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Arsen-Blues

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03.04.2004
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Arsen-Blues

Leise quietscht der kaputte Rollladen im Wind.
Das Geräusch erinnert mich an Kindertage, an die Schaukel in unserem Garten. Tage voller Lachen. Voller Leben.
Jetzt bedeutet es nichts mehr. Jetzt ist es nur noch ein kaputter Rollladen. Ein totes Geräusch in einem toten Zimmer.
Das einzig Lebendige sind die Erinnerungen. Doch sie vermischen sich mit Bildern aus den Alpträumen, die wie eine Wolke unter der rissigen Decke des Apartments hängen.
Vermischen sich, verdunkeln sich, sterben.
Grau in grau, so fließt die Gegenwart über mich, drückt zäh auf zerschlissene Kleidung, nimmt mir die Luft.
Vergilbte Bilder an den Wänden heben sich von der Tapete ab, stumme Zeugen, dass es ein Leben vor diesem Nichts hier gab.
Ich schaue sie nicht an, schaue nicht in die Gesichter längst vergangener Menschen. Zuviele Vorwürfe sehe ich darin, zuviel Wut.

Irgendwie muss ich mir die Zeit des Wartens vertreiben, denn an irgendetwas muss ich mir klarmachen, dass die Zeit überhaupt voranschreitet.
Keine Uhr gibt es in diesem Zimmer, das mein Grab sein wird. Es scheint, als wäre man hier zeitlos, hoffnungslos gefangen, verdammt dazu, in Ewigkeit in diesem toten Unraum zu verweilen, kaum realer als der Hauch einer Geisterhand.
Und so fange ich an zu singen. Heiser kommen die Töne vergessen geglaubter Lieder über meine Lippen. Lieder, die kurz den Schmerz vertreiben, die Scham nehmen.
Doch meine Stimme klingt verloren. Sie ist viel zu dünn, um diesen Raum mit Leben zu füllen. Vielleicht auch schon zu tot?
Langsam steigt Übelkeit in mir auf, das erste Symptom laut der Beschreibung im Lexikon.
Nun kann es nicht mehr lange dauern, bis die Taubheit kommt, gefolgt von der Atemnot, die der wirklich unangenehme Teil werden wird. Ich singe weiter.
Ich kann meine Zehen nicht mehr spüren. Ebenso meine Hände. Nur ihr vertrautes Gewicht auf meinem Bauch sagt mir, dass sie noch da sind. Bis vor nicht allzu langer Zeit hat noch ein anderes Gewicht auf diesen Bauch gedrückt. Ihn von innen gewölbt, von außen kaum zu sehen, aber schon spürbar. Ich singe weiter.
Ein leises Pochen gegen meine Schläfen. Ein Zeichen der fortschreitenden Vergiftung oder nur ganz gewöhnlicher Kopfschmerz? Ich will es nicht wissen. Will nicht darüber nachdenken, denn der regelmäßige Schmerz erinnert mich an das Pulsieren auf den Ultraschallbildern. Ich singe weiter.
Das Luftholen wird schwerer. Ich singe weiter.
Muster tanzen vor meinen Augen. Endlich Farben. Ich singe weiter.
Die Muster werden greller, beschwören Erinnerungen herauf.
Neonlicht. Weiße Flure. Ärzte, die mich ernst anschauen und nach Dienstschluss vergessen. Eine Unterschrift, die wochenlanges Abwägen beendet und nicht nur mein Schicksal besiegelt. Ich singe weiter.
Ich höre meinen Herzschlag in meinen Ohren während ich nach Luft ringe. Mein Hals schnürt sich zu. Die Erinnerung an seine groben Hände will sich in mein Bewusstsein kämpfen. Ich höre meine Stimme nicht mehr, alles wird übertönt von einem lauten Rauschen. Ich sehe nichts mehr. Ich spüre nichts mehr.
Das Sterben beginnt.
Und ich singe einfach weiter.

 

Hallo Mike Thompson!

Das Thema ist zwar nicht neu, aber stilistisch gut umgesetzt. Du beschreibst den Raum, in dem die Frau auf den Tod wartet, ebenso wie die Abtreibung, die hinter ihr liegt, in gut gewählten Andeutungen. Der Aufbau des Textes erscheint mir gelungen, aber m. E. könnten die Gründe für die verzweifelte Lage der Prot. noch ein wenig besser ausgeleuchtet werden. Weshalb hatte sie ihr Kind töten lassen? Da fehlt mir etwas mehr Ausführlichkeit.

Sonst nichts zu bemängeln.


Ciao
Antonia

 

Hallo Mike Thompson!

ich muss Antonia Recht geben, mir fehlt der Grund, bzw. ich kann die Tiefe der Emotionen nicht nachvollziehen, weshalb die Protagonistin sich mit Arsen vergiftet. Nur weil sie abgetrieben hat? Sich schämt? Das kommt vor und ist tragisch, aber sich deswegen töten? Ich meine, ich bin nicht kaltherzig, ein Kind zu verlieren ist schrecklich, auch ein Ungeborenes hat das Recht auf Leben. Aber diese Frau hatte sich dagegen entschieden, Beratungen hinter sich gebracht und jetzt dieser Selbstmord? Die Frage nach dem warum drängt sich mir einfach auf.

Die Geschichte ist sonst meiner Meinung nach gut geschrieben.
Ein paar Anmerkungen noch

Bildern aus den Albträumen
Zuviele Vorwürfe
Liebe Grüße
Goldene Dame

 

mh, also, ich dachte "Die Erinnerung an seine groben Hände will sich in mein Bewusstsein kämpfen." würde ihr handeln erklären.
gedacht war es so: sie ist vergewaltigt worden, von freund/mann/unbekanntem, spielt keine große rolle, und davon schwanger geworden. sie treibt ab, aber kommt
nicht damit zu recht und naja, vergiftet sich halt.
ich hatte in der ersten version noch am anfang näheres zu der
vergewaltigung geschrieben, dass war dann aber sehr konstruiert zu
lesen, deshalb hab ich es wieder rausgenommen. vielleicht sollte ich aber wirklich
noch mehr hinweise einbauen.
danke für lob und kritik :)

 

Hallo Mike Thompson!

Die Erinnerung an seine groben Hände will sich in mein Bewusstsein kämpfen.
Bei diesem Satz hatte ich zwar einen Hinweis auf Vergewaltigung in Erwägung gezogen, die "groben Hände" aber dann doch der Abtreibung zugeordnet. Ein paar Andeutungen mehr wären für den Leser sicherlich hilfreich.


Ciao
Antonia

 

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