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Der letzte Sprung

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10.03.2004
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Der letzte Sprung

Die Tage vergehen, und ich werde zusehens schwächer.
Es fällt mir immer schwerer, Besucher um mich zu haben,
aber ich habe das Gefühl, dass ich mir um meiner Familie willen Mühe geben muss. Einfach nur zu existieren erfordert unglaublich viel Energie. Es wäre soviel einfacher, die Augen zu schliessen, dem Schmerz nachzugeben und mich davontreiben zu lassen.
Doch das würde bedeuten, die Menschen, die mich lieben, zu betrügen, also widerstehe ich der Versuchung, so gut ich kann.
Ich fühle eine Hand auf meiner Stirn. Meine Mutter.
Ihre Stimmen klingen so ruhig, dass ich lächeln muss.
Mit ihnen rechts und links an meinem Bett fühle ich mich wie damals als kleines Mädchen unter meiner Bettdecke kurz vor dem Einschlafen, wenn die Lichter gelöscht wurden.
Mir scheint, dass es Mama und Papa auf gewisse Art auch bessergeht. Sie können etwas tun - sich um mich kümmern - , sie haben das Gefühl, mir zu helfen.
Papa liest mir aus dem Wirtschaftsteil der Tageszeitung vor. Die Wirtschaft ist mir zwar inzwischen egal, aber es macht ihm Freude mir vorzulesen.
Ich will ihnen sagen, dass ich sie immer geliebt habe,
selbst als unsere Beziehung auf dem Tiefpunkt angekommen war. Ich möchte es - aber ich bringe es nicht über mich. Diese Worte zu sagen wäre so endgültig. Ausserdem ist mir klar, dass sie wissen, wie sehr ich sie liebe. Schliesslich sind sie meine Eltern.
Bei Noel brauche ich keine Worte. Ich spüre seine Gegenwart im Raum, höre einen Satz, bevor er ihn ausspricht. Eine Berührung zwischen uns ist wie ein Gespräch. Noel ist wie ein Trainer. Er gibt mir die Motivation, noch einen Tag durchzustehen, obwohl ich weiss, dass es ihn innerlich verzehrt. Aber er lässt sich nichts anmerken. Wir versuchen nicht, füreinander stark zu sein; wir sind es.
Sollte ich meiner Familie und meinen Freunden sagen, dass ich spüre, wie sich meine Kraft langsam erschöpft? Dass ich mein Herz schon fast beschwören muss zu schlagen? Vielleicht haben sie es längst bemerkt. Aber letztendlich geht es doch um Qualität, nicht um Quantität. Und Qualität habe ich mehr als andere Menschen in ihrem ganzen Leben.

Ich bemerke wie mein kleiner Bruder den Raum betritt,
er setzt sich neben mich und ich streichel mit meiner Hand über sein Goldbraunes Haar und stupse seine Nase an. Er lächelt, tapfer. Ich schenke ihm meinen kleinen Hund, und fühle seinen kleinen weichen Mund an meiner Wange. Es ist nur ein leichtes Streifen gewesen, doch fühle wieviel Liebe darin liegt.
Mein Gott, es gab soviel Liebe in meinem Leben.

Plötzlich fällt mir das Atmen schwer. Ich ringe nach Luft. Noel bittet meine Eltern mit meinen Bruder einen Spaziergang zu machen - sie verstehen. Nacheinander geben sie mir einen Kuss, streicheln meine Haar und gehen.
Etwas ist anders, aber ich will nicht, dass sie es merken. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, den Kampf zu verlieren. Ich sage Noel, dass ich ihn liebe, ihn nicht verlassen will. Ich spüre seinen warmen Atem, während er mir versichert, dass uns nicht trennen kann. Ich flüstere, dass ich ihn so sehr liebe.
Alles scheint sich weiter und weiter zu entfernen, als ob ich mein Leben am Ende eines langen Tunnels beobachte und mich mit jeder Sekunde weiter entferne.
Noel liegt nun neben mir, streichelt meine Wange.
Er weiss es.
Während er meine Hand hält, erzählt er mir von dem Strand an dem wir lagen und ich versuche es mir vorzustellen, bildlich vorzustellen, als stünde ich in jenem Augenblick dort.
Noel macht mich auf den blauen Himmel aufmerksam.
Wie ein Saphir, denke ich und lächle.
Er bittet mich, mir vorzustellen wir stünden an den Klippen, hoch über dem Ozean.
Ich drücke seine Hand.
Komm, sagt er. Wir werden jetzt zusammen springen. Du kannst das. Du brauchst dich nicht zu fürchten.
Ich habe kaum noch die Kraft, seine Hand zu drücken.

Er küsst mich sanft, beinahe flüchtig.
Ich lasse dich nicht allein, flüstert er.
Da sehe ich es, das klare Blau des Wassers und des Himmels. Ich möchte diesen Moment fürimmer festhalten.
Noch einmal halte ich Noels Hand fest.
Ich weiss, ich schaffe es.
Ich springe, fühle die Schwerelosigkeit, alles fällt von mir ab.
Ich fliege.

 

Hi KittyJ.
Wundert mich dass och keiner was zu deiner Story geschrieben hat.
Ich finde sie unglaublich schön, aber auch ziemlich traurig.
Am Besten hat mir die Stelle gefallen mit dem Himmel und dem Meer. Ziemlich melancholisch, aber dennoch ziemlich toll beschrieben.
LG Lup

 

Hallo LupusVega,

danke für deinen Kommentar,
freut mich dass dir meine Geschichte gefallen hat.

Liebe grüsse

 

Wunderbar. Wie sich Trauer und Verzweiflung auflösen. Das geht ans Herz. Nimmt die Angst vor dem, was kommen mag.

Das gute an Geschichten über das Sterben ist, dass sich niemand traut, sie großartig zu kritisieren. Vielleicht, weil der eigene Tod so auf eben dieses "Eigen" begrenzt ist, dass es sinnlos wäre, einem anderen hineinzureden. Vielleicht, weil man Angst davor hat. Vielleicht, weil die Leute, die einem näheres darüber erzählen könnten, meistens keinen Wert auf lange Erklärungen legen und einem lieber das Blut aussaugen oder so... ;)
Was mir aber aufgefallen ist: zweimal fängt ein neuer Absatz an und vor dem Relativsatz hast du einen Zeilenumbruch:

Es fällt mir immer schwerer, Besucher um mich zu haben,
aber ich habe das Gefühl, dass ich mir um meiner Familie willen Mühe geben muss.

Ich bemerke wie mein kleiner Bruder den Raum betritt,
er setzt sich neben mich und ich streichel mit meiner Hand über sein Goldbraunes Haar und stupse seine Nase an.

Normalerweise sind mir Rechtschreibung und Formatierung egal, aber ich dachte dabei erst, es wäre irgendwas stilistisches. Wenn es das wäre, würde ich jetzt nach dem Sinn Fragen...

Bezaubert,
Artnuwo

 

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