!“
Dann schlief auch ich ein. Als Fina mich am nächsten Morgen weckte, war der Himmel grau, Wassertropfen rannen das Fenster herab, geträumt hatte ich nicht.
Nach dem Frühstück gingen wir zum Gutshaus. Feiner Nieselregen lag mehr in der Luft, als dass er fiel. Es war der erste Regen seit ein paar Wochen und er störte mich nicht. Ich strebte vorwärts, während Fina sang: „Alle, die Tod und Teufel nicht fürchten, müssen Männer mit Bärten sein.“ Ich fürchtete weder Tod noch Teufel. Ich fürchtete mich vor meiner Angst, am meisten fürchtete ich mich davor, wieder wegzulaufen. Der Nieselregen hatte sich auf die Gräser gesetzt und während wir über die Streuobstwiese gingen, lief er mir in dünnen Rinnsalen die Beine herunter.
Wie zwei Tage zuvor, betraten wir das Gutshaus durch die Hintertür. Die Türen, die vom Flur abgingen, waren alle wieder geschlossen.
„Lothar?“, rief Fina flüsternd in den Flur hinein. Stille.
Ich ging voran, direkt auf die Tür zu, die zur Diele führte, Fina folgte mir. Im Schneidersitz ließ ich mich nieder, stellte mir Wurzeln vor, die aus mir heraus in den Boden wuchsen; legte die Handflächen auf das Holz, schloss die Augen und hoffte auf Antworten. Ein Luftzug, fein wie ein Flüstern, strich über mein Schlüsselbein, umrundete meinen Bauchnabel und kletterte meinen Rücken wieder hinauf. Ich zitterte, während ich das Flüstern gewähren ließ. Dann öffnete ich die Augen und sah Fina mir gegenüber vor dem asphaltgrauen Himmel auf einer Fensterbank sitzen.
„Na endlich“, sagte sie. „Ich dachte schon, du willst da ewig sitzen bleiben. Und hat der Junge was gesagt?“ Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Antworten bekommen, nur ein Flüstern, das ich nicht verstand.
„Dann lass uns gehen!“ sagte Fina. „Lothar ist jedenfalls auch nicht hier, aber wir können ja draußen noch mal gucken.“
Wir verließen das Gutshaus, streunten durch die umliegenden Wiesen; Lothar sahen wir nicht. Unweit vom Haus fanden wir einen Stall und kletterten durch eine offene Luke in der Wand, weil die Tür sich nicht öffnen ließ. Es fiel nur wenig Licht in den Stall, aber wir erkannten vier Boxen. Im hinteren Teil schloss sich eine Werkstatt mit einem Fenster und Regalen an, in denen Werkzeuge und allerlei Krimskrams lagen. Fina setzte sich auf einen hölzernen Hocker, der vor einer Werkbank stand. Ich denke nicht, dass sie den Luftzug wahrnahm, der durch die Werkstatt strich.
„Guck mal …“, sagte sie und zeigte auf ein Regal, aus dem in diesem Augenblick eine Zange polternd auf den Boden fiel. Wir zuckten erschrocken zusammen. Eine weitere Zange donnerte auf den Boden, dann ein Hammer, aus dem Luftzug wurde ein Wind, aus dem Wind ein Sturm. Fina und ich suchten Schutz unter der Werkbank, während Werkzeuge und der Krimskrams durch die Luft flogen, gegen die Wände geschleudert wurden, zu Boden knallten. Wir hörten das Fenster über uns zerbersten, hielten uns fest umklammert.
„Was ist das?“, fragte Fina. Ich wusste es nicht. Bilder schossen mir durch den Kopf, Fetzen von etwas, das ich nicht verstand. Ich erkannte die Werkstatt, auf der Werkbank lag eine Frau, um sie herum standen Männer in Uniformen. Ich hörte die Stimme des Jungen, rau und heiser.
„Mudder, stah up!“
Immer wieder.
„Mudder, stah up!“
Die Frau stand auf und löste sich auf, wie die Soldaten, wie die Stimme des Jungen, wurde zu einem Flüstern. Es war still, als ich mich in Finas Armen wiederfand. Wir krochen unter der Werkbank hervor und Fina zeigte weinend auf meine Nase: „Levi, du blutest ja.“
Da begann auch ich zu weinen und wischte mit dem Handrücken das Blut ab, das mir aus der Nase rann. Es vermischte sich mit dem Staub, der sich überall auf uns festgesetzt hatte, zu bröckeligen Krümeln. Durch die Luke kletterten wir zurück ins Freie, der Himmel war noch immer grau, aber der Nieselregen hatte aufgehört.
„Geht’s dir gut? Hast du dir irgendwas getan?“, fragte Fina und klopfte den Staub zuerst von meinen und dann von ihren Sachen.
„Alles in Ordnung“, sagte ich.
Das Nasenbluten hatte aufgehört, ich hatte Kopfschmerzen, die Kühle war immer noch da.
„Das war echt gruselig, Levi. Keine Ahnung, was das war. Ich hatte solche Angst. Das muss ich Erik erzählen, von rumfliegenden Sachen hat der nix erzählt. Oh Mann, gut, dass uns kein Hammer oder so erschlagen hat. Stell dir mal vor ...“
Ihre Tränen hatten helle Pfade auf ihrem staubigen Gesicht hinterlassen.
„Hat der Junge denn was gesagt? Ist deine Haut jetzt wieder warm?“
Ich schüttelte den Kopf, wusste nicht, wie ich ihr erzählen sollte von den Fetzen, die ich nicht verstand, sagte nichts. Sie umarmte mich.
„Lass uns trotzdem jetzt erst mal nach Hause gehen!“
Hand in Hand machten wir uns auf den Rückweg, gingen vom Stall zum Haus und am Haus vorbei, kamen zum Hintereingang und sahen, dass die Tür offen war.
„Warte mal!“, sagte Fina. „Ich geh nur mal kurz gucken, ob Lothar drinnen ist.“
Aber ich ließ Finas Hand nicht los, schüttelte den Kopf.
„Gut, dann komm mit!“
Wieder schüttelte ich den Kopf.
„Ist die Kühle noch da?“
Ich nickte.
„Na also, lass uns drinnen nachsehen, ob Lothar da ist, vielleicht kann er helfen.“
In dem Moment hörte ich eine Stimme sagen: „Du kannst helfen!“
Sie klang tiefer als zuvor, nicht rau und auch nicht heiser. Fina drehte sich um, ich auch, uns gegenüber stand Lothar. Es war das erste Mal, dass ich ihn richtig ansah. Langes schwarzes Haar fiel ihm wie ein Vorhang aus Seide beidseits des Gesichts herunter bis zur Brust. Er schaute mir in die Augen und sagte: „Gehst du rein, hilfst du ihnen und euch!“
Dann dreht er sich um und ging.
„Geht die Kühle dann weg?“, fragte Fina ihm hinterher. Aber er antwortete nicht.
„Geht die Kühle davon weg?“, rief sie, nun lauter.
Da konnte ich Lothar nicken sehen. Die asphaltgraue Wolkendecke begann löchrig zu werden, hier und da war bereits blauer Himmel zu sehen.
Als ich mich wieder zum Haus drehte, sah ich die Hintertür wie ein offenes Maul auf mich warten.
„Ich komme mit!“, sagte Fina und nickte.
„Ich komme mit dir mit!“
Ich schloss die Augen, dachte an Finas Bettdecke mit den Pferden, dachte an die braunen, die schwarzen und auch die weißen Pferde. Dann ging ich einen Schritt auf die Tür zu, dann noch einen und noch einen … Schließlich standen wir direkt vor dem Eingang. Der muffige Holzgeruch kam mir vertraut vor, auch das Knarzen der Dielen, als wir den Flur betraten.
Nachdem ich die Tür zur Diele geöffnet hatte, spürte ich den erwarteten Luftzug, der mir über das Schlüsselbein strich. Wir waren kaum in der Mitte des Raumes angekommen, als mit einem Knall die Fenster und Buntglasscheiben der Eingangstür zerbarsten. Glas flog umher, fiel in Zeitlupe zu Boden, zusammen mit mir. Ich sah die Eingangstür mit unversehrten Buntglasscheiben, sah Männer in Uniformen hereinkommen, sah ein Mädchen, einen Mann, fühlte mich körperlos und spürte gleichzeitig die Tränen des Jungen meine Wangen hinablaufen. Ich hörte seine Schreie, die meine waren, sah Blut auf dem bernsteinfarbenen Muster eine Lache bilden, wusste nicht, wessen Blut das war, sah ein rotes Rinnsal über grauen Boden laufen, sah den Kopf meines Vaters, sah seine braunen Locken auf Asphalt liegen. Ich sah nur seinen Hinterkopf, nicht seine Augen, wollte wissen, musste wissen, ob seine Augen offen oder geschlossen waren, aber konnte mich ihm nicht nähern. Ich erinnerte mich an meinen Körper und spürte Schmerzen, sah den Kopf meines Vaters sich auflösen, schrie: „Nein!“ und hörte eine vertraute Stimme: „Levi! Levi! Wach auf, mach die Augen auf!“
Ich öffnete die Augen und sah in Finas tränenverschmiertes Gesicht.
„Levi!“, sagte Fina und drückte mich viel zu fest. „Ich hatte solche Angst! Du bist einfach so umgefallen. Einfach so.“
„Autsch!“ sagte ich, weil Fina so fest drückte und mein Körper schmerzte. Ich setzte mich auf, spürte Blut aus meiner Nase rinnen, wischte es mit dem Handrücken weg. In der Diele war es still und friedlich. Ich hörte Vogelgezwitscher und sah die Sonne durch die Wolken brechen. Die Glassplitter auf dem Boden glitzerten. Die Kühle auf meiner Haut war fort und die Sonne fühlte sich warm und vertraut an.
„Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Fina! Es ist vorbei.“
Der Weg nach Hause war mühsam. Mein Körper schmerzte überall. Ich erzählte Fina alles, was passiert war, und weinte die ganze Zeit. Als wir zu Hause ankamen, stand unsere Mutter an der Spüle. Sie schaute aus dem Fenster, während sie einen Pinsel ausspülte. Als sie uns sah, kam sie auf uns zu, nahm uns beide in den Arm und sagte: „Ich bin fertig! Ich bin jetzt fertig!“