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Fensterstarrer
„Piep – Piep – Piep,“ ertönt die nervende Elektronik.
„Mein Gott! Muss der ausgerechnet hier einsteigen?“, höre ich die schon etwas betagte Dame neben mir meckern.
„Der Bus hat ohnehin schon genug Verspätung,“ setzt ein weiterer Fahrgast den Text fort.
„Kann der nicht den nächsten Bus nehmen? Der hat doch bestimmt genug Zeit!“, murmelt ein Mann im Anzug. Für dieses Worte erntet der Anzugträger zwar einige böse Blicke von anderen Fahrgästen, aber keiner sagt etwas. Sie wenden sich ab und starren durch die Fenster.
Was suchen sie da?
Endlich fährt der Bus weiter.
Unverschämte Nörgler, denke ich, als wenn es durch das Meckern schneller gehen würde. Eigentlich müsste man diese Typen zurechtstutzen. Warum tue ich es dann nicht?
Auch mein Blick streift das Fenster. Draußen rast alles vorbei. Bäume, Häuser, Autos alles wird zu bewegten Schemen aus Farbe und Form. Zwischendurch immer wieder aufblitzende Reflexionen des Businneren. Dann mein Spiegelbild, ich sehe mir in die Augen.
Warum blicke ich hinaus?
Sind ihre Worte nicht Spiegelungen meiner Gedanken? Haben sie nicht Recht?
Beim Blick auf die Uhr wird mir klar, das ich wegen dieser Verzögerung, jetzt mit absoluter Sicherheit zu spät zur Schule kommen werde. Vorher hatte wenigstens noch der Hauch einer Chance bestanden es vielleicht gerade eben so zu schaffen. Doch jetzt werde ich auf jeden Fall den Zug verpassen, dann muss ich eine halbe Stunde auf den nächsten warten und das ausgerechnet heute, wo Klausuren angesetzt sind. Was das für Folgen nach sich zieht, daran will ich gar nicht denken. Alles nur wegen diesem...
Ich erschrecke vor mir selbst. Was – zum Henker – ist in mich gefahren?
„Aber es ist doch wahr!“, meldet sich mein Spiegelbild zu Wort.
Ist es das? – Aber es gehört sich nicht ...
„Was? Zu denken was einem in den Sinn kommt?“, wieder die Stimme meines Spiegelbildes,
oder doch mein bewusstes Ich?
Was stört mich? Dass er anders und doch genauso wie ich ist? Ich schaue rüber zu seinem Platz.
Er ist
in meinem Alter und trägt ein Hemd der Gruppe Linkin‘ park
wie ich.
Als sich unsere Blicke kreuzen, wende ich mich verlegen ab und mustere die anderen Fahrgäste. Alle haben sich von dem jungen Mann abgewandt und sehen scheinbar interessiert aus den Fenstern, wo nichts zu sehen ist. Nichts von draußen bleibt haften, alles zerfließt, wird zu Träumen. Unverständnis treibt uns an die Fenster. Doch ihre,
meine Flucht wird immer wieder von den eigenen Augen, die sich in Fenstermomenten spiegeln, gestoppt.
Was fürchten wir mehr: ihn oder unsere Spiegelbilder?
Das Pärchen zwei Reihen vor ihm tuschelt leise miteinander genauso wie die beiden Männer rechts von mir, dabei wandern ihre Blicke wie durch Zufall immer wieder zu ihm. Die aufgetakelte Frau in seiner Höhe rückt immer weiter zum Fenster hin und nimmt ihre Handtasche zu sich auf den Schoß. Was für ein Blödsinn! Als wenn er aufspringen und ihr die Handtasche klauen würde!
Er sitzt unbeteiligt an seinem Platz und betrachtet mit glänzenden Augen eine CD. Wie ein Theaterbesucher, der das gebotene Schauspiel schon kennt, dreht er sich immer wieder in den Bus hinein und betrachtet die Fahrgäste. Wenn er einem ihrer heimlichen Blicke begegnet und sie zusammenzuckend sich abwenden, zuckt er nur mit den Schultern.
Ist ihm das nicht unangenehm, dieses ständige Starren?
Zwischen ihren verhohlenen Blicken versuchen sie zu fliehen, die durchsichtige Wand aus Glas, welche Innen von Außen trennt, zu überwinden. Aber sie finden nur Spiegelbilder, das Glas ist zu massiv, als dass sie hindurch schlüpfen könnten.
Gibt es noch andere Möglichkeiten der Flucht?
Verdammte Idioten, wie kann man sich nur so dumm benehmen? Am liebsten würde ich ...
Doch meine Aufmerksamkeit wird von dem Schauspiel, welches sich in dem Fensterglas abspielt, abgelenkt.
Ich sehe
Angst, Scham, Ekel und Hass in Minen spielen und
erkenne mich.
Ertappe mich bei einem Fluchtversuch durchs Fenster, wie ich mir den Kopf an der Scheibe stoße.
Ich behandle den jungen Mann genau wie sie. Warum tue ich das? Aus Scham? Schließlich kann ich laufen und er nicht. Oder weil ich denke, dass ich ihn anstarre? Vielleicht aber auch weil ich vermeiden will, dass meine Blicke auf ihn wie Starren wirken? Ich will ihn bestimmt nicht provozieren, möchte nicht auffallen.
Alles faule Ausreden und Versuche mein schlechtes Benehmen vor mir selbst zu rechtfertigen.
Wie viel Freiheit bieten Fenster wirklich?
Das Glas ist zu dick um hindurch zu schlüpfen, hindurch zu fliesen, zu kalt um es zu berühren und doch ...
... „Klirr“,
birst eine Fensterscheibe
in meinem Kopf.
Langsam drehe ich mich, sehe dem jungen Mann ins Gesicht und suche seine Augen, folge seinem Blick und lande an meiner Brust wo in großen Buchstaben LINKIN‘ PARK steht.
Sehe dem jungen Mann im Rollstuhl in seine Augen, sieht er mir in die Augen. Lächle ich, lächelt er.
Als ich am Bahnhof aufstehe und auf dem Weg zur Tür an ihm vorbei gehe spricht er mich an:
„Hey, Mann! Warst du letzte Woche auch auf dem Konzert in Hamburg?“
„Ehh – ja klar ich –, da war doch jeder Fan, der was auf sich hält.“
„Ich war auch dar! War`n Hammer oder?“
„Wie?“
„Das Konzert war stark, nicht?“
„Ja, aber auf jeden Fall! OK, ich muss dann, mein Zug...“
„Man sieht sich.“
„Vielleicht ...“