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Desda
Der Junge kannte nur ein einziges Wort. Wenn er etwas wollte, deutete er auf den Gegenstand, eine Abbildung oder eine Person und sagte: „Desda.“ Das klappte in den ersten Lebensjahren ganz gut, nachdem seine Umgebung kapierte, dass er erst noch zwischen sich und der Welt unterscheiden lernen musste. Die Leute nannten ihn Desda, im Kindergarten ebenso wie in der Schule. Nur seine Großeltern, bei denen er aufwuchs, riefen ihn Destiny oder, wenn es ernst wurde, Destiny Danosch! So war gesichert, dass er niemals vergaß, wer er war und was er von der Welt erwartete.
Vor ungefähr fünfzehn Jahren waren die Großeltern mit ihrer Tochter aus dem Osten in das süddeutsche Dorf am Rande einer Schlucht gezogen. Sie kauften eine halb zerfallene Scheune für wenig Geld. Innerhalb von zwei Jahren entstand ein hübsches Häuschen mit einem tief heruntergezogenen Schindeldach, unter dem man auch bei einem Gewitter auf der Bank sitzenbleiben und die aufgeregten Hummeln beobachten konnte. Zum Erstaunen der Dorfbewohner ragte auf dem Dach eine Fernsehantenne in den Himmel. Das hätten sie den Hergeloffenen gar nicht zugetraut. Da sollte die Obrigkeit doch mal genauer hinschauen.
„Herr Danosch, Sie kommen doch aus dem Osten, oder?“, fragte der Bürgermeister streng und musterte den Pass, in dem die Seiten über und über mit Stempeln aus aller Welt bedeckt waren, so dass dem Mann die Augen tränten.
„Wie man's nimmt, Herr Bürgermeister. Wenn man lang genug nach Westen geht, kommt man halt von Osten her nach Hause.“
Dagegen konnte niemand was sagen, und so ließ man die kleine Familie in Ruhe, zumal sich Herr Danosch als einfallsreicher und geschickter Handwerker ein paar Pluspunkte erwarb, weil er die eine oder andere Leitung im Dorf reparierte und bei der Freiwilligen Feuerwehr mitmachen wollte. Aber das ging den Dorfleuten dann doch zu weit.
Die Tochter Ivana, ein mundfaules, mürrisches Mädchen mit einem weißblonden Zopf bis zum Po und eisblauen Augen arbeitete in der Stadt. Sie kam nur einmal im Jahr vorbei. Eines Tages schleppte sie eine geräumige Reisetasche an mit einem zappelnden Bündel darin, stellte sie auf den Küchentisch, legte einen dicken Brief mit dem Stempel des Gesundheitsamtes daneben und noch einen Packen Euroscheine dazu, lauter Fünfhunderter.
„Er ist so weit ganz okay“, sagte sie, „ich kann nichts mit ihm anfangen, aber bei euch ist er gut aufgehoben. Sorry, ich gehe nach L.A.“
So hatte Desda es ganz gut getroffen. Überhaupt war er ein hübsches Kerlchen, wenn man sich nicht von seinem Äußeren irritieren ließ. Er hatte die eisblauen Augen seiner Mutter geerbt, nicht jedoch deren Haarfarbe. Im Gegenteil, das Kind war von oben bis unten mit einem dichten schwarzen Pelz bedeckt. Nur das Gesichtchen, sowie Handflächen und Fußsohlen waren glatt und rosig gefärbt. Man konnte ihn hübsch finden, vor allem, wenn sich sein Mund zu einem breiten Grinsen verzog und die haarigen Ärmchen und Beinchen freudig strampelten.
„Du, du, du“, sagte die Oma und streichelte über den Pelz am Köpfchen. Eine gewisse Vorsicht allerdings hinderte sie später daran, Desda einen Finger zum Lutschen ins Mäulchen zu stecken, denn Desda biss jedesmal kräftig zu, was, nachdem die ersten, spitz zulaufenden Zähnchen erschienen, nicht ganz ungefährlich war.
Wenn der Kinderwagen bei schönem Wetter im Vorgarten stand, trieb pure Neugierde die Leute dazu, sich mit freundlichem Lächeln darüberzubeugen. Die meisten fuhren erschrocken zurück und schüttelten den Kopf. Im Dorf ging das Gerücht herum, die Danoschens hätten sich einen Affen zugelegt. Die alte Frau Dodi schlug drei Kreuze und sprach von einem Wechselbalg: „Gott sei uns gnädig. Der wird uns noch Kummer machen.“
„Es ist ein Gen-Defekt. Hypertrichose. Die Ärzte sagen, kein Grund zur Panik. Destiny ist ein ganz lieber, fröhlicher Junge“, pflegte Herr Danosch zu antworten, wenn sich einer zu fragen traute. Frau Danosch sagte nie etwas, den Leuten im Dorf war nicht klar, ob sie überhaupt sprechen konnte, und wenn doch, dann jedenfalls nicht deutsch. Immerhin bestätigte die Dame des Familien- und Jugendamtes, dass bei Familie Danosch alles bestens sei und sie froh wäre, wenn sie solches von allen Familien im Landkreis behaupten könnte.
Kindergarten und Grundschule bildeten für Desda keine Hürden. Mit Hilfe seiner spitzen Zähne verschaffte er sich den nötigen Respekt, war aber kein Raufbold. In Windeseile eignete er sich Spielregeln, Lesen und Schreiben an, sang im Stuhlkreis lautlos mit, teilte sein Vesperbrot mit den anderen und kletterte im Sportunterricht am schnellsten die Sprossenwand hoch. Eines Tages, so mit neun, blätterte er in einer Technik-Zeitschrift seines Opas, deutete auf einen PC und ein Smartphone und rief dreimal hintereinander: „Desda!“
Der Opa verstand. Desda hatte seinen Weg gefunden. Keine Frage, dass er aufs Gymnasium wechseln konnte, schon allein wegen der Inklusion, die neuerdings von der EU verordnet wurde. Desda kommunizierte mit allen per Smartphone, beherrschte bestens alle Techniken der Social Media, half sogar dem einen oder anderen Mitschüler bei den Hausaufgaben. Wenn er im Physikunterricht sich meldete, malte er in einem Affentempo Gleichungen und Skizzen an die Tafel, dass dem Lehrer der Unterkiefer herunterfiel.
Mit dreizehn fingen die Schwierigkeiten an. Die Mädchen kicherten ohne Pause und deuteten mit rotlackierten Fingernägeln auf die Jungen. Die wiederum trugen blaugefärbte, spiegelnde Sonnenbrillen auch bei Regenwetter und ließen sich die Haare wie Ronaldo oder Boateng stylen. Für Desda gab es kein passendes Vorbild. Die Mädchen machten einen Bogen um ihn. Mehr und mehr zog er sich in die Welt der Nerds zurück. Hatte er Wünsche und Sehnsüchte? Darüber gab er keine Auskunft. Nur einmal, als er mit seinem Opa an einem Samstagabend durch die Schlucht zum Hochdobel wanderte, legte er sich bei einer Rast in das feuchte Gras und schaute in den sternenklaren Nachthimmel.
„Was ist los mit dir?“, fragte Herr Danosch nach einer Weile. „Warum schreibst du deinen Freunden nichts mehr? Was geht dir denn im Kopf 'rum?“
Desda reagierte nicht. Er hätte sowieso nichts schreiben können. Auf dem Hochdobel gab es keinen Empfang.
Schließlich setzte er sich auf, deutete auf den Mond und die Jungfrau. „Desda“, murmelte er. Seine Augen glänzten eisblau mit einem Stich ins Grünliche, Tränen versteckten sich hinter den dichten Wimpern.
An diesem Wochenende wurde der erste Wolf in der Schlucht gesichtet. Häufiger als bisher richteten sich nun misstrauische Blicke auf Desda. Man hätte gerne gewusst, wohin seine Mutter verschwunden war. Der jüngste Sohn des Bürgermeisters holte ein Stück Kreide aus der Hosentasche und zog einen langen Strich auf das Pflaster des Pausenhofs. Dann stolzierte er hüftewackelnd die Linie entlang.
„Da arbeitet die Mutter von Desda.“ Alle lachten, auch die Kinder, die nichts kapiert hatten. Die Jungen machten sich einen Spaß daraus, die jüngeren Mädchen auf den Strich zu schicken und zu wetten, wie lange sie da auf einem Bein entlanghüpfen konnten.
Desda stand am Rande. Seine buschigen Augenbrauen hatten sich zu einer einzigen Linie zusammengezogen. Noch vor Ende der Pause ging er ins Klassenzimmer zurück, räumte seinen Arbeitsplatz, packte seine Sachen aus dem Spind in den Rucksack und nahm das Klassenfoto von der Pinnwand. Er hielt inne und schaute sich eine Minute lang um. Schließlich wischte er auch noch eine Matheformel von der Tafel. Vor einer knappen Stunde hatte er sie dorthin geschrieben. Jetzt gab es keine Spuren mehr von ihm.
Desda blieb verschwunden. Merkwürdigerweise war sein Großvater keinesfalls so besorgt, wie man erwarten konnte.
„Ach, der kommt schon zurecht. Er braucht eine Auszeit. Ich habe ihn zu Verwandten nach Norwegen geschickt.“
„Aber das hätten Sie vorher mit uns absprechen müssen.“ Der Vorwurf des Schulleiters war nicht zu überhören. „Sie wissen doch, dass wir alles für Desda tun, damit er hier reüssiert.“
„Ja, meine Frau und ich wissen das zu schätzen. Es wäre uns allerdings sehr recht, wenn Sie Spekulationen über uns unterbinden könnten. Ich weiß nicht, ob Destiny sonst zurückkommen kann.“
„Wie meinen Sie das?“
„Fragen Sie Ihre Schüler.“
Als der erste Wolf überfahren wurde, schossen die Gerüchte in die Höhe. Fotos zeigten einen Wolf mit hellen, ins Grünliche changierenden Augen und kräftigen Reißzähnen.
„Der Desda hat sich in einen Wolf verwandelt. Die alte Dodi hat es ja immer gesagt.“
„Quatsch, der Desda ist bei einer Demo verhaftet worden. Er hat einen Polizisten gebissen. Ich weiß ganz genau, dass es der Desda war. Er hatte sein rotes Hoody an. Und am Kopf war er total pelzig. Mann, wo der sich rumgetrieben hat.“
Die Leute übertrumpften sich mit Vermutungen und rannten dem Bürgermeister das Haus damit ein. Auch die Journalisten witterten hier eine interessante Story.
Herr Danosch wusste es natürlich besser. Einige Wochen nach Desdas Verschwinden erhielt er eine E-Mail.
„Hallo, Opa, ich habe Mama gefunden, in Los Angeles. Und ich habe eine Menge Halbgeschwister und andere Verwandte. Ein Onkel heißt Elon, er versteht was von Elektronik und will mir helfen. Ich habe nämlich vor, eine Firma zu gründen. Ich werde sie 'Desda' nennen. Ich habe auch schon ein Computerspiel entwickelt. Es heißt 'Aufbruch zu den Sternen'.
Danke für alles.
Euer Destiny“
Herr Danosch nahm seine Frau in die Arme.
„Alles gut, meine Liebe, du wirst unseren Enkel bald sehen. Und natürlich auch unsere Tochter. Es wird Zeit, dass wir wieder auf Reisen gehen. Diesmal nach L.A.“
Ein halbes Jahr später stand das Danosch-Häuschen zum Verkauf, aber niemand wollte es.