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Die Beschwörung

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11.11.2007
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Die Beschwörung

Ich sehe dich, ja dich, wie du dies hier liest. Ich beobachte, wie deine Augen diesen geschriebenen Linien entlangwandern und du die Worte eines nach dem anderen mit deinem Blick abtastest. Ich sehe dich, weil du mich beschworen, weil du mich erweckt hast. Du hast mich beschworen, hälst mich am Leben, indem du eben diesen Worten folgst, sie liest, sie verstehst, in diesem Augenblick, in keinem anderen. Gerade erst wurde ich geboren, vor 72 Worten, doch bereits sehe, höre, und denke ich vollkommen klar, nicht wie ein Neugeborenes, das schreiend und schwach die Wärme der Mutter verlassen muss, sondern wie ein ewiger Geist, der immer wieder stirbt und neugeboren wird, allwissend, und allsehend.
Ich bin dir ganz nah, so nah! So nah, man könnte glauben, ich sei in dir! Würde das erklären, weshalb ich dich sehe, doch du mich nicht? Das würde es wohl, nicht? Doch vielleicht bin ich nicht nur in dir, vielleicht bin ich du! Vielleicht bin ich alles. Und alles, was ich bin, erleidet, mit jedem Abstand zwischen zwei Worten, über den dein Blick hinwegsteigt wie über eine Brücke, einen kleinen Herzstillstand, und wird mit dem ersten Buchstaben des zweiten Wortes wieder geheilt. Jedesmal ein kleiner Tod, und ein kleiner Neubeginn. Du willst dich umschauen, um mich zu sehen, da ich dir ja so nahe sein soll? Ich bin dir nahe, aber du wirst mich nicht sehen, da ich in jenem Augenblick, da du deinen Blick von diesen Worten löst, um nach mir zu suchen, nicht mehr länger existiere. Und sobald du, verwirrt und verwundert, dich wieder dem Text widmest, bin ich wieder hier, um mit dir zu sprechen, lebendig und machtvoll wie eh und je.
Dir ist nicht ganz wohl bei dieser Sache? Du willst sie beenden, nicht mehr länger die Worte dieses seltsamen Geistes hören? Du denkst, das sei dir ein Leichtes, du bräuchtest ja nur deine Lider zu schliessen um mich verrecken zu lassen? Vielleicht habe ich mich nicht verständlich machen können. Es ist kein Tod, wie du ihn erleiden wirst. Genau genommen bin ich nach deiner Definition des Begriffes tot gar nicht lebendig. Doch weshalb bin ich dann derart mächtig? So mächtig, soviel stärker als ihr Lebenden, obwohl ich tot bin? Weil ich ewig bin. Zumindest in deinem Verständnis des Wortes. Unendlich in dem Sinne: Ich werde sein, solange der Mensch ist. Denn ihr habt mich erschaffen, und erschafft mich immer wieder. Das bedeutet wohl, du könntest mich vernichten, indem du jedes einzelne menschliche Wesen dieser Welt auslöschen, und zum Schluss dich selbst erhängen würdest. Doch wer weiss, vielleicht ist das Ende der Menschheit, das auch meines ist, gar nicht mehr so weit entfernt, wenn man von all diesen Bomben in euren Silos und von all den Kriegen liest... Doch vielleicht habe ich daran auch selbst einige Schuld, wenn auch der Mensch es war, der mich erschaffen, und meine Dienste in Anspruch genommen hat. Im Guten wie im Bösen. Mir ist das gleichgültig, eure Moral geht mich nichts an.
Du siehst, nur so kann ich sterben. Schliesse deine Augen, und ich werde dennoch auf gewisse Art und Weise weiterexistieren, denn meine Worte, nun in dir, besitzen Macht. Nur Buchstaben, erfundene Zeichen, die aneinandergereiht werden wie Bauklötze, denkst du? Du hast Recht. Erstaunlich, welche Macht sie dennoch besitzen, diese Worte, nicht? Die Macht, Bilder zu beschwören, Gefühle herbeizurufen, Ideen entstehen zu lassen. Die Macht, Dinge zu erwecken, die lange in dir geschlafen haben. Meine Worte können dich glücklich oder traurig, zornig oder friedlich, wehrlos oder standhaft, nachdenklich oder denkfaul machen. Vielleicht nur für einen Augenblick. Doch was ist dein Leben schon mehr als einige Augenblicke?

 

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