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Der Geist wählt den Freitod
Der Geist wählte den Freitod
Irgendwann im Alter von neun Jahren wurde ihm bewusst, dass er in einem Raum mit drei Wänden lebte. Drei graue Wände, die mit gewissen Zeichen angemalt waren und die regelmäßig neu angemalt wurden. Einige Zeichen waren nur, wie gesagt, angemalt, andere wurden im Laufe der Zeit eingeritzt. Dies geschah, wenn er schlief. Oftmals versuchte er so lange wach zu bleiben, dass er sehen konnte, wer die Zeichen erschuf, doch das gelang ihm nie.
Die Zeichen waren Menschen, die anderen Menschen folgten. Sie ergaben immer einen durchgängigen Kanon, der Menschen wie ihn beschrieb, die Dinge kauften, dafür bezahlten, bestraft wurden, wenn sie es nicht taten, die ein Kollektiv zeigten, eine Gemeinschaft, wo jeder für ein Prinzip arbeitete und wenn er es nicht konnte von der Gemeinschaft gestützt wurde. Und überall war der mahnende Finger, der zeigte, dass dies die Wahrheit sei, die es galt zu verstehen.
In dem Raum war noch eine Pritsche, ein Waschbecken und eine Toilette. Wenn er auf seiner Pritsche saß, lag die Toilette ihm gegenüber und wenn er auf der Toilette saß, war zu seiner Rechten ein Fenster, zu klein um hindurch zu klettern. Das Fenster vermittelte ihm in seiner Jugend Tag und Nacht, also seine Aktivitäts- und Entspannungsphasen.
Irgendwann fiel durch dieses Fenster ein Pornoheft. Er wusste nicht, dass es ein Pornoheft ist aber er schaute es sich an und belustigte sich sehr daran. Wenn er es anschaute, erfüllte es ihn mit Sehnsüchten und Träumen und nach einer Zeit war er befriedigt und konnte es beiseite legen. Eines Morgens erwachte er jedoch und das Heft war verschwunden, dies geschah nach dem Tag, wo er es nicht mehr angeschaut hatte.
Ab diesem Tage fielen Kleider in sein zuhause, die ihn schmückten und die er gerne trug. Er war jetzt sechzehn und er trug die Kleider gerne. Auch die Schoppen, die vor seinem Bett standen, verzehrte er mit Genuss und ab und zu kletterte er sogar vor Freude über sein Dasein an den Plafond. Es fielen sogar Frauen herein, die ihn glücklich machten, genauso wie die Musik, die hin und wieder draußen gespielt wurde.
Mit Achtzehn dann, stellte er sich die Frage, ob er, wenn dieser Raum nur drei Wände hätte, den Raum nicht einmal verlassen konnte. Doch er stellte zu seiner Erbitterung fest, dass die vierte Wand aus Gitterstäben bestand, die undurchdringlich erschienen. Er rüttelte mit den Händen am Spalier, doch es öffnete sich nicht. Er war erpicht heraus zu finden, was hinter den Gittern lag, denn aus dem Raum sah er nur Dunkelheit und so ging er zum Fenster und schrie sein Begehren hinaus. Wochen, Monate und Jahre dauerte es bis er eine Antwort erhielt.
Eines Morgens dann kam ein milder Geruch aus dem Fenster, der sich in seinem Raum ausbreitete und ihn umfing. Der Geruch nahm ihn in den Arm und spielte mit seinen Sinnen ein heiteres Treiben. Er taumelte und fiel – stieß mit dem Rücken gegen das Spalier und es öffnete sich. Die Dunkelheit war verschwunden, eine paradiesische Welt lag vor ihm.
Er fand sich in einer reichhaltigen Pflanzenwelt wieder, ein Kolibri schwirrte an seinem Kopf vorbei und glänzte dabei in den Farben des Regenbogens. Qualenartige Tiere und rasant springende Gazellen kreuzten seinen Weg. Der Himmel leuchtete in den wunderschönsten Farben und jede zweite Blume fluoreszierte in wunderschönem Blau oder geliebtem Rot. Ein Mahl der ergebensten Köstlichkeiten wartete auf ihn, Köstlichkeiten, die für ihn in Geschmack und Umfang völlig unbekannt waren. Essen, das war ihm von je her unbekannt.
Irgendwann erwachte er wieder in seinem Raum, den er jetzt als Zelle betrachten konnte. Denn der erste Gedanke, der ihm kam, war das Spalier erneut zu durchschreiten, doch es war wie anfangs verschlossen. Dann ging er zum Fenster und rief hinaus, dass man ihm den wohltuenden Duft nicht vorenthalten solle. Und so wie er rief, kam es zurück. Der Raum füllte sich mit dem herbeigesehnten Gase und das Spalier stand erneut offen. Doch kam er nicht in die Welt, die er vor einem Tag noch erlebt hatte. Er war in einer Höhle, in einer Höhle von Wahrheiten. Er hörte Laute, die er als Schreie kennen lernte, er traf Menschen, die sich Qual, Leid und Schmerz nannten. Aufs grausamste entstellte Figuren, in einer dunkelroten und kaum beleuchteten Höhle. Einsamkeit war hier das bekannteste Gut, das er fühlen lernen. Angst, Schmerz und Flucht erklommen seinen Kopf. Erst jetzt wurde ihm das Fühlen bewusst, durch das Kennenlernen des Pendant zu der paradiesischen Welt. Er lief, so schnell er konnte, doch es hörte nicht auf - die Höhle setzte sich in seinem Kopf fest. Er kam zurück in seine Zelle, legte sich auf die Pritsche und schlief ein.
Am nächsten Morgen war das Spalier geschlossen, doch er sah die Horrorwelt dahinter. Warum war die paradiesische Welt nicht geblieben, warum aber die Horrorwelt?! Nun erbat er Schoppen durch das Fenster, um seine Sinne zu betäuben und die Horrorwelt unerkennbar zu machen. Schoppen, um Schoppen, um Schoppen – solange bis zum Tage der letzten Erkenntnis. Die letzte Erkenntnis, die ihm verriet, dass er jeden verdammten Morgen, sein ganzes Leben lang die Horrorwelt sehen musste und dass er erst durch die Horrorwelt die Gefühle kennen gelernt hatte, die nun seine Peiniger waren. Auch brachte diese Erkenntnis mit, dass er besser nie die paradiesische Welt hätte kennen lernen dürfen, dann wäre er mit der Horrorwelt, als akuter Erkenntnisstandpunkt zurechtgekommen. So wurde es zu seiner wohl überlegten Synthese so lange den Kopf vor die Wand zu schlagen, bis er verstarb.