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Bildbetrachtung „Liebesspiel im Wartezimmer“

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22.06.2003
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Bildbetrachtung „Liebesspiel im Wartezimmer“

Bei meinem ersten Arztbesuch in diesem Jahr sitze ich nicht wie üblich mit Zeitschriften gelangweilt in der angespannten Atmosphäre des Wartezimmers sondern, mit gedrehtem Kopf und staunend vor diesem Abstrakten Gemälde.
Das mächtige Rot beherrscht den Großteil der Bildfläche. Dynamisch, schnell und heftig umwirbt es das Gelb, windet sich um es, umarmt es eng. Das Gelb folgt dem Treiben des Rots. Etwas zurückhaltend und abwartet lässt es sich vom Rot umschließen. Das Gelb hat seine Unbefangenheit abgelegt und vertraut dem Rot, welches sich dieser Macht und Verantwortung wohl bewusst ist und um das Gelb herum sich schützende Geborgenheit aufbaut. Das Gelb fühlt sich wohl, und sicher.
Lange schaue ich auf das Rot, an verschiedenen Stellen versuche in einen Zugang zu bekommen zu diesem aktiven Rot. Immer wieder überrascht es mich, wenn ich meine seinen Charakter und seine Ziele zu erkennen. Es entgleitet mir immer wieder beim Versuch es als ganzes zu erfassen. An den wenigen Stellen an denen sich das Rot mit dem Gelb vermischt, an den Farbübergängen entsteht die Liebe. Eine leuchtende Ausstrahlung, ein dem orange nahe tretender Farbton, ein Einheit aus zwei Farben. Diese Stellen bringen mir eine Deutlichkeit entgegen die ich immer vermisst habe in meinen Beziehungen und nun endlich gefunden habe. Diese Eindeutigkeit die so selbstverständlich, ungespielt und ehrlich aus dem Treiben der beide Farben hervorgeht.
Am oberen Bildrand schleicht sich sehr bescheiden und ängstlich ein helles Azurblau in das Bild, begleitet von zwei blassen, aber selbstbewussten violetten Farbwolken. Ihre Aufgabe im Bild bleibt mir ein Rätsel, die wirken so unscheinbar. Ich als Betrachter empfinde Mitleid für die beiden Farben, die scheinbar etwas vorhaben, sich aber ihrem Ziele nur schleppend nähern.
Sie tasten sich langsam an das Treiben der beiden Liebesfarben heran. Vielleicht wollen sie das Rot und Gelb beim Liebesspiel necken?
Mein Blick fällt wieder auf das Rot und das umschlungene Gelb. Ich kann mich hineinversetzen in die Rolle des Rots, den Hauptakteurakteur im Bild, der das Gelb würdevoll in Szene setzt.
Ich spüre das Gelb, wie es sich in seiner Weichheit mit mir verbindet, ohne dass wir uns ganz vermischen. Diese rote Kraft zu spüren bedeutet alles Statische zu vergessen und in eine rauschende Bewegung zu verfallen. Mein Körper beginnt zu zittern und meine feuchten Hände reiben sich gegenseitig. Es ist nicht die Farbe an sich die auf mich überspringt, eher diese gewaltige Wucht, diese gigantische Kraft die so zärtlich auf das Gelb einwirkt und Rücksicht auf dessen Zerbrechlichkeit nimmt.
Ich sehe das Bild eben aus den Augen eines Verliebten, so unüchtern.
„Herr Rosner bitte!“ ließt die Sprechstundenhilfe von ihrer Karte und hält mir die Tür auf. Ich lasse eine weiße Zimmerwand zurück und eine handvoll Wartende Patienten denen ich auch wünsche dass sie sich ein solches Bild an die Wand malen.

 

Hallo bisaim,

eine hervorragend gestaltete Szenerie! Auch wenn der Leser das Bild nicht sieht, kann er durch deine Ausführungen die Gedanken des wartenden Patienten nachvollziehen, sehr angenehm zu lesen.

Ich bin ebenfalls die Gedankenwelt eingetaucht, und erst mit dem Aufruf durch die Arzthelferin wurde ich in die Wirklichheit zurückgeholt. Man merkt plötzlich, wie subjektiv die Interpretation des besagten Bildes sein kann, das dazu noch abstrakt ist: Es ist ja ein Mann, der das Bild betrachtet und sich dem >Liebesspiel der Farben< widmet! Ich habe mich gefragt, was wohl eine Frau davon denken würde? - Obwohl ich auch ein Mann bin, ist des doch nicht auszuschließen, daß sie das Rot als Zeichen einer >Gefahr< auslegt, welches das zarte Gelb gewaltsam bedrängt? Das Azurblau könnte sie als >Ruhe< oder >Tiefsinnigkeit< interpretieren, welches aber das Gelb nicht erreicht. - Genausogut kann es sich aber auch um etwas völlig anderes handeln, z.B. eine untergehende Sonne, die den Himmel übergangsweise nach orange und rötlich färbt? In größerer Entfernung davon breitet sich die Nachtschwärze aus...

Kurzum: Ohne die Mithilfe/ Rückmeldung des Künstlers bleibt jede Interpretation schwammig. Dasselbe kann man nun beispielsweise auch auf >Kurzgeschichten< ausdehnen: Wenn man vom Autor/in keine Rückmeldung bekommt oder ihn/sie nicht persönlich kennt, dann ist doch alles Käse! - Oder in einer Partnerschaft: Wie soll man die alltäglichen Probleme ausräumen, wenn eine Seite sich gar nicht oder nur unzureichend äußert?

Deine Geschichte überstreicht ein ziemlich weites Feld, allgemein: die Kommunikation zwischen Personen. Das Medium ist beliebig, und der Transfer wird durch eine Chiffrierung hergestellt. Es muß dabei nicht bloß Sprache sein, sondern kann eben ein Bild, ein Musikstück oder eine physikalische Gleichung sein. Nur wenn beide Seiten den >richtigen< Schlüssel besitzen, gelingt das Verständnis. Nun mag jeder selber weiterspinnen...

Herrlich gemacht, meine Hochachtung!
Schöne Grüße,
ababwa

 

Hallo ababwa,
danke für dieses ausführliche kommentar:-)
Deine Interpretation ist auch für mich sehr interessant und baut aus was ich mir mit der geschichte gedacht habe. ich finde die rückmeldung des autor, künstler ist nicht immer nötig, sollte es nicht nötig sein, weil sein werk alleine dasteht und eben im moment des betrachtes alleine kommunizieren muss mit dem der es ließt. ein bild das ohne den autor nicht auskommt, ist einfach nicht ok:-)
habe eiegntlich keine symbolhafte bedeutung für die farben vorgesehen, aber es sie eine haben für Dich:-) zusatzeffekt. da ic hauch viel male habe ich eben diesen bezug zu den farben

 

Ja ja, schon klar, bisaim!

Das, was du sagst, ist völlig richtig. Wenn man sich eine Sinfonie von Brahms anhört, muß man dem Komponisten ja nicht die Hand geschüttelt haben. Mir geht es in erster Linie um den Kommunikationsweg. Es gibt Leute, die Brahms schätzen, andere eben nicht. Warum? - Doch deswegen, weil sie seine Musik selbst gehört und verstanden haben, nicht wahr?

Mir kommt es darauf an, deutlich zu machen, daß jeder für sich eine persönliche Interpretation aufbaut, wenn er mit Informationen gleich welcher Art konfrontiert wird. Am besten funktioniert das gegenseitige Verständnis auf dem direkten Weg, und nicht über Dritte. Deine Geschichte ist hierfür ein tolles Beispiel: Kein Leser dieser Website hat das Bild gesehen außer dem Protagonisten. Dieser beschreibt seine Einstellung, und sämtliche Leser nehmen sie unbedacht auf, ohne zu hinterfragen, ob sein Gedanke >korrekt< ist. Ist seine Auslegung nicht vielleicht Humbug?

Ich finde, eine vernünftige Kommunikation braucht den kürzesten Weg, damit die Information keine Verluste erleidet. In diesem Sinne: Ich grüße den Sohn bzw. die Tochter deines Vaters!

ababwa

 

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