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Das Gesicht der Zeit
Ein Sprung und ich stand im Waggon. „Immer diese Verspätungen“, schimpfte ich und fühlte mich noch immer bekifft, „hätte ich nur gestern Abend nicht so viel geraucht“
Ich hatte gerade einen Klumpen Shit in der Hosentasche entdeckt und fragte mich, was mich ritt, diesen großen Klumpen gekauft zu haben.
Ja warum nur? Verdammt! Obwohl ich wusste dass ich die Grenze nach Deutschland passieren werde!
Bin ich schon verrückt geworden? Oder nur viel zu leichtsinnig?
Unruhig wartete ich, bis sich die Fahrgäste vor mir setzten. Von einem Frösteln getrieben, drang ich weiter in den Waggon vor, trug dabei die Kälte mit ins Innere. Am Platz angekommen, zog ich mich ans Fenster zurück und wickelte mich in den Mantel. Der Sitz neben mir war frei, so holte ich ein Buch von Dürrenmatt hervor, legte es neben mich.
Nicht weit von mir entfernt versuchten drei Passagiere die Koffer und Taschen in ihrem Blickfeld unterzubringen. Der Aufruf vom Bahnhof, das Gepäck im Auge zu behalten, drückte sich wohl in diesem Versuch aus.
In einigen Gesichtern sah ich Anspannung. Andere waren von einer Unruhe gezeichnet, viele wirkten müde und abwesend. Sie waren mir am liebsten, denn sie ertrug ich ohne von Ängsten ergriffen zu werden. Ich schaute in stumpfe Augenpaare, die ihre schlaffen Körper rücksichtslos gegen die Armlehnen stießen, bis sie zur nervlichen Erleichterung, an einem Platz zusammensackten. Die Geräusche schlugen in meinen benebelten Kopf ein und peinigten mich.
Bei manchen Fahrgästen erkannte ich in ihren hastigen Bewegungen Vorfreude. Plötzlich erfasste sie auch mich. Ich wollte lesen. Entschlossen wendete ich mich ab, griff nach dem Buch und schlug es auf.
Ich schreckte erst wieder auf, als zwei Männer den Gang entlang kamen.
„Scheiße, Schnüffler!", entfuhr es mir, „ wohl der Richter und sein Henker“, das Buch und das THC im Blut zeigten ihre Wirkung. Verbindungen knüpften sich wie von alleine. Da spürte ich einen Druck in der Blase. Ich wäre am liebsten aufgesprungen und hätte mich auf der Toilette verschanzt.
Stattdessen kam noch alles schlimmer, mit der kühlen Luft die die Männer herein brachten drang auch eine Wolke Marihuana herauf. Ich griff mir instinktiv an die Hosentasche. Angespannt beobachtete ich die beiden Männer, wie sie durch die Reihen näher kamen und unaufhörlich auf mich zu steuerten.
Der Ältere hatte auffällig feine Gesichtszüge. Der andere war jung, lang und nervös. Er besaß Arme die weit über die Hüften reichten. Mit seine grobschlächtige Händen griff er tollpatschig nach den Lehnen.
Der Intellektuelle, schien, um die Platznummern besser lesen zu können, seine Gestapobrille mit den kleinen Gläsern in den Händen zu halten.
„Das wird wohl gleich ein Schauspiel geben“, rief es in mir, „da will ich wirklich nicht die Hauptrolle spielen."
Mein Blasendruck verstärkte sich.
Die wollen doch nur kontrollieren. Fahrgäste können das keine sein, nein, so wie sie das Gepäck und ihre Besitzer in Augenschein nehmen, ist das unmöglich.
Was für ein unerhörtes Verhalten!
Während der Ältere ruhig von einer Sitzreihe zur nächsten vordrang, folgte sein Partner ungeduldig. Er musste jedoch, da er zu schnell vorwärts kam, immer wieder in seinen Bewegungen innehalten.
Langsam arbeiteten sie sich zu meinem Platz vor. Der Blasendruck wurde immer unerträglicher und ich begann zu zappeln.
Ich müsste mich verdächtig machen, spränge ich jetzt auf um vor ihnen zu den Toiletten zu eilen?
Ich blieb also sitzen, jedoch konnte ich mich nicht ruhig halten. Ich spürte wie mir Scheiß über die Stirn lief. Ich konzentrierte mich auf meinen Körper, versuchte ihn unter Kontrolle zu bekommen.
Kaum standen sie neben mir, spürte ich den Blick des Alten. Kurz schaute ich auf, blickte durch seine Gläser. Kalte Augen sahen mir entgegen, streiften über mein Gepäckstück zwischen den Beine und wanderten zum Buch in meinen Händen. Dort blieben sie hängen.
Ich erwartete von ihm angesprochen zu werden. Doch nichts geschah, so nickte ich nur verkrampft und wendete mich wieder den Seiten zu. Der innere Kampf ging dabei in die zweite Runde. Ich rutschte hin und her.
Jetzt wird er sicher etwas sagen.
Immer noch stand er neben mir. Plötzlich wendete er sich ab. Der junge Mann hinter ihm trat an seinen Platz.
Wird er mich filzen?
Ich schielte hinüber.
Er würdigte mich jedoch nur mit einem kurzen Blick, dann wendete er sich ab, ging weiter.
In diesem Augenblick vernahm ich einen groben Befehl.
„zeigen sie uns ihr Gepäck! Grenzkontrolle!“
Ich richtete mich automatisch im Sitz auf. Vor mir sprang ein kleiner ängstliche Mann auf, zerrte eine Tasche hervor.
Mit barscher Stimme, forderten sie den Unglückliche auf, mit ihnen zu kommen. Gefolgt von den beiden Zivilen wurde er in den Vorraum vor die Toiletten getrieben.
Dort angekommen, streifte sich der große Lange Handschuhe über und griff in die Tasche, wühlte ungeniert in den fremden Sachen, räumte ein paar Kleidungstücke heraus und drückte sie dem Fahrgast in die Hand.
Gehe hinüber und sage etwas! So kann man in unserer demokratischen Gesellschaft nicht mit Menschen umgehen! Entweder man kontrolliert alle oder keinen, rief eine innere Stimme, forderte mich zum Agieren auf. Im selben Augenblick spürte ich wieder meine illegale Ware in der Hosentasche und ich schwieg, blieb verunsichert sitzen und rührte mich nicht.
Ich musterte das Geschehen aus sicherer Distanz. Muss man sich das mitansehen?
Ich begann grimmig und auffällig das Geschehen zu verfolgen. Mut um mich zu regen und etwas zu sagen kam auch in diesem Moment nicht auf.
War ich nur wie alle Schaulustigen, oder konnte mein Blick den Protest gegen ihr Verhalten und meinen Ärger verraten? Ich wusste keine Antwort darauf, fühlte mich plötzlich nutzlos und ausgelaugt.
Nach einer Weile wendete ich mich ab, sah verzweifelt in mein Buch.
Ich hörte die gebrochenen Sätze des Fahrgastes. Die Stimmen der Grenzpolizisten klangen klar und hart herüber. Plötzlich brach die Unterhaltung ab. Der Lange und der Kurze kamen an mir vorüber. Automatisch blickte ich zu den Toiletten. Der kleine Mann räumte dort auf den Knien seine Sachen zusammen. Kaum war er damit fertig, stand er unsicher auf und taumelte den Gang entlang.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich.
Er zuckte zusammen und ging in Abwehrhaltung, blickte böse zu mir herüber. Mit einem verängstigten „Ja, ja“ ging er weiter und setzte sich auf seinen Platz.
„Was habe ich falsch gemacht?", fragte ich mich, stand auf und ging zu den Toiletten.
Nach kurzer Zeit kam ich zurück. Dabei stieß ich auf erneut auf den Fahrgast. Ich sprach ihn erneut an, fühlte mich für die Kontrolle und für mein feiges Verhalten schuldig. Er nickte, suchte nach Worten, antwortete kurz und stieg bei der nächsten Haltestelle aus.
Auch für mich ging die Fahrt zu Ende. Ich musste an der nächsten Haltestelle umsteigen. Ich durchquerte die große Bahnhofshalle und trat auf den schummrigen Bahnhofsvorplatz. Kaum angekommen bettelte mich schon ein ungepflegter junger Mann an. Ich drückte ihm eine Münze in die Hand und wollte mich abwenden. Da erkannte ich ihn. Er war mir schon auf einer anderen Fahrt aufgefallen und wir hatten auch ein paar Worte gewechselt. Die Sympathie für ihn stellte sich auch diesmal ein und wir kamen ins Gespräch. Als ich ihn gerade fragen wollte, ob wir gemeinsam einen Dübel rauchen, bemerkte ich hinter uns Polizisten, die an uns vorbei eilten und auf den Platz hinaus stiefelten.
Ich lenkte schnell das Gespräch auf etwas anderes und wir führten unsere Unterhaltung fort. Es brauchte jedoch nur fünf Minuten, dann kamen die Beamten schon in die entgegengesetzte Richtung, schoben diesmal eine gebückte Gestalt vorwärts.
„Die Kontrolle von Menschen nach ihrem Aussehen und ihrer Hautfarbe geht mir ziemlich auf den Sack“, stieß ich hervor und gab unserem Gespräch eine unerwartete Wendung.
„Was? Das verstehst du nicht? Auch die Bullen sind knapp bei Kasse. Sie müssen Zeit und Geld sparen“, erwiderte mein Gesprächspartner, schaute mir direkt ins Gesicht. „Die können es sich auch nicht mehr leisten, alle zu filzen. Und bei den Schwarzen finden sie ja immer was, das weißt du ja genauso gut wie ich!“
Ich spürte meine Finger in der Hosentasche den Klumpen umspannen und wollte etwas erwidern, sagte aber nur „aber“, verstummte, suchte nach einer Gehässigkeit in seinen Augen, fand sie nicht.
Ich blieb sprachlos. Schon das zweite mal heute. Ich schämte und schäme mich, meinen Standpunkt nicht vertreten zu haben und warum hatte ich nicht zum Beweis, dass hier mehr Menschen etwas zum Rauchen mitführten, einfach einen Joint zum teilen angeboten. Ich hörte resigniert in mich hinein. Gerne hätte ich meinem Gegenüber gesagt:
„Bitte, bitte, übertrage nicht deine Nöte auf die der Polizei, sie ist keine Person, sie ist nicht so wie du. Sie ist ein Staatsorgan und muss gerecht handeln. Kein Mangel an Mitteln erlaubt ihm ein anderes Vorgehen“
Wie gerne wäre ich nicht unfähig und blockiert der Situation ausgeliefert gewesen, sondern stark genug um den Konflikt einzugehen. Aber stattdessen nickte ich und verabschiedete mich freundlich.
Als ich, nach dem ich mir einen gedreht hatte, frisch bekifft im Anschlusszug saß, musste ich an den obdachlosen Jugendlichen denken. Unsere Begegnung kam mir wie ein Deja-vu vor. Plötzlich glaubte ich sogar, schon das letzte Mal über das selbe Thema gesprochen zu haben. Oder bildete ich mir das alles nur ein?
Es hallte auf jeden Fall nach. Es verhallte. Das Echo wurde zu einem Traum. Er griff nach mir. Müde erwachte ich auf dem unbequemen Sitz. Wut stieg in mir auf.
Kaum hatte ich meinen Kopf aus dem Nebel des Schlafs befreit, musste ich an den intellektuellen Grenzpolizisten denken, der mit seinem Kollegen den Reisenden bloßstellte. Da sah ich Bilder, Szenen, die ihn beim Heimkommen mit seinen Kindern zeigten. Da saß er bei den Kleinen und erzählte von seiner Arbeit. Was konnten sie schon von den Berichten verstehen? Sie bekamen, von einer Abenteuerlust erfasst große Augen, während er mit seiner angenehmen Stimme von der Wichtigkeit Menschen nach Aussehen und Hautfarbe zu kontrollieren referierte und mit jedem weiteren Wort sein Handeln rechtfertigte.
Ich lege den Füllfederhalter auf den metallenen Tisch, schiebe das Blatt Papier mit meinem Bericht zur Seite, beäuge ihn, ziehe dabei den kalt gewordenen Kaffee näher an mich heran. Ich will den Text noch zweimal handschriftlich kopieren und dann …, ja, was dann? Wie komme ich an die Öffentlichkeit?
In Gedanken versunken schaue ich auf. Ein Radfahrer hält vor dem Fenster, steigt ab, kommt herüber. Er hat einen Lieferantenwürfel von „Uber“ auf seinen Rücken geschnallt, meine Augen wandern weiter über den Platz vor dem Café. Von meinem Tisch aus überblicke ich den kleinen Park mit den Spielanlagen in der Mitte. Kinder klettern auf einem Gerüsten. Ich zögere kurz und nehme die Tasse zur Hand. In diesem Moment sehe ich wie drei schwerbewaffnete Polizisten der Antiterroreinheit aus dem gegenüberliegenden Gerichtsgebäude treten und quer durch den Park marschieren.
Mutlos lasse ich die Hand sinken, suche zitternd die kleine Mulde in der Untertasse. Ohne einen weiteren Schluck genommen zu haben, erhebe ich mich. Schnell streife ich mir den Mantel über.
„Es wird Zeit zu gehen, ja“, murmele ich und wende mich der Tür zu, atme die frische Luft.