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Die Pianistin

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22.11.2005
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Die Pianistin

Gespielt von Jurek Dakinski


Präludium​


Capuccinotassen schlagen auf Glastische ein. Zigaretten entzünden sich: rechts, links, hinter mir, wieder links. Kellner irren umher. Weine gluckern aus ihren Flaschen. Finger durchstöbern Geldbörsen. Löffel stechen in Kaffees, kreisen gelangweilt, zerreiben Zucker, kratzen Tassenböden wund. Unterhaltungen: Palaver: nichts weiter als Geräusche. Ungleichmäßige, unschöne Kurven auf einem Oszillografen. Erregungen, Heiterkeit: spritzen heraus. Unmittelbar neben mir muss jemand gerade seine Zeitung ficken, denn Lesen kann das nicht sein.

„Dein Wein, Jurek.“
„Danke, Sophie, mein Liebes.“

Ihre Absätze klacken unryhtmisch. Sie trägt Hochhackige. Das ist Pflicht hier. Sie ist noch zu sehr konditioniert, auf den Ballen zu gehen.

Ich fingere nach meinem Weinglas, tippe mit der Fingerkuppe leicht hinein, reibe dann den Rand entlang. Es ist noch unterhalb der hörbaren Frequenz. Dann wird es merklich lauter, die Gespräche abgehackter, verlieren ihren Faden. Es wird leiser, leise gar. Nur noch wenige unterhalten sich. Dann niemand mehr. Ich höre Sophie kichern, höre auf. Es dauert eine Weile, bis die ursprüngliche Geräuschkulisse wieder aufgebaut ist.

Am Tisch vor mir wird ein Apfel zerfleischt. Cocktails werden durch Strohhalme gezwängt. Eiswürfel sterben gemeinsam und langweilig.

Klopfen aufs Mikrofon hackt Stille ins Publikum. Mich ruft noch einmal die Natur, bevor das Konzert beginnt.

„Falsche Tür! Können Sie nicht lesen?“, erschreckt mich eine übertrieben feminine Stimme, als ich die Pendeltür zum vermeintlichen Herrenklo aufstoße. Ich weiche zurück, suche Halt.
„Verzeihen Sie bitte! Als ich vierundfünfzig war, entschied der Allmächtige, mir die Sicht auf die Schönheit dieser Welt zu verweigern.“
Eine Hand fasst mich am Oberarm. „Jurek, komm! Hier entlang.“

„Es liegt nicht mehr daran, dass ich blind bin, Pavel. Das bin ich seit elf Jahren. Und seit zwanzig Jahren gehe ich hier aufs Klo. ... Ich werde alt, Pavel.“
Das Plätschern des Urins untermalt meine Worte.
„Komm, Jurek! Mehr als hören, spielen und trinken hast du noch nie gekonnt“, sagt Pavel.
„Aber ich will sie sehen. Ist sie hübsch, Pavel? Sag es mir!“
„Sie ist jung, Jurek, sehr jung. Vierzehn. Jürgen hat sie nach Deutschland gebracht. Sie ist aus einer kleinen Stadt bei Wladiwostok. Sehr talentiert. Aus der Schule von Nikolai Becker. Du wirst deine Freude haben!“

Pavel setzt sich zu mir an den Tisch. Letzte Getränke werden bestellt. Dann Applaus. Erste Töne durchkratzen die Stille. Als ob sie mehr Stille fordern würden, als vorhanden. Pianissimo. Erste Akkorde. Sie spielt Gabriel Urbain Fauré. 13 Nocturnes. Es erinnert leicht an Jean Martins Auslegung. Lange nicht so nihilistisch wie Germaine Thyssen-Valentin 2002. Aber frei. Virtuos.
Ihre Klänge umgarnen mich, tanzen ein Farbenmeer in meine schwarze Welt. Ende des Präludiums. Fortissimo jetzt. Der Flügel, der Steinway, erbebt mit mir vor Hochachtung. Sie zieht die Zügel stramm, sie bringt den Gaul zum Wiehern.

Nicht aufhören! Ich möchte hier sitzen und sterben können. Ihre Musik hätte mich in den Himmel getragen.

Ich denke an meine Tochter. Wie sie auf meinem Schoß saß, die Klaviatur vor uns, ihre Finger so spielerisch in der Melodie, so zuckersüß erschrocken bei Dissonanzen.

Mit ihr nahm mir Gott mein Augenlicht. Was sollte ich auch noch sehen? Sie, wie sie nicht im Bett liegt? Sie, wie sie mir nicht entgegenlächelt? Sie, wie sie nicht durchs Zimmer springt?

„Jurek? Jurek! Hat es dir gefallen?“ Pavels Stimme ein Lasso, das mich in die Realität zurückzieht. Ich greife nach seiner Hand. Eine Träne platscht in meinen Martini. „Pavel! Hol sie mir her! Bitte, Pavel, hol sie mir her!“
„Ich wollte sie dir ohnehin vorstellen. Ich hatte gehofft, du könntest sie unterrichten.“
„Unterrichten? Ich? Ich kann sie nicht einmal sehen, Pavel. Wie sollte ich sie da unterrichten können?“
„Hast du denn so viel vor in nächster Zeit? Sie ist gut! Sie hat alle Voraussetzungen. Sie hat Disziplin. Mach sie zu deiner Schülerin, Jurek! Sei ihr Mentor! Sie verehrt dich! Sie vergöttert dich!“

Floskeln erklingen, Hände ergreifen meine, eine Kinderhand schüttelt sie hochachtungsvoll. Ich handle ein Gespräch ab. Meine Vergangenheit, mein Ruf, sprechen für mich. Termine werden vereinbart, nach dem Ergehen von Familien gefragt, Getränke genuckelt, spendiert, Witze gemacht.
Sie lacht nicht, sitzt da, die Disziplin muss sie wie ein Gewehr im Rücken drücken, ist ein stiller Pol im Durcheinander des Gespräches ihrer Befürworter. Manchmal ist auch der Musiker nicht mehr als ein Instrument. Dann entfernt sich das Gespräch, mir wird zum Abschied auf die Schulter geklopft. Ihre Hand wieder diszipliniert zum baldigen Wiedersehen. Sie hatten mich überredet.

So blind wie ich; so stumm scheint sie zu sein.

„Wie soll das funktionieren, Pavel. Verdammt, wie? Sie redet ja nicht.“
„Ihr könnt beide hören, Jurek. Ihr könnt beide hören. Was sollte sie noch sagen, wenn du ihr zeigst, wie sie es zu spielen hat? Sie hat es zu spielen! Musikalisch gesehen ist Sprache Ausrede, ein Störfaktor. Das sind deine Worte.“


Fuge 1:

Ich stehe vor meinem Spiegel. Das letzte Mal, als ich mich sehen konnte, war ich unrasiert und von Tränen gezeichnet. Wenn ich jetzt über mein Gesicht fasse, merke ich, dass ich Falten bekommen habe, mein Haar zerzaust und licht. Mein Gesicht ist nicht das Einzige an mir, was alt geworden ist. Ich fasse in Fettfalten, die mir, klein noch, aber fremd vorkommen.

Als ich noch auf den Bühnen Europas war, als ich noch ganze Säle füllte: Da war mein Aussehen egal, Nebensache. Heute sagen sie, man würde es mir ansehen: den Verlust, die Vergänglichkeit, den Verschleiß. Sie schreiben, es läge nicht an meinem fehlenden Augenlicht. Ich hätte den Verlust meiner Familie nicht verkraften können, heißt es. Tatsächlich habe ich seit dem nicht mehr komponiert. Die Komposition, an der ich arbeitete, liegt noch unberührt oben im Arbeitszimmer.

Manchmal höre ich ihr Lachen vor meinem Anwesen, sie im Garten spielen, die Treppe herunterstürzen, weinen, schreien, flüstern.

Meine Frau hatte mich schon lange nicht mehr geliebt. Sie war nur wegen unserer Tochter noch geblieben. Ich war schon immer nur mit der Musik verheiratet gewesen. Zu oft hatte ich zehrende Wochen vor meinen Kompositionen verbracht. Ich sei zu fixiert geworden, hatte sie mir vorgeworfen. Auch in Sachen Erziehung: Unsere Tochter hatte eine frühmusikalische Erziehung genossen. Klavier, Gesang, Saxofon, Komposition, Geige, alles, was dazu gehört. Sie wäre eine großartige erste Geige geworden, und auch ihr Soprangesang konnte sich hören lassen.
Meine Frau und ich hatten oft gestritten, da sie es lockerer angehen wollte. Hätte ich als Kind die Möglichkeiten gehabt, wie meine Tochter sie gehabt hatte, ich hätte es zu weit aus mehr gebracht, als ohnehin schon. In unserer Familie liegt ein unermessliches Talent, dieses zu vergeuden hieße, einen Goldbarren abzulehnen. Damals hat mein Vater sein Klavier behütet wie ein drittes Kind, neben Pavel und mir. Pavel hat es musikalisch nicht weit gebracht. Er ist Kritiker. Obwohl er älter ist als ich, wagt er es nicht, mich zu kritisieren. „Deine Musik ist ein Lebenswerk“, sagt er immer. „Das Einzige, was man an dir kritisieren könnte, ist deine Flucht in die Musik, deine Abwendung von den Menschen."
Es war an dem Abend vor ihrer Aufnahmeprüfung: Sie sollte nach Wien, eine sehr renommierte Privatschule besuchen. Ich ging mit ihr noch einmal "Das wohltemperierte Klavier" durch, welches sie vorspielen sollte. Sie spielte das Ende noch immer falsch. Andauernd betonte sie, wie müde sie doch sei, dass sie ins Bett wolle, zu ihrer Mutter. Dann schrie ich sie an, woraufhin sie das Notenblatt auf den Boden warf. Dann schlug ich sie.
Die Nacht verbrachte ich bei Pavel, besser gesagt: Bei seinem Martini. Auch Johannas Abreise verpasste ich.
Tage später ließ sich meine Frau von mir scheiden, unsere Tochter nahm sie mit.

Ich habe Johanna jetzt schon drei Jahre nicht mehr gesehen, also getroffen. Auch meine Ex-Frau meidet den Kontakt mit mir. Ich weiß, dass Johanna seit dem Tag, an dem ich sie geschlagen hatte, nicht mehr gesprochen hat.

Ein Auto schwemmt die regennasse Einfahrt auf. Begrüßungen platzen in mein Anwesen. Meine Schülerin muss einen ganzen Hofstaat mitgebracht haben. Pavel vorneweg. Eines meiner Dienstmädchen öffnet die Tür, geleitet in den Saal, fragt nach Getränkewünschen. Einer von ihnen hat seine Schuhe nicht ausgezogen, sie begutachten meinen Flügel, meinen Ausblick, rekeln sich in der Garnitur.
„Herr Dakinski! Sie haben Gäste!“ Wie oft habe ich ihr gesagt, dass ich wünsche, geduzt zu werden.


Fuge 2:​

Ich weiß, dass Pavel geblieben ist. Er steht in meinem Rücken bei der Garderobe. Ich kenne seinen Geruch, spüre ihn. Es ist beleidigend, dass er denkt, ich würde ihn nicht bemerken. Vom Vertrauensbruch mal ganz abgesehen. Auch, wenn er es war, der für mich gebürgt, die Verantwortlichen von meiner psychischen Konstanz überzeugt, sich für mich eingesetzt hatte.

Sie sitzt vor dem Flügel, wartet auf den Startschuss von mir, um ihr Programm herunterspielen zu können. Ich spüre sie nicht atmen, nicht zucken. Sie hat meinen Flügel noch nicht einmal angefasst, wartet auf Erlaubnis.

Mein Haus ist still. Langweilig. Kein Tapsen von Kinderfüßen, keine mütterliche Angst, die in Anweisungen durch die Räume hallt, kein Fernseher, vor dem Kinderaugen zu nah sitzen, kein „Stör deinen Vater nicht! Er arbeitet!“, wenn sie vor meinem Arbeitszimmer spielt.

Damals haben sie mich gestört: diese Geräusche des Lebens, unrhythmisch und dissonant, wenn ich vor meinen Kompositionen grübelte. Bald hatte ich Nachts komponiert.
Ich schlief, während sie aufwuchs.

Pavel versuchte lautlos übers Parkett zu huschen, während ich auf ihn zuging, schließlich ein unwichtiges Jackett von der Garderobe nahm.

Zuvor hatte ich der Wachspuppe am Flügel den Startschuss gegeben. Und sie spielt ihr Programm, vollführt einige Saltos in ihrer musikalischen Akrobatik.

„Was befürchtest du? Wieso vertraust du mir nicht?“
„Du weißt warum! Lass dich von mir nicht stören! Ich stehe öfter, als du denkst, hinter dir. Und ich mache das für dich, Jurek. Nicht, weil ich dir nicht vertraue. Ich will mir nur sicher sein können.“


Fuge 3:​

Diesmal sind wir allein. Kein Pavel.
Im Intervall einer Quinte heult ein Krankenwagen die Straßen lebendig. Hunde bellen, Kinder spielen, Familien gehen spazieren, uns wird etwas Sonnenlicht in den Saal gelassen, welches das Leben aufzuwühlen scheint.
Ein Dienstmädchen stellt unachtsam ein Glas auf den Flügel. "Eine Cola für die Kleine", sagt sie. Ich habe nicht einmal gewusst, dass wir so etwas im Hause haben.
Meine Schülerin spielt. Ich kann Fauré nicht mehr hören, sage ihr, sie solle etwas anderes spielen. Sie spielt Mozart. Ich trinke Cola. Schmeckt gar nicht schlecht. Dann schlage ich mit den Fäusten auf die Tasten. Sie erschreckt, fällt beinahe vom Stuhl. Ich lache.
„Spiel mal `Der Mond ist aufgegangen´!“
Keine Töne erklingen.
„`Der Mond ist aufgegangen´!? Kannst du nicht?“
Das eingestrichene D erklingt. (Wir hatten dieses als Ton für „Nein“ vereinbart, den Kammerton als Signal für „Ja“)

Ich spiele das Lied.

Immer, wenn meine Tochter genug von all der Klassik hatte, die ein Privatlehrer und ich ihr eintrichterten, spielte sie dieses Lied, erfreute sich der Schlichtheit. Es war ihr Lieblingslied.

Meine Schülerin tut sich schwer, hat die Abfolge vergessen. Ich spiele es noch einmal. Wieder sie. Wieder ich. Einzelne Stellen. Jetzt sitzt es.
Ich weiß nicht, ob sie lächelt.


Fuge 4:​

„Sie sitzt in der Tat sehr verkrampft, Herr Dakinski. Sehr steif. Rot – braunes Haar, rundliches Gesicht, spitze Nase, Locken, lang: die Haare. Sie hat sehr große Augen, lange, feine Wimpern. Das ist mir aufgefallen.“
„Sieht sie Johanna ähnlich?“, frage ich das Dienstmädchen.
„Was denken Sie?“, fragt sie. „Könnte es Ihre Tochter sein?“
„Nein … nein. Es ist nicht meine Tochter. Wie könnte sie auch?“

Sie ist jetzt seit drei Wochen meine Schülerin.

Der Mond ist aufgegangen“ erklingt, wird abgebrochen. Sie vergisst es immer, kann kaum ohne Noten spielen.
Ich spiele es ihr vor. Jetzt kann sie es wieder. Sie ergreift meine Hand.

Ich ergreife auch ihre Hand, leite sie von der Klaviatur.
„Kennst du schon meinen Garten?“

Der Frühlingswind spielt in meiner Ohrmuschel, Dienstmädchen sind uns gefolgt, tuscheln, ein Springbrunnen spielt mit Wasser. Ich spiele Ball mit meiner Schülerin, die mir so vertraut vorkommt, so bekannt, so ähnlich.

Der Ball, den sie aus dem Schuppen haben muss, fliegt mir gegen die Stirn. Ich lache, sie vielleicht auch, versucht es erneut, wirft ihn langsam zu mir. Ich kann ihn nicht fangen, weiß nicht wann, wo er herkommt. Sie hat ihre helle Freude, schmeißt immer schneller, holt ihn wieder, wirft und wirft. Immer wieder prallt er gegen meinen Kopf, ich haste mit meinen Armen in mein schwarzes Meer, kann die Richtung nur erahnen, versuche ihn zu erhaschen, nachdem er an mich geprallt ist, schaffe es nie, lache dabei.

Und in meiner dunklen und farbenleeren Welt malt sich das Bild eines Mädchens, meiner Tochter, Johanna. Ich beuge mich zu ihr herunter und wir umarmen uns. Unsere Wangen berühren sich, wissen ihrer Zugehörigkeit. Der Wind leitet ihre Haare in mein Gesicht und ich kann sie riechen. Sie umklammert mich, ich umklammere sie und unsere Tränen treffen sich auf unseren aneinander gepressten Wangen.

Ich spüre Leute hinter uns stehen. Es könnte Pavel sein und meine Frau, die auch weint.

Fin​

 

hallo dot.

sie kann es ja auch sein. wie gesagt: ich weiß es selber schon nicht mehr, wie ich es haben will. es spricht alles dafür, aber man erfährt nur seine Sicht, keine andere. vielleicht sollte ich sie nicht weinen lassen.

und bei deinem ratschlag sehe ich bei genauerer betrachtung, das du Recht hast. wort für wort.

danke und gruß

 

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