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Feierabend
Es war spät geworden. Sie musste nur noch das Geschirr vom Konferenztisch abräumen, die Stühle ein wenig zurecht rücken und dann könnte sie sich nach einem langen Arbeitstag auf den Heimweg machen.
Die Tür öffnete sich langsam und Herr Lehmann lugte um die Ecke. „Habe ich meinen Palm hier irgendwo liegen gelassen?“ Er schaute sich suchend im Zimmer um. „Ach ja, vielleicht im Archiv, als ich das Ersatzkabel für den Beamer gesucht habe.“ Er schlüpfte ins Zimmer.
„Ich schaue gerne für Sie nach.“ Sie war ein so hilfsbereiter und wirklich netter Mensch. Schon war sie im Archiv verschwunden, das als kleiner fensterloser Nebenraum vom Konferenzzimmer abzweigte.
Herr Lehmann folgte ihr. Zu zweit wurden sie recht schnell fündig und entdeckten das Corpus Delicti, das achtlos in einem Regal liegen gelassen worden war. Als sie ihm seinen Lebensorganisator reichen wollte, wurde ein Schlüssel im Schloss herum gedreht. Das Licht verlosch.
Sie war so überrascht, dass sie zunächst kein Wort heraus brachte. Ihm erschien es nicht anders zu gehen. „Hallo, hier ist noch jemand drin.“ Herr Lehmann durchbrach als erster die Stille. Aber weder die Tür noch das Licht reagierten. Stattdessen konnten sie hören, wie die Tür zum Flur geräuschvoll zufiel. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein, oder? Die haben uns doch wohl nicht eingeschlossen.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig.
„Es scheint so. Bleiben wir mal ganz ruhig und denken nach. Heute Abend wird niemand mehr den Konferenzraum benutzen, geschweige denn, etwas im Archiv suchen. Morgen um neun Uhr hat der Einkauf hier seine Mittwochs-Runde. Im schlimmsten Fall müssen wir es bis dahin aushalten.“ Herr Lehmann war immer schon sehr rational veranlagt gewesen. Er analysierte die Situation sehr treffend, das musste sie gestehen. Allerdings war sie selbst etwas anders gestrickt, und die Vorstellung bis zum nächsten Morgen in einer Vier-Quadratmeter-Dunkelkammer zu campieren, brachte sie schon nach wenigen Minuten um ihre Nerven und einen Teil ihres Verstandes. „ Das glaube ich jetzt einfach nicht. Die ganze Nacht hier drin in der Dunkelheit. Ich möchte nach Hause. Ich halte das nicht aus.“ Das Zittern in ihrer Stimme steigerte sich zu ausgeprägten Vibrationen und die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.
Plötzlich spürte sie eine Hand, die ihre Wange suchte und sanft die Tränen abstreifte. „Keine Angst. Ich bin bei Dir.“ Er flüsterte ihr zärtlich die tröstenden Worte ins Ohr. Er war ihr so nah. Kein Schreibtisch, kein Händeschütteln war zwischen ihnen. Kein Beobachter, der neben ihnen stand. Sie waren ganz allein. Und seine Hand war so warm, so weich, so angenehm. Der Zauber des Augenblicks führte ihre Lippen zusammen. Auf einen vorsichtigen ersten kurzen Kuss folgte ein Crescendo, das in tiefster Leidenschaft mündete.
Sie hatten sich tatsächlich im Archiv geliebt. Eine für den unaufmerksamen Betrachter leicht bieder wirkende Chefsekretärin und ein sonst so verklemmter Leiter der Buchhaltung.
„Das war wunderbar.“ Herr Lehmann atmete tief durch, als er den Reißverschluss seines Maßanzugs wieder nach oben zog. „Bis morgen.“ Einige Schlüssel schlugen aneinander, als sie aus der Tasche gezogen wurden. Metall fand das Metall des Schlosses. Die Tür sprang auf und ein zarter roter Lichtstrahl der Abenddämmerung glitt in das Archiv.
Sie vergaß diese besonderen Stunden mit Herrn Lehmann niemals. Heute waren sie ihr wieder besonders präsent, als sie neben ihrer Freundin Nina zu später Stunde den Flur entlangschritt. Vor der Tür zum Besprechungsraum machten sie halt. Sie zwinkerte Nina noch ein letztes Mal vielsagend zu, bevor sie die Tür öffnete. Herr Krüger, der neue Assistent im Marketing, war gerade dabei, den Beamer für die Besprechung am nächsten Tag zu installieren. „Habe ich hier irgendwo, meine Postmappe liegen gelassen?“ Der Archiv-Schlüssel piekste sie durch den feinen Stoff ihres Kostüms leicht in die Hüfte.