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Blick vom Rathausturm

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11.07.2021
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Blick vom Rathausturm

Jedes Jahr zu Ostern muss ich an ihn denken. Irgendwie habe ich dann immer das Gefühl, dass er in Berlin ist und nach mir sucht. Einmal erwähnte ich seinen Namen in einem Gespräch. Der, der am Tresen neben mir saß, wurde hellhörig. “Den kenne ich. Er ist ein Freund von meinem Kumpel. Vor drei Jahren war er für ein Wochenende mit Frau und Tochter bei mir.” Der Besuch scheint keine große Begeisterung bei ihm ausgelöst zu haben. Der Grund dafür ist, dass mein bester Kumpel Harry und dessen Frau sich in seiner Gegenwart ständig gestritten haben. Sie ist dann auch alleine nach Hause gefahren. Über diese Ehe hatte sich schon einiges bis nach Berlin rumgesprochen. Es war sogar von Prügel die Rede.

Ich staunte. Da war mein ehemals bester Kumpel also in Berlin gewesen und hatte mich gar nicht besucht. Da fällt mir ein, dass ich umgezogen bin, und er meine neue Adresse nicht hat. Die hätte er sich aber bei Freunden von uns besorgen können. Wahrscheinlicher ist, dass er gar nicht versucht hat, mich wiederzusehen. Er hatte wohl mit diesem Kapitel in seinem Leben, in das ich reingehörte, abgeschlossen.

Harry ist ein Mensch, der wichtige Entscheidungen immer ganz spontan trifft. So ist er, der aus einer Kleinstadt in Mecklenburg kommt, auch nach Berlin gelangt. Seine Freundin hatte mit ihm Schluss gemacht. Im Heizungskeller von seinem Betrieb hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten. Zum Glück fand man ihn, und er setzte sich spontan in den Zug nach Berlin, wo er ein paar Leute kannte.

Einmal erwähnte ich vor ihm, dass ich jemanden kennengelernt hatte, der den Spitznamen Gang trug, und ein alter Bekannter von einem Freund von mir war. “Stell dir vor, er hat uns beide gar nicht in die Wohnung gelassen und uns vor der Tür abgefertigt.” Harry erwiderte: “Den kenne ich. Er hat eine Ladenwohnung in Lichtenberg, jedenfalls als ich ihn kennengelernt habe, war das so. Dort habe ich als erstes gewohnt, als ich nach Berlin gekommen bin. Bei ihm ist damals alles aus und ein gegangen, was Rang und Namen hatte in der Szene. Ich darauf: “Na ja, jedenfalls lässt er jetzt keinen mehr über seine Schwelle. Angeblich wegen seiner schwangeren Frau.”

Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass mein bester Kumpel Harry sich auch mal dahingehend entwickelt. Ist ja fast wie ein Dejavue.

Ich weiß gar nicht, wie lange wir befreundet waren. Waren es zwei oder drei Jahre. Auf alle Fälle waren wir Anfang Zwanzig, als wir uns kennenlernten. Es war auf einem Open Air in der Lausitz. Ich war alleine dahin getrampt, und als es dunkel wurde, hatte ich vor einer Bushaltestelle in der Nähe der Braunkohlegruben übernachtet. Ich hörte die ganze Nacht das Geräusch der Schaufelbagger. “Willst du bei uns im Arbeiterwohnheim übernachten?” hatte mich die Schichtablösung gefragt. “Ne, danke. Ich liege hier ganz bequem”, hatte ich den Arbeitern geantwortet.

Als es endlich Morgen wurde, fand ich das Gelände, wo das Open Air stattfand. Alle schliefen noch. Nur ein Typ mit langen, zerzausten Haaren und einem selbstgestrickten Pullover lief durch die Gegend. “Sie haben mir meinen Schlafsack geklaut. Wo ist mein Schlafsack?”, wiederholte er in einer Tour. Das war Harry, bürgerlich Heinz Georg, und so lernten wir uns kennen. Es stellte sich raus, dass wir beide in Berlin wohnten aber ursprünglich aus Mecklenburg/Vorpommern kamen.

Bei mir war es Freundschaft. Er wollte wohl zu Anfang was von mir, nahm es mir aber zum Glück nicht übel, dass mir das nicht so ging, und wir wurden richtig Kumpels, was zwischen Mann und Frau selten ist. Aber nach einer Weile verliebte er sich auch in jemand anders, seine Gefühle wurden diesmal erwidert, was unser Freundschaft aber keinen Abbruch tat. Seine Freundin ging fremd, worunter er heftig litt, und die Beziehung ging auseinander. Er gab seine Arbeit auf und betrank sich rund um die Uhr, seine Antwort auf Probleme zu reagieren.

“Eigentlich kenne ich ihn gar nicht richtig”, musste ich mir später eingestehen. Wahrscheinlich hat ihm schon immer an nichts mehr gelegen, als daran eine Familie zu gründen, weshalb er ja auch so überreagiert hatte, als die Freundin aus seiner Heimatstadt ihn verließ. Er hatte mal erwähnt, dass seine Eltern geschieden waren, redete aber nie über seinen Vater. Es hatte wohl ein heftiges Familiendrama gegeben, vielleicht mit Prügel und Alkoholismus, wovon er als Kind einiges mitbekommen hatte. Heute mache ich mir Vorwürfe, dass ich mich nicht näher dafür interessiert habe. Vielleicht wären wir dann noch befreundet. Er sehnte sich wohl, wie die meisten von uns, nach heiler Welt.

Es wundert mich nicht, dass er später zum Gleisbau gegangen ist. Wir waren damals ja in den Zügen und auf dem Bahnhof zu Hause. Jedes Wochenende waren wir unterwegs und strandeten meist nachts in der Bahnhofsmitropa, wo wir Ärger mit der Transportpolizei bekamen.

“Eigentlich mag ich den Namen Harry ja nicht. Mir hat mal einer erzählt, dass ein Harry bei einer Fete in den Schornstein geschissen hat”, erzählte er mir.

Er konnte sehr schlecht sehen. Einmal stand er mir auf der Greifswalder Straße an einer Ampel gegenüber und beachtete mich nicht. Als die Ampel auf Grün geschaltet hatte, ging ich auf ihn zu. “Was ist mit dir los?”, fragte ich ihn. Es stellte sich heraus, dass er mich gar nicht gesehen hatte.

Einmal war ich krank, Halsentzündung, aber nicht versichert. Er hatte noch Kapseln mit Penicillin bei sich zu liegen. Sie schlugen auch gleich an. Er brachte mir auch “Einer flog über das Kuckucksnest” vorbei. Dieses Buch, das im Osten schwer zu haben war, hatte seine damalige Freundin irgendwo aufgetrieben. Das Buch in Verbindung mit dem Penicillin brachte mich wieder auf die Beine.

Diese Freundin, die ihn liebte, behandelte er sehr schlecht, worüber ich mich wunderte, da ich ihn ganz anders kannte. Er schien auch eine andere Seite zu haben. Sie tat mir leid. Liebe macht hörig. Das kannte ich auch. Ständig ließ er sie irgendwo stehen, fand sich aber auch plötzlich und unverhofft betrunken nachts oder frühmorgens bei ihr vor der Tür ein.

“Ich habe eine rothaarige Frau kennengelernt. Sie stammt aus meiner Heimatstadt.” sagte er. Das war übrigens beim Teterower Bergringrennen. Mir war zu dem Zeitpunkt gar nicht bewusst, das gerade der Countdown für unsere Freundschaft lief. Sie kam mit nach Berlin, und die beiden wurden ein Paar, was mich für ihn freute. Eine Weile wohnte sie auch bei mir. Bald kündigte sich Nachwuchs an.

Ich hatte angenommen, dass wir beide immer Freunde bleiben würden, doch er wurde immer merkwürdiger. Eines Tages fragte mich jemand: “Hast du schon gehört, das Harry jetzt in Anhalt wohnt. Da hatte er, der sich nie um eine Wohnung in Berlin gekümmert hatte, sondern immer nur bei Freunden wohnte, seine schwangere Freundin an die Hand genommen und war mit ihr vor der Tür eines Kumpels in einer Kleinstadt in Sachsen/Anhalt erschienen, der von seinem Glück nichts wusste und wenig begeistert war.

Genauso spontan, ohne festen Plan, war er ja auch nach Berlin gezogen. So lebten die beiden, die sich eigentlich kaum kannten, eine Weile bei ihm auf dem Dachboden und stritten sich ständig. Sogar von Prügel war die Rede, was ich mir bei Harry gar nicht vorstellen konnte. Es tat mir leid, dass seine Beziehung so schwierig war. Nach einer Weile suchte er sich eine Wohnung, bekam Arbeit bei Gleisbau, und seine Tochter wurde geboren.

Die erhoffte Kleinstadtglückseligkeit mit Familienanschluss wurde es wohl nicht. Sein Kumpel aus dem Ort, mit dem er eine Freundschaft aufbauen wollte, arbeitete außerhalb und war wenig zu Hause. Seine Frau und die Frau von Harry mochten sich nicht. “Du hast doch bestimmt neue Kumpels gefunden”, sagte ich. “Ich habe gar keine Kumpels, erwiderte er. “Du musst mal sehen, mit wem ich dort in der Kneipe sitze, die größten Säufer.”

“Er gilt da bestimmt als stadtbekannter Trinker”, meinte ein anderer Kumpel von mir.

“Früher, als ich noch in Berlin gewohnt habe, bin ich gerne mit dem Zug zu Open Airs nach außerhalb gefahren. Ich bin auch immer gerne wieder hierher zurück gekommen”, erzählte er mir. “Warum bist du dann nicht in Berlin geblieben?”, fragte ich ihn. Darauf erwiderte er nichts. Ich glaube Harry liebte Berlin, hielt es aber für ein Sündenpfuhl, da ist er nicht der einzige und wollte sein Heil in der Provinz suchen.

Ich habe mir mal youtube Videos von dieser Stadt aufgerufen, in der Harry ein paar Jahre gelebt hat und in die er mich nie eingeladen hat. Ein Video hatte die Überschrift “Blick vom Rathausturm”. Durch diese Gassen ist Harry also jahrelang gelaufen. Ob er sich wohl den handgeschnitzten Altar von Vierzehnhundert angekuckt hat, von dem der Sprecher schwärmt. Ich glaube eher nicht. Ist Harry eigentlich mal auf den Rathausturm geklettert? Von dort oben sieht man ja auf eine Menge Wasser. Da hätte sich Kanufahren und Angeln angeboten.

Ich sah ihn nach seinem plötzlichen Aufbruch aus Berlin nur noch genau zwei Mal.

Das erste Mal erzählte er: “Als unser Fernseher in Arsch gegangen ist, habe ich sofort über Leasing einen neuen gekauft. Ansonsten wäre meine Ehe in Gefahr gewesen. Wir kommen eigentlich nur im Bett gut klar. Wenn wir aus dem Bett raus sind, fangen wir an zu streiten.” “Das ist doch schon mal was”, sage ich. “Hast du ein Bild von deiner Tochter?”, fragte ich ihn. “Ich hab leider keins bei”, erwiderte er. “Ich bin nicht glücklich aber auch nicht unglücklich. Und ja, ich bin ein Spießer geworden.”

Er ist der Intellektuelle, der den Arbeiter spielt, besoffen aus der Kneipe nach Hause kommt und seine Frau verprügelt.

Bei einem Konzert im Kesselhaus im Prenzlauer Berg treffe ich den Kumpel von Harry wieder. Er ist Fan der Band und extra deswegen aus seiner Kleinstadt in Sachsen/Anhalt nach Berlin gekommen. “Was macht Harry?” frage ich ihn. “Der lebt schon lange nicht mehr bei uns. Er wohnt jetzt in Bayern und ist immer noch beim Gleisbau. Einmal im Jahr kommt er noch zu Besuch.”

Er klingt traurig. “Vielleicht hätte ich ihm damals mehr helfen müssen”, sagt sein Kumpel. Ich glaube, die meisten nehmen Gefühle wie Freundschaft und Liebe, wenn die ihnen so einfach entgegengebracht werden, für zu selbstverständlich. Er erzählt mir: “Seine Tochter sieht aus wie seine Frau, aber sie ist wie Harry.” “Und was macht seine Ehe?”, frage ich. “Das Schlagen hat aufgehört, dafür hat seine Frau jetzt die Überhand gewonnen, und das ist noch beschissener. Du würdest ihn gar nicht mehr wiedererkennen, so dick ist er geworden.

Aber das schlimmste ist, dass er einfach nicht mehr derselbe ist. Daran hat bloß seine Frau schuld”, sagt er, der sich nicht eingestehen will, dass sein Kumpel sich von selber vollkommen geändert hat. “Spielt er denn noch Gitarre?” Ich hatte durch Zufall mitbekommen, dass Harry ein sehr guter Bluesgitarrist ist, das war übrigens beim Teterower Bergringrennen, wovon ich vorher nichts geahnt hatte. Sein Kumpel erwiderte: “Seine Gitarre hat er bestimmt schon jahrelang nicht mehr angefasst.”

Da hatte Harry wieder das gleiche gemacht und spontan freundschaftliche Beziehungen gekappt, um mal wieder an einem unbekannten Ort ein neues Leben angefangen. Wahrscheinlich lebt er auch dort heute schon lange nicht mehr, sondern hat jetzt in Peru eine Krokodilfarm aufgemacht. Jedenfalls war das das letzte Mal, das ich was von ihm gehört habe.

Das zweite Mal, wo ich ihn nach seinem Wegzug sah, klopfte es nachts. Er hatte sich wohl meine Adresse bei gemeinsamen Bekannten besorgt. Er legte sich einfach in mein Bett rein. “Harry, du bist verheiratet und hast ein Kind”, sagte ich. “Ich will ja gar nicht, mit dir schlafen.” Wir kuschelten uns aneinander, wie wir es früher oft getan hatten, wenn wir unterwegs waren. Es war wohl eine andere Form von Liebe. Ich brachte ihn danach noch zum Zug. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.

Ich musste aber wieder an ihn denken, als es auf einer Bahnstrecke mal einen großen Unfall gab. Fünf Gleisbauarbeiter wurden überrollt. In Prag, im U fleku, einer berühmten Schwarzbierkneipe, früher ein Treff für die Blueser aus dem Osten Deutschlands, hatte ich mal jemand kennengelernt, der mir erzählte, dass seine Arbeit ausschließlich darin bestand, seine Kollegen beim Gleisbau vor den herannahenden Zügen zu warnen. “Vielleicht haben sie seinen Job ja nach der Wende eingespart”, ging es mir durch den Kopf.

Einmal hatte ich einen Traum. Ich bin in einer fremden Stadt. Auf dem Marktplatz treffe ich Harry. Er nimmt mich mit nach Hause. Aber ich darf nur im Hausflur schlafen, weil seine Frau nicht will, dass ich in die Wohnung komme.

 

Hallo @Frieda Kreuz ,

von allen Geschichten, die ich von dir gelesen habe, ist scheint mir diese am stimmigsten gelungen.
Du bleibst beim Thema, der Plot ist übersichtlich und man spürt, dass es um eine seltsame Beziehung geht, um eine seltsame Form von Liebe und Zuneigung.

Das lebt in der gesamten Geschichte vom Anfang bis zum Ende, dass man sich laufend fragt, was ist das, was die beiden da miteinander haben?
Ist es doch eigentlich erotische Anziehung, die da eine Rolle mit spielt? Wenigstens auf Harrys Seite könnte man es stark vermuten, weil sein ursprünglich, auch dahingehender Wunsch dürfte sich ja nicht so einfach in Luft aufgelöst haben.

Klar wird nicht, welche Form der Zuneigung die Protagonistin innehat, denn sie sagt zwar, es sei alles nur rein freundschaftlich, aber so ganz nehm ich ihr das nicht ab. Genau das macht aber die Spannung in dieser Geschichte aus.

Jedes Jahr zu Ostern muss ich an ihn denken. Irgendwie habe ich dann immer das Gefühl, dass er in Berlin ist und nach mir sucht.
Prima Eingangssatz, der Lust aufs Weiterlesen macht, weil hier alles offen ist, aber irgendwas nicht stimmt, sich ankündigt und so weiter.
Es war sogar von Prügel die Rede.
Das wirkt so angepappt, da du es später ja noch im richtigen Kontext verwendest, würde ich es hier streichen.
Da war mein ehemals bester Kumpel also in Berlin gewesen und hatte mich gar nicht besucht.
Hier fragt man sich, was ist das für eine Sehnsucht, die sie da hat. Das hält die Spannung.
Bei ihm ist damals alles aus und ein gegangen, was Rang und Namen hatte in der Szene. Ich darauf: “Na ja, jedenfalls lässt er jetzt keinen mehr über seine Schwelle. Angeblich wegen seiner schwangeren Frau.”
Gut gemacht. Hier muss der Leser selbst raten, was der wirkliche Grund ist. Mein Tipp lautet: Er hat es damals einfach übertrieben und ein freies Haus gehabt hat, in dem jeder verkehren konnte und genau jetzt macht er das Gegenteil, auch wieder rein ins Extrem.
Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass mein bester Kumpel Harry sich auch mal dahingehend entwickelt. Ist ja fast wie ein Dejavue.
Nee, dieser Vergleich sitzt nicht richtig. Ich könnte mir gut vorstellen, dass diese Sätze auch fehlen könnten, ohne dass der Geschichte es schadet.
Waren es zwei oder drei Jahre.
Oh, hier stutzte ich, ich war von deutlich mehr Jahren ausgegangen.
Das war Harry, bürgerlich Heinz Georg,
Jo, Heinz Georg ist ja auch echt anstrengend langweilig.
wohnten aber ursprünglich
Hinter wohnten bitte ein Komma.
Bei mir war es Freundschaft. Er wollte wohl zu Anfang was von mir, nahm es mir aber zum Glück nicht übel, dass mir das nicht so ging, und wir wurden richtig Kumpels, was zwischen Mann und Frau selten ist.
Tja, selten oder es gibt es wirklich nicht und es spielt immer mindestens Erotik eine Rolle? Who knows? Diese Frage trägt die Geschichte aus meiner Sicht.

Wahrscheinlich hat ihm schon immer an nichts mehr gelegen, als daran eine Familie zu gründen, weshalb er ja auch so überreagiert hatte, als die Freundin aus seiner Heimatstadt ihn verließ.
Naja, wenn einen die Freundin verlässt, reagiert man vielleicht auch nur aus diesem Grund über? Da müssen gar keine weiteren Gründe hinzukommen.
Heute mache ich mir Vorwürfe, dass ich mich nicht näher dafür interessiert habe.
Schöner Satz, weil an dieser Stelle wieder so dieses Gefühl beim Leser aufblitzt, hoppla, die hängt ja richtig doll an ihm. Da ist doch mehr als nur ...
. Vielleicht wären wir dann noch befreundet.
Und wieder diese Sehnsucht.
Er konnte sehr schlecht sehen. Einmal stand er mir auf der Greifswalder Straße an einer Ampel gegenüber und beachtete mich nicht. Als die Ampel auf Grün geschaltet hatte, ging ich auf ihn zu. “Was ist mit dir los?”, fragte ich ihn. Es stellte sich heraus, dass er mich gar nicht gesehen hatte.
Gut beschrieben.
Einmal war ich krank, Halsentzündung, aber nicht versichert.
Die rührende Art, wie sich Harry um die Protagonistin kümmert, ist einfach schön zu lesen. Insbesondere die großen Geschenke, die er ihr macht. Er hängt eindeutig an ihr.
“Blick vom Rathausturm”. Durch diese Gassen ist Harry also jahrelang gelaufen.
Ja, wieder diese Sehnsucht.
Er ist der Intellektuelle, der den Arbeiter spielt, besoffen aus der Kneipe nach Hause kommt und seine Frau verprügelt.
Diesen Satz braucht es null.

Aber das schlimmste ist, dass er einfach nicht mehr derselbe ist. Daran hat bloß seine Frau schuld”, sagt er, der sich nicht eingestehen will, dass sein Kumpel sich von selber vollkommen geändert hat.
Das Schlimmste ... Prima Satz, in welchem gleich mal eine Aussage auf den Kopf gestellt wird.
“Spielt er denn noch Gitarre?” Ich hatte durch Zufall mitbekommen, dass Harry ein sehr guter Bluesgitarrist ist, das war übrigens beim Teterower Bergringrennen, wovon ich vorher nichts geahnt hatte.
An dieser Stelle hab ich gedacht, dass sie früher kommen müsste. Das ist doch wichtig, dass er Gitarre spielt. Ich würde es weiter oben unterbringen. So wirkt es so drangehängt.
. Er legte sich einfach in mein Bett rein. “Harry, du bist verheiratet und hast ein Kind”, sagte ich.
Aha. Harry, wills wissen. Es wirkt so als habe Harry mit dieser Aktion alles auf null gestellt und versucht es nochmal unter Ausserachtlassung der Vergangenheit. Die Protagonistin bekommt eine weitere Chance, jetzt anders zu handeln. Aber sie bleibt in ihrer gewohnten Haltung. Und für Harry ist es dann eher wohl der letzte Versuch, der, weil gescheitert dazu führt, es nie wieder zu versuchen. Hier hat sie vielleicht die Antwort. Meine Interpretation der Geschichte.

Es war wohl eine andere Form von Liebe. Ich brachte ihn danach noch zum Zug. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Hier mogelt sich die Protagonistin um die Definition herum, gut, dass du es so offenlässt, weil man nun als Leser das eigene Kopfkino anschmeißen kann.
Ich musste aber wieder an ihn denken, als es auf einer Bahnstrecke mal einen großen Unfall gab.
Sehnsucht bleibt.
Aber ich darf nur im Hausflur schlafen, weil seine Frau nicht will, dass ich in die Wohnung komme.
Prima ironischer Endsatz.

Lieben Gruß

lakita

 

Hallo @Frieda Kreuz

Du erzählst hier melancholisch gefärbt von der Freundschaft zu einem Typen namens Harry, der immer mal wieder im Leben der Ich-Erzählerin auftaucht und wieder verschwindet. Hier habe ich einen roten Faden, an den ich mich halten kann, um nicht allzu verwirrt zu sein von den vielen Begebenheiten und Personen, den Freunden, den Bekannten, den Bekannten von Freunden, den Freundinnen von Harry und so weiter.

Ich habe deinen Text jedenfalls mit Interesse gelesen, weil es hier anscheinend um einen schwierigen, widersprüchlichen Charakter geht, der das Potential hätte, beim Leser Eindruck zu hinterlassen. Harry bleibt allerdings für mich nebulös. Vieles über ihn erfahre ich nur aus zweiter Hand, von einem Freund, einem Bekannten, einem Bekannten eines Freundes … Ein bisschen kommt er mir so vor wie einer dieser Mimofanten, eine Mimose, wenn es um ihn geht, aber bei anderen … er kappt einfach so Freundschaften, wenn es ihm in den Sinn kommt, prügelt seine Frau … Aber vielleicht tue ich Harry Unrecht.

Außerdem muss ich sagen, es gibt zwar einen roten Faden, aber die Geschichte plätschert so dahin, ohne richtigen Höhepunkt. Szenen, die als Schlüsselszene taugen, handelst du in wenigen Sätzen ab, so zum Beispiel, als er nachts an ihre Tür klopft und sich einfach in ihr Bett legt. Anderes, das wichtig wäre, fehlt. Warum die Ich-Erzählerin so viel Wert auf Harrys Freundschaft legt, bleibt im Dunkeln. Welche Seiten von ihm findet sie anziehend? Vielleicht ist da mehr, trotz gegenteiliger Behauptung? Und wie genau ist die Freundschaft eigentlich zu Ende gegangen? Da schreibst du bloß, dass Harry immer merkwürdiger wurde. Wie hat sich das geäußert?

Da hatte Harry wieder das gleiche gemacht und spontan freundschaftliche Beziehungen gekappt, um mal wieder an einem unbekannten Ort ein neues Leben angefangen. Wahrscheinlich lebt er auch dort heute schon lange nicht mehr, sondern hat jetzt in Peru eine Krokodilfarm aufgemacht. Jedenfalls war das das letzte Mal, das ich was von ihm gehört habe.
Schön zusammengefasst. Das ist Harry! Aber: ... dass ich was von ihm gehört habe.
Einmal hatte ich einen Traum. Ich bin in einer fremden Stadt. Auf dem Marktplatz treffe ich Harry. Er nimmt mich mit nach Hause. Aber ich darf nur im Hausflur schlafen, weil seine Frau nicht will, dass ich in die Wohnung komme.
Ein prima Schluss, wie ich finde. Genau, wie es ihr ein Kumpel zu Anfang erzählt hat.

Grüße
Sturek

 

Hallo @lakita, Hallo @Sturek,

schön, dass ihr Euch mit meinem Text beschäftigt habt. Hier passiert das Phänomen, dass ich vom Lesen meiner eigenen Story melancholisch werde. Ich habe mir jetzt noch Mal alles durch den Kopf gehen lassen, und mir ist aufgefallen, dass ja eigentlich die Auflösung unser Freundschaft von Harry allein ausging. Er hat sich ja auch gar nicht bemüht Kontakt zu halten, Telefon, Briefe usw. Das letzte Mal haben wir uns gesehen, da waren wir beide noch gar nicht Dreißig. Er hatte sein Leben wohl in andere Bahnen gelenkt und brauchte mich, deren Wohnung vorher ein verlässlicher Anlaufpunkt für ihn war, nicht mehr. Als wenn das einfach so geht. Wahrscheinlich hatte er das im Innersten schon länger beschlossen, ihm fehlt bloß noch ein Anlass.

Wie viele war er, ein schwieriger, intelligenter Typ, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Ausbruch und der heimlichen Sehnsucht nach dem Kleinbürgertum, in dem wir unsere Wurzeln hatten. Er hatte sich wohl vorgenommen, ein paar wilde Jahre in Berlin zu haben und sich danach wieder einzuordnen. Bestimmt waren viele von meinen Kumpels so wie er und haben auch so gedacht und sehnten sich nach einer Weile nach Ruhe und Ordnung und einem überschaubaren Leben, also nach der Tristesse, aus der wir herkamen. Was sie natürlich nie zugegeben hätten. Aber das ausgerechnet Harry sich so entwickelt, hätte ich nie für möglich gehalten.

Die Blueserbewegung, deren Motto Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war, bildete ja ein Auffangbecken für Leute, die es nicht so einfach hatten. Viele waren bestimmt in dieser Zeit glücklich, aber ohne es zu wissen. So ging es meinem Kumpel Harry ja auch. Damals dachten alle ständig von sich, dass sie einsam und unglücklich waren, trotz vieler Freundschaften und Liebschaften. Er ebenfalls. Vielleicht haben sich da viele in späteren Jahren an den Kopf gefasst, denn oft erzählen mir heute Leute, dass das damals die beste Zeit ihres Lebens für sie war. Eine späte Erkenntnis.

Die Bedeutung von Liebesbeziehungen wird in der Gesellschaft überbetont und die von Freundschaft runtergespielt. Die Kraft und Stärke, die einem eine Freundschaft, die eigentlich weniger anfällig als eine Liebesbeziehung sein müsste, geben kann, wird unterschätzt. Es ist ja genial, völlig unkompliziert jemanden kennenzulernen, dem du ähnlich bist, mit dem du reden kannst. Ein Haufen Psychiater hätten freie Termine und ein Haufen Hersteller von Antidepressiva müssten in den Konkurs gehen, wenn die Menschen mehr um ihre Freundschaften kämpfen würden. Besonders die Freundschaft zwischen Mann und Frau führt in der öffentlichen Wahrnehmung ein stiefmütterliches Dasein. Ich neige sehr dazu, mich mit Männern anzufreunden. Die Ursache dafür kann sein, dass ich ohne Vater aufwuchs

Vielleicht füge ich dem Text noch einen Abschnitt hinzu, in dem es um das Gitarrenspiel von Harry geht.

Frohe Ostern Frieda

 

Hallo @Frieda Kreuz,

ein spannendes Thema, was wohl doch so viele Menschen betrifft.

In Deinem Kommentar liest sich ein sehr interessanter Satz:

hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Ausbruch und der heimlichen Sehnsucht nach dem Kleinbürgertum, in dem wir unsere Wurzeln hatten.

Ich nehme die Geschichte so wahr, dass für Harry die Protagonistin ein Rückzugsort war. Nach dem Ausbruch eine Erholung im Bekannten, wo er sich wohl und geborgen fühlt. Während für die Protagonistin Harry der Ausbruch war. Verbunden durch die Blueserbewegung. Und ich glaube schon, dass sie mehr wollte als Kumpel sein. Eine Beziehung haben, einen gemeinsamen Traum erleben. Schlussendlich nehme ich eine Protagonistin wahr, die einer Sehnsucht nachtrauert, welche mit Harry zusammen vielleicht wahr geworden wäre.

Ich hätte gerne mehr über die Protagonistin erfahren. Sie bleibt leider blass und dabei ist sie für mich gerade die Hauptperson und macht die Geschichte aus. Zweifelt sie an ihren früheren Entscheidungen, wie hat sich ihr Leben entwickelt. Fragt sie sich, was wäre wenn... Wer ist sie?

Man erfährt wenig über sie, ihn, und wie ihre Beziehung aus. Einerseits hält dies bisschen die Spannung hoch, andererseits entwickelt sich die Geschichte nicht wirklich. Es gibt die Aussage der Protagonistin, dass Harry ihr bester Freund war. Aber sah Harry dies umgekehrt ebenso?

“Eigentlich kenne ich ihn gar nicht richtig”, musste ich mir später eingestehen.

Eigentlich ein guter Einstieg, um mehr über sich herauszufinden. Aber aus ihrer Erkenntnis wirft sie keinen kritischen Blick in den Spiegel zur Selbstreflexion. Diesen Schritt brachte sie nicht zustande und es bleibt beim trauern, keine Aufarbeitung.

Einmal hatte ich einen Traum. Ich bin in einer fremden Stadt. Auf dem Marktplatz treffe ich Harry. Er nimmt mich mit nach Hause. Aber ich darf nur im Hausflur schlafen, weil seine Frau nicht will, dass ich in die Wohnung komme.

Ich bin unschlüssig über das Ende. Sie ist und bleibt "brav", wagt keinen Ausbruch, auch nach Jahren nicht. Selbst in ihren Träumen ist ihr Widerstand so groß, dass sie es nicht wagt. Was ist ihr Widerstand? Du siehst, ich bin neugierig :), und deshalb las ich die Geschichte auch gerne. Sogar zweimal, da mir die Blueserbewegung nichts sagte und ich mich mal schlau machte, und daraufhin ich Deine Geschichte nochmals aus einem anderen Blickwinkel las und sah. Gibt es da einen autobiografischen Hintergrund in der Geschichte? Die Frage drängte sich in mir auf, nachdem ich Deinen Kommentar gelesen habe.

Es war angenehm zu lesen, die Länge fand ich passend und der Titel fasst es gut zusammen: Die Protagonistin blickt wirklich von oben, ohne einzugreifen.

Gerne gelesen.

Beste Grüße
Kroko

 

Hallo @Frieda Kreuz

... es heißt ja, das Gegenüber spiegelt uns nur ... vielleicht sieht sich die Erzählerin in Harrys Verhalten selbst - unstet, wankelmütig, eine Spur egoistisch, ein bisschen emphatielos und doch voller Sehnsucht - nicht seines Willens mächtig und doch voller Träume. Hier finde ich sehr toll, dass Du nicht konkret auf eine Situation eingehst, sondern sein "Leben" wie einen Spielball durch die Story kullern lässt. Auch nicht näher erläuterst, was ihn zu seinen spontanen Handlungen veranlasst. Wissen wir denn immer ganz genau, was uns das Morgen bringt? Motto: Go with the flow in all seinen Schattierungen. Wie ein flacher Stein titschen Deine Sätze über die Oberfläche - da ist kein Platz für den Ursprung, nur die Wirkung kleidest Du in Worte. Vielleicht eine Spur mehr Schnoddrigkeit hätte die Story vertragen - aber ich will das jetzt nicht überbewerten - es ist gut so, wie es ist. Gerne gelesen - beste Grüße - Detlev

 

Hallo @Kroko, Hallo @Detlev,
freut mich, dass ihr meine Geschichte so aufmerksam gelesen habt. Ihr projiziert da ja mehr rein, als ich ursprünglich vorgehabt habe. Ein Leser hat wohl einen anderen Blick auf eine Geschichte als der Autor selber und entwickelt eine Assoziationskette. Das ist schon interessant, wie andere das verstehen, was man geschrieben hat. Mich wundert auch, dass keiner die Blueser aus dem Osten kannte. Das war eine Bewegung in den Siebzigern und Achtzigern, bis zur Wende. Aber Jüngere oder welche, die in den alten Bundesländern sozialisiert wurden, können damit wahrscheinlich nichts mehr anfangen. Das war die langlebigste und zahlenmäßig stärkste Jugendbewegung in der DDR.

Kroko, den Titel habe ich einfach so gewählt. Ich dachte, er macht neugierig. Eigentlich habe ich mir gar nichts dabei gedacht. Aber vielleicht hast Du recht, dass eigentlich ich die Hauptperson der Geschichte bin und von oben auf alles herabblicke ohne einzugreifen. Darauf bin ich noch gar nicht gekommen

Detlev, Du bist ja der absolute Rezensent, das schreit ja geradezu nach dem Literarischen Quartett.
Gruß Frieda

 

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