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Der Tag an dem ich starb

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05.10.2007
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Der Tag an dem ich starb

Der Tag an dem ich starb

Es war noch früh am Morgen und das muntere Gezwitscher der Vögel versprach einen sonnigen Tag. Meine Kaffeetasse wärmten meine müden Finger und ich schaute aus meinem kleinen Küchenfenster hinaus auf den großen Park. Während ich dort auf der Holzbank, direkt neben dem kleinen See, einen jungen Priester beobachtete, der wie gemalt ein paar Enten und einem großen Schwan Brotkrumen zuwarf, wurde es mir plötzlich und wie ein Schlag bewusst: Heute ist der Tag, an dem ich sterbe!
Entsetzen durchtrieb meinen Geist und mein Körper war wie erstarrt. Ich nahm noch einen Schluck von meinem Kaffee und setzte die Tasse ab. Ganz ruhig, dachte ich und ging langsam in mein Wohnzimmer, um den Fernseher einzuschalten. Seltsam ist nur, dass ich an einem Sonntag sterbe. Dieser Tag erschien mir immer so sinnlos, ein Tag zum Nichtstun. Keine Arbeit zu erledigen, keine Geschäfte haben offen und abends muss man früh Schlafen gehen, um für den Montag wach zu sein. Ich hatte mich gerade aufs Sofa fallen lassen und die Füße auf den Wohnzimmertisch gelegt, als mich ein Gefühl der Panik überkam.
Was kommt da eigentlich auf mich zu? Ich meine, tut das weh oder muss ich mich darauf vorbereiten? Und was kommt danach?
Ich stand auf und lief planlos durch meine Wohnung. Ich habe mich vorher nie mit dieser Frage beschäftigt. Ratlos und ohne eine Ahnung warum, ging ich in die Küche zurück und trank einen Schluck Kaffee, als würde er mich aufklären. Da sah ich wieder aus dem Fenster, auf die Holzbank am Rande des kleinen Sees auf den jungen Priester, der dort den Enten und dem großen Schwan Brotkrumen zuwarf.
Sofort trank ich den Kaffee aus, zog mir schnell was an und schloss meine Wohnungstür hinter mir. Ich wollte raus in den Park, immerhin war es auch ein schöner Tag, den man besser draußen verbringt, gerade wenn es der letzte ist. Aber vor allem wollte ich mit dem Gottesmann reden. Der Priester wird schon wissen, was ich zu erwarten habe.
Die Luft war frisch, nicht kalt, aber sie legte sich angenehm auf meine Haut. An der Straße blinzelte ich nach links, nach rechts und wieder nach links. Dann kam es mir lächerlich vor, weil ich ja sowieso wusste, dass ich sterben würde. Aber ich wollte bestimmt nicht als neuer Straßenbelag enden. Autos kamen kaum welche. Kein Wunder, es ist ja auch Sonntagmorgen, etwa 10 Uhr oder so. Wer ist da schon mit dem Auto unterwegs.
Ich ging über die Straße und die dahinter liegende Wiese, die vor dem Park lag. Der Park war groß. Oft hatte ich mir vorgestellt, wie ich an einem Sonntag spazieren gehe oder vielleicht sogar Joggen. Der Park, so sagten die Nachbarn, bietet viele schöne Landschaften. Da wäre der See mit seinen umliegenden Wiesen, den ich ja von meinem Küchenfenster aus sehen kann, der weitläufige Laubwald dahinter, in dem Wanderwege angelegt wurden, und die leichte flache Hügellandschaft, die sich hinter dem Wald in der Ferne verliert.
Ich setzte mich neben dem Priester auf die Holzbank. Er bemerkte nicht sofort, dass ich ihn ansah und brach ein Stück des trockenen Brotes ab, das er in einer Tüte auf seinem Schoß verwahrte. Dann hielt er inne und schaute mich an: „Kann ich ihnen irgendwie helfen?“
Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte. Ich meine, einfach zu sagen, dass ich heute sterben würde, kam mir etwas unpassend vor: „Ich werde heute sterben.“ Der Priester warf ein paar Brotkrumen und blickte auf das andere Ufer des Sees. „Und haben sie Angst?“
Ich griff nach seinem Unterarm, um ihn daran zu hindern weiterhin Brotkrumen zu werfen und um mir mehr Aufmerksamkeit zu sichern „Nein, ich mache keinen Scherz. Ich bin mir sicher, dass ich heute sterben werde.“ Der Priester sah mich wieder an: „Das sagten sie bereits und es scheint sie zu ängstigen. Oder tut es das nicht?“
„Doch, doch, natürlich tut es das.“
„Warum?“
„Ich kenne den Tod nicht, ich weiß nicht was mich erwartet.“
“Nun ja, das kann ich ihnen sagen. Ihr Körper wird vergehen und ihre Seele wird beim Herrn verweilen. Bis zum Tag des jüngsten Gerichts“
Eine Ente schnappte sich eine der Brotkrumen und watschelte zurück ins Wasser.
„Und was passiert dann?“
Der Priester warf erneut Brotkrumen und ich ließ seinen Arm los. Ich bekam ja meine Antworten: „Am Tag des jüngsten Gerichts wird ihre Seele gewogen. Und je nachdem, ob sie gutes oder böses in ihrem Leben getan haben und ob sie Reue gezeigt und Busse getan haben, werden sie mit ewigem Leben belohnt oder mit ewigen Höllenqualen bestraft.“
Ich fand das klang plausibel, obwohl es fies in die Hose gehen konnte. Ich wollte ja nicht damit enden, ewige Höllenqualen zu erleiden. „Woher weiß ich denn, ob ich gutes oder böses getan habe?“
„Es kommt darauf an, ob sie sich immer an die zehn Gebote Gottes gehalten haben“, sagte der Priester und lächelte.
Der Schwan verjagte ein paar Enten, um sich seinerseits was zu Essen zu sichern, was lautes Geschnatter hervorrief. Ich wünschte dem jungen Priester einen schönen Tag und stand auf. Ich beschloss in Richtung Wald zu gehen, um die Wanderwege auszuprobieren, weil ich ja keine Gelegenheit mehr haben würde das zu tun.
Ich war schon einige Minuten in Richtung Wald gegangen und grübelte über das, was mir der Priester gesagt hatte, da fiel mir ein, dass ich die zehn Gebote Gottes gar nicht kenne. Diese Erkenntnis verursachte ein übles Bauchgefühl. Nun wusste ich nicht, ob mich ewiges Leben oder ewige Höllenqualen erwarteten. Blitzschnell drehte ich mich um und versuchte den Priester auf der nun doch schon entfernten Holzbank am Rande des Sees auszumachen. Zu meinem Schrecken war er nicht mehr dar.
Beunruhigt ging ich weiter und erreichte einen Weg, der in den Wald führte. Die frühe Mittagssonne stach in dünnen Strahlen durch das hohe Blätterdach und hüllte die Umgebung in eine mystisch schöne Atmosphäre. Die Vögel zwitscherten immer noch, allerdings nicht mehr so zahlreich wie am Morgen. Es war absolut windstill und ich konnte ein Eichhörnchen sehen, dass in einer Spirale auf einen dicken Baum kletterte.
Niedergeschlagen lehnte mich mit dem Rücken gegen einen Baum, der am Wegrand stand. Ich ließ mich an ihm heruntersacken und ließ den Kopf hängen. Nach einer Weile tippte mich jemand an. Vor mir joggte eine sportliche Frau auf der Stelle, mit Sportshirt, kurzer Nylonhose und einem Kopfhörer in der Hand, dessen Kabel im Dekollete des Tops verschwant.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie mich mit leicht keuchender Stimme. „Nein, ich werde heute sterben und habe Angst, dass ich nicht mit ewigem Leben belohnt werde.“
Sie half mir aufzustehen. „Was hast du denn großes in deinem Leben geleistet?“ Die sportliche Frau hatte jetzt aufgehört auf der Stelle zu Laufen und atmete durch. Ich verstand sie nicht wirklich. Was meinte sie mit großes geleistet?: „Was meinst du mit großes geleistet?“, fragte ich sie.
„Ich meine was du in deinem Leben erreicht hast, wofür man dich in Erinnerung behalten kann. Hast du einem anderen Menschen das Leben gerettet? Oder hast du vielleicht eine wichtige Position in einem Unternehmen oder bist du Politiker? Hast du ein Buch geschrieben? Vielleicht der Wissenschaft eine wichtige Erkenntnis geliefert oder bist du Künstler? Irgendetwas, das andere in Erinnerung behalten und dich halt unsterblich macht“
Ich musste überlegen. Etwas, das mich halt unsterblich macht, dass andere in Erinnerung behalten. „Nicht, dass ich wüsste.“
„Tja, dann bist du selber schuld.“, die sportliche Frau lächelte mich an. Wie meint sie das, selber Schuld. Ich meine, das hat mir ja keiner gesagt. Ich kann das doch nicht riechen, oder einfach davon ausgehen. „Wie meinst du das. Ich bin nicht selber schuld.“ Sie setzte die Kopfhörer wieder auf und Joggte weiter, ehe ich sie aufhalten konnte. „Das hat mir aber niemand gesagt!“, ich rief ihr hinterher, doch es half nichts. Nach ein paar Metern kam eine Wegzweigung und sie war hinter der linken Biegung verschwunden.
Ich fand das ganze nicht fair. Mir hätte ja schon jemand den Gefallen getan haben können, mich zu informieren. Aber nein, da wird man einfach vor vollendete oder viel eher vor nicht vollendete Tatsachen gestellt. Ich fühlte mich jetzt keineswegs besser, aber ich wollte mich trotzdem nicht wieder an den Baum setzten und warten, bis mich eine sportliche Frau antippt und mir sagt ich wäre selber schuld. Hätte man mir gesagt, dass es so ist, dann hätte ich auch danach gefragt. Ehrlich!
Die Frau einzuholen konnte ich vergessen, sie war schlicht zu sportlich. Deswegen ging ich einfach den Wanderweg weiter. Ich bog aber nicht in dieselbe Richtung, wie es die sportliche Frau getan hatte, sondern bog in die andere Richtung ab. Ich war fasziniert von den Bäumen, den Sträuchern und Pflanzen und von dem Geruch unter dem wunderbaren Blätterdach und fragte mich, warum ich nicht schon viel früher hier gewesen bin.
Nach ungefähr einer Stunde Schlendern stand am Wegrand neben einem kleinen Holzschrein ein andächtiges Kind mit einem Strauß Blumen in der Hand. Es stand da und schaute auf den Schrein, der aus kunstvoll geschnitztem Holz gefertigt worden war. Als ich näher kam bemerkte es mich und drehte sich zu mir um. „Hallo, was ist mit dir? Du siehst traurig aus.“, sagte es.
„Ich werde heute sterben und habe Angst, weil ich die zehn Gebote Gottes nicht kenne und nichts Großes geleistet habe, um unsterblich zu werden.“ Ich stellte mich neben das andächtige Kind, das sich wieder zum Schrein umgedreht hatte. Es legte eine der Blumen aus dem Strauß auf den Schrein und sagte: „Dann wirst du es in deinem nächsten Leben machen müssen.“ Es legte eine weitere Blume auf den Schrein.
Ich musste überlegen, was er damit meinte. Mein nächstes Leben, was hat das zu bedeuten? Da ich nicht dahinter kam, fragte ich das andächtige Kind: „Was meinst du mit meinem nächsten Leben? Wie viele habe ich denn?“
Eine dritte Blume schmückte jetzt den Holzschrein. „Die Lehre der Wiedergeburt besagt, dass jede Seele im Kreislauf des Lebens gefangen ist.“
Was soll das den? Jetzt bin ich auch noch gefangen. „Wie? Gefangen? Was ist denn der Kreislauf des Lebens?“ Das andächtige Kind legte die nächste Blume auf den Schrein und schaute zu mir hoch. „Deine Seele befindet sich momentan in deinem Körper. Wenn du stirbst, dann wandert sie weiter in den nächsten.“
Das fand ich gar nicht so toll. Ich mochte meinen Körper. Ich hatte mich an ihn gewöhnt. „Werde ich wieder so aussehen, wie ich es jetzt tue?“
Diese Frage brachte mir ein Lächeln ein: „Natürlich nicht. Je nach dem, ob du gut oder schlecht gelebt hast, wirst du als Gott, Mensch, Tier, Geist oder Höllenwesen wiedergeboren. Als Höllenwesen erfährst du das größten Leid.“
„Na toll!“, antwortete ich, „Und damit muss ich mich abfinden, oder wie?“
Das andächtige Kind legte schon wieder eine Blume auf den Holzschrein und so langsam fing es an mich zu nerven. „Du kannst natürlich auch die Erleuchtung erlangen und dem Kreislauf entfliehen, indem deine Seele in Ewigkeit aufgeht.“
Aha, da haben wir es doch. Das will ich machen. Gerade, als ich das andächtige Kind fragen wollte, wie ich mich aus meiner Gefangenschaft befreien kann, erklang eine Stimme: „Kommst du jetzt bitte? Wir wollen gehen!“ Anscheinend die Stimme seiner Mutter, denn das andächtige Kind lächelte mich noch einmal an und rannte in die Richtung, von der ich gekommen war.
Ich schaute ihm nach, dann wieder auf den Holzschrein. Ich zählte die Blumen, die auf ihm lagen und ging dann weiter den Waldweg entlang.
Nach einiger Zeit führte mich der Weg an eine kleine Lichtung, in deren Mitte ein großer Baum stand. Sein mächtiger Stamm brachte viele Äste und Zweige hervor, die sich in einer riesigen Krone ergaben. Am Fuße des Baumes lag ein Felsen und auf dem Felsen saß ein gebildeter Mann im Schneidersitz.
Er weckte meine Neugier und ich beschloss zu ihm zu gehen. Er bemerkte mich, doch reagierte er nicht, weil er konzentriert etwas in ein Buch schrieb, dass er auf seinen Oberschenkeln gelegt hatte. „Sei wünschen?“, sagte er in einem beschäftigten Ton.
„Was machen sie da?“ , fragte ich ihn. Er blickte um sich auf den Waldrand und schrieb etwas in das Buch. „Nun ja, ich lese ein Buch und mache Notizen.“
Das konnte ich einfach nicht fassen. Er las ein Buch und machte Notizen. Dabei gab es doch weit Wichtigeres. „Ich würde das nie machen.“ Der gebildete Mann unterbrach seine Beschäftigung, sah mich mit tiefen Augen an und fragte: „Warum nicht?“
Das war leicht zu beantworten. „Ich werde heute sterben.“
Seine Antwort: „Das mag ja sein, aber daran können sie nichts ändern.“ Das war mir klar. „Das kann ich nicht, aber ich versuche mich darauf vorzubereiten oder herauszufinden, was danach kommt.“
Der gebildete Mann lachte laut. „Das ist doch Blödsinn. Die Frage nach dem Tod hat noch niemand beantworten können.“ „Trotzdem versuche ich es. Immerhin hab ich nicht mehr viel Zeit.“ Ich wusste nicht genau, wie ich mich verhalten sollte.
„Die Frage kann auch niemand beantworten.“ Das machte mir ein wenig Angst. „Warum kann das denn niemand beantworten?“ Der gebildete Mann hatte noch immer das Lachen im Gesicht. „Wenn man eine solche Erfahrung beschreiben will, muss man sie gemacht haben.“
Einleuchtend war das schon, aber ich wusste auch, was mit meiner Hand passiert, wenn ich sie über ein Feuer halte. Trotzdem hatte ich es noch nie gemacht. Als hätte der gebildete Mann meine Gedanken gelesen, sagte er: „Außerdem ist es für das Leben total irrelevant. Aber jetzt muss ich weiter lesen. Einen schönen Nachmittag noch.“ Sofort war er wieder in sein Buch und seine Randnotizen vertiefte und tat so, als würde ich nicht existieren.
Ich beschloss weiter zu gehen und folgte wieder dem Waldweg. Meine Gedanken ließen mich nicht los. Ich dachte über den jungen Priester nach, die sportliche Frau. Auch über das andächtige Kind und sogar über den gebildeten Mann. Was mich erwartete wusste ich immer noch nicht, und ob es wichtig war, konnte ich nicht erklären. Da kam ich an das Ende des Waldes und an den Anfang der Hügel. Ich erklomm unter dem klaren Sternenhimmel, der mittlerweile die Nacht etabliert hatte, einen der grünen Erdwölbungen.
Oben angekommen verwunderte mich ein junger Strauch, der dort wuchs. Ringsum war keine Pflanze zu sehen, aber dieser Strauch stand da, als sei es das normalste der Welt.
Ich bemerkte, wie ich müde wurde und legte mich neben den Strauch.
An die Worte der Leute, die ich heute getroffen hatte, konnte ich mich noch genau erinnern. Aber ich wusste nicht, ob ich im Kreislauf des Lebens gefangen bleiben würde, oder ob mich irgendjemand in Erinnerung behalten würde. Ich wusste auch nicht, ob ich nach den Geboten Gottes gelebt hatte oder ob es überhaupt sinnvoll war, sich darüber Gedanken zu machen.
Ich fühlte mich so müde. Meine Augen schlossen sich und die Sterne verschwanden aus meinem Blickfeld.
Ich versuchte mich an die Eindrücke der Natur zu erinnern, an die Landschaften. Oder and die Dinge, die ich gemacht habe oder die Menschen in meinem Leben…
Ich konnte mich einfach nicht erinnern. –

Und dann…- starb ich.

 

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