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Die Gabel
Ab und an fallen beim Geschirrspülen merkwürdige Dinge vor. Als ich eine Gabel ergriff, hatte diese sich mit der Kette des Abflussstöpsels verfangen und schien glücklich auf ihr herumzubeißen. Es war, als ob sie gleich ihre Freude herausschreien würde. „Schau her, ich bin nur eine einfache Gabel, aber dieser Tag wird einer sein, an den ich mich noch mein restliches Leben erinnern werde.“ - „Wieso denn das?“, fragte ich. Sie räusperte sich kurz, hatte dann aber die Festigkeit ihrer Stimme wiedergewonnen: „Unser Leben ist gewöhnlich jämmerlich und langweilig, da machen sich schnell verrückte Ideen in uns breit. Von dem Leben außerhalb wissen nur wenig. Und so lebt man vor sich hin, nur auf einige wenige Momente wartend, in denen man den Lauf der Welt, jedenfalls in unserem Rahmen, verändern kann. Sie schütteln den Kopf, so als ob ihnen viele andere Wege sehr viel selbstverständlicher erscheinen würden. Zurecht könnten Sie einwenden, dass man doch auch einfach rosten könne.“ – „Sehr richtig, ich wollte diese Frage gerade stellen“ – „Allerdings, wir würden dann zwar bemerkt, aber auch gleich weggeschmissen. Man hat aber doch den Wunsch, sich im besten Licht zu zeigen.“ – „Das habe ich nicht bedacht“, antwortete ich. Die Gabel fuhr fort: „Wenn wir gespült werden, ist es dann natürlich kein Geheimnis, dass jeder versucht, in die Nähe der Kette zu kommen, denn ab und an passieren solche Zufälle, wie sie heute passiert sind. Als du, Entschuldigung, Sie, mich sahen, mich sehr verwundert ankuckten und diese süßen 2-3 Sekunden lang nicht wussten, was zu tun sei, hätten Sie, wenn Sie genau hingekuckt hätten, bemerken können, wie ich vor Wichtigkeit bebte. Unsereins hat wohl, das muss ich zugeben, eher kleine Gefühle und das, was passierte, überstieg nun einfach diesen Rahmen.
Konnte ich denn ahnen, dass Sie mich dazu benutzen würden, den Stöpsel herauszuziehen? Mir wurde deswegen, auch wegen der wohl ungerechtfertigten Bevorzugung gegenüber den anderen, etwas mulmig zumute. Man merkt, dass diese Handlung, dieser kleine Streich, ich hoffe, Sie sehen es da nicht anders, doch in sich schon die Gefahr bot, auszuarten, was dann ja auch in gewisser Weise geschehen ist. Ich hatte es doch alleine darauf abgesehen, in meiner Lage liebevoll erkannt und sogleich von Ihnen abgestreift zu werden, wenn mit unfreundlichem Gesicht, dann doch mit einem kleinen heiteren Nebenausdruck, der vermuten ließe, dass Sie solchen Unwichtigkeiten einen erheiternden Moment zugestehen. Dass Sie mich dann herauszogen, hätte natürlich als Möglichkeit bedacht werden sollen, doch hoffe ich, dass Sie mir nachsehen, nicht über meinen kleinen, nun, Tellerrand hinausgeschaut zu haben.“
- „Ich verzeihe Ihnen, - wobei Sie mich durchaus duzen dürfen, meinerseits jedoch bleibe ich bei der Höflichkeitsform, da mich ihre Rede zu sehr beeindruckt hat - verzeihen tue ich Ihnen alles, was bisher von Ihnen ausgeheckt wurde und auch das, was Sie für die Zukunft planen mögen. Doch es gibt viel wichtigere Fragen, und diese stehen gerade dann an, wenn sich alles um einen herum verändert hat.“ – „So gerne folge ich deiner Stimme“ – „Ich möchte Ihnen klar machen, dass mit dem Moment, in dem ich Sie ansah, nur der Anfang gemacht war. Geben Sie zu, dass Sie heute eine neue Welt erkannt haben?“ – „Aber ja“ – „Dann warten Sie kurz, ich muss etwas holen“ sagte ich sehr hastig, bevor ich davon lief, in mein Zimmer, um das dünne Buch herauszunehmen. Ebenso schnell war ich zurückgekehrt. Ich las vor: „Die Situationen verändern sich. Die Begrenzungen sind subjektiv, weil sie gelebt werden und nichts sind, wenn der Mensch sie nicht lebt“. Ich war vom Text sehr ergriffen: „Begreifen Sie denn nicht, dass es jetzt daran ist, alles abzuschütteln?“ – „Es ist doch so schwer“ – „Ja, schwer ist es, aber ist es nicht spannender, etwas schweres zu tun, als sich zurecht Feigling nennen zu lassen? So werde ich Sie ab jetzt bezeichnen“. Die Gabel konnte sich nur leise und voller Selbstmitleid wehren: „Tun Sie das nicht, ich habe doch hier Familie, bitte, haben Sie etwas Mitleid“ – „Feigling, Feigling“, rief ich. Langsam schritt ich aus der Küche. Obwohl ich danach nichts mehr sagte, war sich die Gabel doch bewusst, dass ich dieses böse, dieses unmenschliche Wort leicht auf der Zunge liegen hatte und es beim Hinausgehen genüsslich in meinem Kopf nachklingen ließ.