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Schrittfehler
Ein Schritt. Ein einziger Scheißschritt. Ich müsste ihn nur machen, und zwar jetzt.
Aber ich stehe wieder nur da und gucke. Der Forward zieht an mir vorbei zum Korb: eins, zwei, Absprung. Als ich mich endlich bewege, ist es längst zu spät, meine Hand trifft seinen Unterarm, der Ball springt sonstwohin, der Schiri pfeift. Fünftes Foul – und tschüss!
Die gegnerische Bank johlt, während Schmitt an der Seitenlinie mit wedelnden Armen das Rumpelstilzchen gibt: „Verdammter Mist, Timo! Spielerwechsel!“ Als ich an ihm vorbei zur Bank schlurfe, hält er mir nicht mal die Hand zum Abklatschen hin. „Schon wieder Kino!“, bellt er mich stattdessen an.
Kino. Ich hasse dieses Wort, das er geprägt hat. Als ob ich das mit Absicht täte, mich genüsslich zurücklehnte, um dem Spiel der anderen zuzugucken. Als ob ich mich nicht selbst am liebsten in den Arsch beißen würde, wenn ich wieder mal wie festgefroren stehenbleibe, während der Ball vom Ring abprallt und alle anderen längst um die beste Reboundposition rangeln. Und als ob ich mir nicht schon nächtelang das Hirn zermartert hätte, woher das kommt und was ich dagegen tun kann. Timo – Kino. Die Lachnummer im ganzen Verein.
Aber die Höchststrafe kommt erst noch. „Zehn für jeden“, knurrt Schmitt, während der Gefoulte an die Linie tritt. Erster Freiwurf – drin. Zweiter Freiwurf – auch drin. 76:83, und nur noch anderthalb Minuten auf der Uhr. „Zwanzig.“ Schmitt zeigt auf den Boden hinter der Ersatzbank und sieht mich dabei nicht mal an.
Ernsthaft? Jetzt und hier? Aber die Geste ist eindeutig. Zwanzig Liegestütze. Ich schaue verstohlen zur Tribüne hoch. Sanela steht im Kreise ihrer Mannschaft, die Mädchen sind gleich nach uns dran. Sie schauen in meine Richtung, tuscheln, kichern. Mein Kopf fühlt sich so prall an wie der Spielball. Wahrscheinlich hat er auch die gleiche Farbe. Ich mache meine Liegestütze so würdevoll, wie das eben geht, und setze mich erhobenen Hauptes an das entfernte Ende der Bank. Aber ich könnte kotzen. Oder heulen.
81:86 ist der Endstand. Another one bites the dust, johlt mir Freddy Mercury ins Ohr, irgendwer auf der gegnerischen Bank hat seinen Ghettoblaster eingeschaltet. Ich ziehe den Kopf zwischen die Schultern, greife meine Tasche und verdrücke mich in die Kabine.
Der Trainer ist schon dort und wartet auf uns. Moritz und Raffael trudeln als Letzte ein, dann beginnt er seine Gardinenpredigt. Sauhaufen, Gurkentruppe, keine Disziplin, sowas darf nicht passieren, nicht im Heimspiel gegen den Tabellenvorletzten, bla, bla, bla. Straftraining am Dienstag, macht euch auf was gefasst. Meinetwegen, machen wir halt noch mehr Liegestütze; das ist nicht die wirkliche Strafe. Wir hätten es zumindest noch mal spannend machen können, wenn ich den Forward sauber gestoppt hätte, mit diesem einen Schritt. Die anderen denken das sicher auch, das kann ihnen ja nicht entgangen sein, auch wenn keiner was sagt und alle nur auf den Boden starren.
Als Schmitt sich endlich ausgekotzt hat, gehe ich duschen. Kalt. Dad sagt immer, sein Trainer hat ihm damals das warme Wasser abgedreht, wenn er schlecht geboxt hat. Einen Profi hat auch das nicht aus ihm gemacht. Ich trockne mich notdürftig ab, schmeiße meine Sachen in die Tasche, will nur noch nach Hause. Doch der Coach fängt mich am Ausgang der Halle ab.
„Am Dreißigsten muss ich für den Lehrgang melden“, sagt er und sieht mich mit diesem durchdringenden Blick an. Den hat er bestimmt lange vorm Spiegel geübt, und er ist verdammt gut geworden, obwohl er zu mir hochgucken muss. Ich weiß keine Antwort, schaue zur Seite, warte, dass er weiterredet.
Der Sichtungslehrgang zur Landesauswahl. Meine einzige Möglichkeit, als Basketballer jemals was zu werden, denn die Talentscouts der großen Vereine werden sich bestimmt nie zu einem Provinzclub wie dem SV verirren. Und wenn Schmitt mich nicht dieses Jahr hinschickt, solange ich noch in der U16 bin, habe ich auch auf diesem Weg keine Chance mehr. Seine Frage schwebt unausgesprochen zwischen uns: Warum sollte er ausgerechnet mich nominieren?
„Ich sag dir was“, fährt er fort, als von mir nichts kommt. „Davor ist noch ein Spiel, in zwei Wochen gegen den VfL. Da zeigst du mir, dass du den Willen hast. Setz deinen Hintern in Bewegung, hol mir, hmm, fünfzehn Punkte und zehn Rebounds, dann melde ich dich. Wenn nicht, dann nicht. Okay?“
Eben erst habe ich meine Wasserflasche geleert, aber meine Kehle ist staubtrocken. „Okay“, sage ich.
„Schön. Bis Dienstag“, brummt Schmitt und geht zu seinem Auto.
Ich trolle mich zu meinem Fahrrad und steige auf. Das Ding ist mir schon wieder zu klein, aber der Sattel lässt sich nicht mehr höher stellen. Sieben Zentimeter im letzten halben Jahr, kein Wunder, dass meine Beine mir nicht gehorchen. Wie bei einem Dinosaurier, so einem richtig großen. Einem Brontosaurus, fünfundzwanzig Meter lang, bei dem ein Signal vom Gehirn auch ein paar Sekunden brauchte, bis es am anderen Ende ankam.
Timo – Dino – Kino.
Fuck.
„Im Ernst?“, fragt Lukas und wirft mir den Ball zu. „Ein Ultimatum? Das nächste Spiel um alles oder nichts, do or die? Ist ja schräg.“ Ich dribbele ein paar Schritte und werfe von der Zonenecke auf den Korb des Freiplatzes. Treffer.
Egal, wie beschissen ich mich fühle, meine Wurfquote wird davon nicht schlechter. Schmitts Drill hat in mir ein Schweizer Uhrwerk hervorgebracht, das muss man ihm lassen. Wenn man bedenkt, was ich noch vor drei Jahren für ein unsportlicher Nerd war. Dann sprach mich Vitali auf dem Pausenhof an, einfach weil ich damals schon eins neunzig groß war und sie noch einen Center für das frisch gegründete Team brauchten. Nach dem ersten Training hatte ich Blut geleckt: endlich eine Sportart, die etwas mit mir anfangen konnte! Ich begann zu trainieren, als hinge mein Leben davon ab. Technik, Taktik und Ausdauer schliff Schmitt mir ein. Im Kraftraum kamen mir Dads Gene zugute. Die nervige Brille tauschte ich gegen Kontaktlinsen ein. Schmitt kann ein ziemlicher Arsch sein, aber was immer ich als Sportler bin, verdanke ich ihm.
Lukas holt sich den Ball. „Ich bin einfach zu langsam“, sage ich. „So kann ich mich unterm Korb nicht durchsetzen.“
„Na ja, rennen kannst du ja eigentlich“, antwortet er. „So flott muss einer mit über zwei Metern erst mal sein. Und wenn du mal den Rücken breit machst, kommt auch keiner so leicht um dich rum.“ Sein Wurf prallt von der Ringkante ab, ich greife nach dem Rebound. Doch Lukas hat sich blitzschnell vor mich geschoben und schnappt mir den Ball weg.
„Siehst du, was ich meine!“ Ich könnte mich schon wieder so aufregen wie gestern beim Spiel. „So flink müsste ich sein, so wie du. Mann, ich beneide dich.“ Mein kleiner großer Bruder – Aufbauspieler der zweiten Herren, vier Jahre älter als ich, keine eins achtzig groß. Genau wie Dad früher, Supermittelgewicht. Lukas ist so beweglich und reaktionsschnell, wie ich es gerne wäre. Dabei hat er erst nach mir mit dem Basketball angefangen. Sein zweiter Wurf trifft, und diesmal angele ich mir den Ball.
„Du – mich? Komischer Gedanke.“ Lukas schüttelt den Kopf. „Ich bin aber auch nicht so auf die Welt gekommen. Wir haben das bei den Herren bis zum Abwinken trainiert. So'n langes Elend wie dich gibt's bei uns nicht, das müssen wir eben mit Schnelligkeit wettmachen.“ Er spitzelt mir den Ball weg, als ich an ihm vorbeidribbeln will. „Soll ich dich ein bisschen coachen? Noch dreizehn Tage bis zu eurem Spiel. Ich hätte da ein paar Ideen.“
Auf dem Heimweg vom Nachmittagsunterricht komme ich am Freiplatz vorbei und sehe Sanela trainieren, mit ihrem kleinen Bruder und ihrem Vater. Sie spielen eins gegen zwei, der Vater gegen seine Kinder. Eine Familie von Basketballern, in der man kein Freak ist, wenn man mit sechzehn schon über zwei Meter misst und nur noch die rote Pille im Kopf hat. Die Eltern sind in den Neunzigern aus Bosnien gekommen. Irgendwer hat mir mal erzählt, dass der Vater in der jugoslawischen Nationalmannschaft gespielt hat – vor dem Krieg dort, als sie gleichzeitig Welt- und Europameister waren. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber in unserer Herrenmannschaft ist er der Topscorer. Ihm kann auch Schmitt nichts mehr beibringen.
Sanela hat den Ball, sie täuscht einen Wurf an, ihr Vater macht einen Satz nach vorn, um abzuwehren. Aber sie passt zum Bruder, läuft Richtung Korb, kriegt den Ball zurück. Der Vater ist schon wieder da, doch sie fintet noch mal, lässt ihn aussteigen, er ist aus der Balance und fällt auf den Hosenboden. Sanela macht den Korb.
Die anderen Jungs nennen sie das Biest. Natürlich nur, wenn sie es nicht hört, und falls sie es trotzdem mitkriegt, scheint es ihr nichts auszumachen. Ich glaube, die haben nur Angst vor ihr, weil sie ihre Gegnerinnen gnadenlos an die Wand spielt und weil sie fast alle Jungs um mindestens einen halben Kopf überragt. Dabei sieht sie bis auf die blöde Zahnspange wirklich gut aus. Auf alle Fälle bewegt sie ihre langen Glieder mindestens hundertmal eleganter als ich. Nein, sie ist kein Biest, und Angst muss man vor ihr nicht haben. Nicht so jedenfalls.
Der Vater lacht dröhnend, während er sich aufrappelt. Er klopft Sanela anerkennend auf die Schulter und wuschelt ihr durchs braune Haar, sie grinst fröhlich. Ob sie noch jemanden zum Zwei-gegen-zwei gebrauchen könnten?
Das Leben ist Kampf, kein Spaß, sagt Dad immer. Du musst dich durchbeißen, meistens alleine.
Ich ziehe meine Kapuze über den Kopf und gehe nach Hause.
Beim Trainer auch Unterricht zu haben, ist ätzend. Dabei habe ich nicht mal Sport bei ihm, sondern Mathe-Leistungskurs, aber das macht es nicht besser.
„Wer von euch kann mir denn sagen, wie die Stammfunktion von g mal h zu bilden ist?“, fragt Schmitt. Das ist leicht. Ich hebe meinen Finger, nach und nach folgen zwei weitere aus der Klasse. „Ja, Timo, dass du die Antwort weißt, ist mir klar. Wenn du mal am Samstag auch so schnell gewesen wärst! Jasmin?“
Und mit einem Schlag fühle ich mich drei Jahre jünger. Auf den Nasenflügeln spüre ich das Gewicht der Brille, wie einen Phantomschmerz. Mein Kopf wird heiß, alle feixen. Nur Sanela bleibt ernst, zwischen ihren Augen bildet sich eine steile Falte. Ich sehe sie dankbar an. Als sie in meine Richtung schaut und meinen Blick bemerkt, zieht sie fragend die Augenbrauen hoch, und ich gucke schnell weg. Mein Gesicht wird noch heißer. Das war blöd.
Besten Dank auch, Herr Schmitt. Warum tue ich mir dieses Arschloch eigentlich an? Klar, den Lehrer kann ich mir nicht aussuchen, aber zum Basketballspielen zwingt mich ja keiner. Doch die Antwort habe ich mir schon hundertmal gegeben: Ich will spielen. Und eine andere U16-Mannschaft gibt es in unserem Kaff nicht, außerdem hat er nun mal echt Ahnung von dem Sport. Also: kein Schmitt, kein Basketball.
Aber wie er jemals die Pädagogikprüfungen in seinem Lehramtsstudium bestanden hat, ist mir schleierhaft.
„Und links!“, ruft Lukas. Ich sprinte zur Seite und berühre den Kreidestrich am Boden. „Rechts!“ Ich renne zur Zonenecke und schirme mit den Armen einen imaginären Gegner ab. Lukas feuert mir einen Pass entgegen, den ich sofort zurückgebe.
Seit einer Woche sind wir jeden Tag auf dem Freiplatz, an den kühlen Sommerabenden haben wir ihn meist für uns allein. Lukas tut alles, um mich auf ständige Aufmerksamkeit und schnelle Reaktion zu trimmen. Mit Übungen aus seiner Mannschaft, aus Büchern, aus dem Internet. Sogar aus Dads Rocky-Filmen haben wir uns Anregungen geholt. Die reine Beweglichkeit ist das eine – ich komme zu leicht aus dem Gleichgewicht, mein Schwerpunkt ist zu hoch, meine Beinarbeit ist schlecht. Daran kann man arbeiten. Der schwierigere Part ist die verdammte Blockade in meinem Kopf.
„Brett!“ Ich renne Richtung Korb und springe, um ans Brett zu tippen. Als ich mich wieder zu Lukas umdrehe, kommt der Ball angesaust, ich habe keine Chance, ihn zu fangen, er trifft meinen Solarplexus. Mir bleibt die Luft weg, ich muss mich kurz hinhocken, während der Ball in die Büsche rollt.
„Mann, Scheiße, Lukas!“ Ich will ihn anbrüllen, aber mehr als ein Keuchen bringe ich nicht heraus.
„Okay, kurze Pause“, sagt er und geht dem Ball hinterher. „Du findest das unfair?“, fragt er über die Schulter. Mein Nicken kann er nicht sehen. „Danach fragt dich im Spiel aber keiner. Schmitt nicht und der Gegner auch nicht. Ob du nun einen Ball oder einen Ellbogen in die Rippen kriegst, Basketball ist eben nicht wirklich das körperlose Spiel.“
„Weiß ich doch“, murre ich. „Du klingst wie Dad.“
„Na, ich werde jetzt bestimmt nicht mit seinen Kampfparolen kommen. Aber ein bisschen gesunde Aggression würde dir schon guttun.“ Lukas kehrt mit dem Ball zurück. „Du hast so eine komische Beißhemmung. Manchmal, wenn du so einen Gegner an dir vorbeilässt, fragt man sich, wovor du wohl Angst hast: dir selber wehzutun oder dem anderen?“ Er hockt sich neben mich und sieht mich eindringlich an. „Klar war der Ball unfair. Aber du verbringst zu viel Zeit damit, dich zu ärgern. Über das Foul, das nicht gepfiffen wird, den Wurf, den du nicht getroffen hast, den Pass, der nicht ankommt. Das gehört zu den Dingen, die dich langsam machen.“
„Hm“, sage ich. Mehr fällt mir auf Anhieb nicht ein. „Muss ich mal drüber nachdenken.“
„Und genau das ist dein Problem. Du denkst zu viel. Manchmal siehst du aus, als müsstest du erst überlegen, welchen Fuß du als ersten nach vorne setzen sollst. Und dann startest du eine Sekunde später, als du könntest. Du musst weniger denken, mehr einfach machen. Aus dem Bauch, nicht aus dem Kopf.“ Lukas steht auf und reicht mir die Hand, um mich hochzuziehen. „Und deswegen machen wir jetzt auch einfach. Weiter geht's!“
In der Halle ist Stimmung, als wir aus der Kabine kommen, die wenigen Zuschauerreihen sind gut belegt. Die Jungs aus der U14, die heute nach uns spielen, sind schon da. Einige Eltern, auch ein paar Unterstützer der Gäste. Lukas wollte eigentlich kommen, muss aber arbeiten. Ich sehe Sanela zwischen ein paar Freundinnen, dabei stehen die Mädchen heute nicht auf dem Spielplan. Wir wärmen uns auf. Meine Stiefel sitzen erst zu locker, dann zu fest, jetzt schnüre ich sie zum dritten Mal.
Aufstellung zum Spielbeginn. Mein Gegenspieler trägt die Nummer 11, wir messen uns gegenseitig mit Blicken ab. Er hat ein breites Kreuz, ist bestimmt fünf bis zehn Kilo schwerer als ich, aber eine Handbreit kleiner. Fleischige Hände, dicke Finger. Eher der bullige als der filigrane Typ.
Ich gewinne den Sprungball mit Leichtigkeit, tippe den Ball zu Vitali und sprinte sofort auf dem eingeübten Laufweg nach vorn. Der lange Pass kommt wie am Lineal gezogen, ich steige zum Slam Dunk hoch – 2:0! Jubel von den Rängen, schnell zurück in die Verteidigung, ich klatsche Vitali beidhändig ab. Schnellangriff aus dem Lehrbuch, so darf es gerne weitergehen.
Tut es aber nicht. Der Elfer ist nur auf den ersten Blick ein grobschlächtiger Klotz. Schon bei seinem ersten Ballbesitz bringt er mich mit einer Finte aufs falsche Bein, schiebt sich dann mit seiner Masse an mir vorbei zum leichten Ausgleich. Ich sehe Schmitt neben der Bank verärgert abwinken. Kacke!
Der Typ hält mich echt in Atem. Wenn ich ihn auch nur kurz aus den Augen verliere, bringt er sich in Wurf- oder Reboundposition. Zum Glück ist seine Trefferquote ziemlich mies. Ich versuche, mich an die Übungen mit Lukas zu erinnern: Knie beugen, auf den Ballen stehen! In die Augen gucken, nicht auf die Füße! Und bloß nicht zu viel nachdenken! Ich brauche ungefähr das erste Viertel der Spielzeit, um mich auf seine Bewegungen einzustellen, aber dann habe ich den Bogen raus. Immer wieder schaffe ich es, ihn abzuschirmen, seine Pässe abzufangen, ihn beim Rebound auszusperren. Bei seinem nächsten Wurf bin ich voll da, schraube mich mit aller Kraft in die Luft und schlage den Ball am höchsten Punkt zur Seite. Raunen in der Halle, ein Block für die Galerie!
Unterm eigenen Korb habe ich von da an alles im Griff, aber am anderen Spielfeldende kriege ich nichts auf die Reihe. Der Elfer konzentriert sich jetzt seinerseits auf die Verteidigung und macht es mir echt schwer. Klebt so dicht an mir, dass ich mich kaum zum Pass anbieten kann. Hält mich mit seinem breiten Rücken von den Offensivrebounds ab. Ich komme praktisch nicht an ihm vorbei, egal, was ich versuche. Immerhin kann ich ihn damit so auf mich ziehen, dass sich Lücken für die anderen ergeben; zur Halbzeit führen wir mit zwölf Punkten. Aber ich selbst habe zur Pause vier lausige Zähler geschafft, da fehlt noch einiges zu den magischen fünfzehn.
Doch mein Gegner spielt mit hohem Körpereinsatz und verteidigt eine Spur zu aggressiv; vielleicht ist er genervt, weil ich ihn im Angriff ziemlich abgemeldet habe. Jedenfalls schaffe ich es, ihn ein paarmal zu Fouls zu verleiten. Wir sind schon weit im letzten Viertel, als ich endlich mal wieder zum Korbwurf komme, ich verzögere etwas, seine Hand landet auf meinem Arm. Ich bekomme zum Treffer noch einen Freiwurf dazu, und der Elfer muss mit dem fünften Foul vom Feld. Yes!
Sieben Punkte jetzt, und noch ebenso viele Minuten zu spielen. Das kann ich schaffen, mir fehlen noch vier Körbe, und meine Nemesis ist aus dem Weg. Meinem neuen Gegenspieler kann ich schon im nächsten Angriff entwischen, in seinem Rücken nehme ich Raffaels Pass an und gehe zum Korbleger. Das Spiel müsste längst entschieden sein, aber ich schaue nicht auf die Anzeigetafel. Mein Punktestand lautet: neun!
Dann wechselt mich der Coach noch einmal aus. Das ist okay, ich hatte noch nicht viele Pausen, kurz verschnaufen tut mir gut, sicher kann ich gleich wieder aufs Feld. Doch die Minuten verrinnen, ohne dass Schmitt noch mal einen Wechsel ansagt. Immer wieder schaue ich zu ihm hinüber, er ist inzwischen die Ruhe selbst, ganz im Gegensatz zu mir. Ohne mein Zutun wippen meine Füße, meine Finger trommeln auf die Bank, wenn sie nicht gerade zum x-ten Mal nach der Wasserflasche greifen. Jetzt sieht Schmitt endlich in meine Richtung, aber nur, um mich mit einem Stirnrunzeln zur Ruhe zu mahnen. Ich erstarre, erst körperlich, dann innerlich. Irgendwann ertönt die Schlusssirene.
92:74 steht auf der Tafel an der Hallenwand. Auf meiner eigenen Anzeige steht: Zwölf Rebounds. Neun Punkte. Ziel verfehlt, Schlappschwanz. Schmitt wird mitgezählt haben, ganz sicher sogar, er hat ja schließlich die Messlatte gelegt. Warum hat er mich nicht wieder aufs Feld gelassen? Was hat der Typ denn gegen mich? Wenn er mich sowieso nicht zum Lehrgang schicken will, warum spielt er dann solche kranken Spielchen mit mir? Soll er doch sagen: Nee, Timo, vergiss es, du taugst nichts, da schicke ich lieber gar keinen hin als ausgerechnet dich. Aber doch nicht so!
„Schön gespielt, T-Man!“, brüllt es mir ins Ohr. Vitali haut mir auf die Schulter, dass mir kurz die Luft wegbleibt. Schön, ja? Das sieht wohl nicht jeder so. Wenigstens brauche ich nicht zu antworten, weil Vitali schon weiterläuft und die anderen abklatscht. Ich stehe von der Bank auf und sehe mich in der Halle um. Auf der Empore wird noch lebhaft über das Spiel diskutiert, meistens lachend, es muss wohl gut gewesen sein. Der Tross des VfL verlässt bereits die Halle. Sanela steht mit dem Rücken zu mir. Die U14-Kids werfen sich auf die Körbe ein.
Wieder mal will ich nur noch nach Hause. Diesmal fängt mich niemand an der Tür ab.
Eine gute Woche später komme ich von der Schule nach Hause. Dad ist noch auf der Arbeit, Mom wahrscheinlich beim Einkaufen, auf dem Küchentisch liegt ein Brief für mich. Vom Landesverband. Einladung zum Sichtungslehrgang. Ich lese das Schreiben dreimal. Das kann nur ein Irrtum sein, bestimmt ist es einer. Hat unser Spartenleiter die falsche Liste eingereicht? Wäre nicht das erste Mal, dass er so eine Schusseligkeit begeht, er hat auch schon mal eine ganze Mannschaft in der falschen Spielklasse angemeldet. Schmitt wird toben, wenn er das merkt, und natürlich alles rückgängig machen. Oder sollte doch ...? Nein, kann nicht sein, er hat sich ja unmissverständlich ausgedrückt.
Am nächsten Tag bin ich in Mathe nicht ganz bei der Sache. Kein Wunder nach so einer Nacht mit wenig Schlaf und viel Grübelei. Nach der Stunde gehe ich zu Schmitt und halte ihm den Brief hin. „Den hab ich gestern gekriegt.“
Schmitt wirft nur einen kurzen Blick auf das Papier. „Soso“, ist sein ganzer Kommentar. Er wendet sich zum Gehen.
„Da ist ein Fehler passiert, oder?“, sage ich. „Ich meine, ich hab ja nicht ...“
Er seufzt theatralisch, bleibt stehen und dreht sich zu mir um. „Meine Güte, Timo. Ist es neuerdings dein Kopf, der so langsam ist? Gerade jetzt, wo deine Füße allmählich in Gang kommen?“
Ich verstehe kein Wort, wahrscheinlich gucke ich wie ein Schaf. Zum Glück ist keiner mehr im Raum, um diese Peinlichkeit mitzuerleben.
„Ich hab bisher noch immer jemanden hingeschickt, mindestens einen Spieler jedes Jahr. Raffael geht demnächst für sein Austauschjahr nach Kanada, und Moritz hat einfach nicht dein Talent.“ Ich raffe immer noch nichts. Talent? Wer jetzt, ich?
Schmitt sieht meinen Gesichtsausdruck und fährt fort. Er redet extra langsam und deutlich, wie mit einem kleinen Kind. „Ja, Timo, du warst gut in dem Spiel gegen den VfL. Ja, ich hab dich für den Lehrgang angemeldet. Scheiß auf die sechs Punkte, du hast verteidigt wie ein Tier. So weit begriffen?“ Ich schaffe es zu nicken. „Ich hab dich mit Lukas trainieren sehen. Hast wirklich dazugelernt. Aber glaub bloß nicht, du wärst jetzt geheilt oder so was. An dieser Kinosache musst du dranbleiben und weiter an dir arbeiten, in jedem Training und jedem Spiel wieder. Dann kann das was werden, aber auch nur dann. Okay?“ Er boxt mir gegen den Oberarm, sein Gesicht verzieht sich. Mir dämmert, dass das ein Lächeln ist. „Fahr zu dem Lehrgang, zieh dein Ding durch, nutz deine Chance. Und blamier mich nicht.“ Damit verlässt er den Klassenraum.
Während ich langsam den Brief in meinen Rucksack schiebe und Richtung Pause gehe, schleicht sich allmählich ein Lächeln auf mein Gesicht. Warst gut. Hast dazugelernt. Kann was werden. Wahrscheinlich müsste ich Schmitt verfluchen, dass er mir das nicht viel eher mal gesagt hat. Vielleicht morgen. Und übermorgen begreife ich womöglich, dass nicht alles auf der Welt davon abhängt, was Schmitt sagt oder nicht sagt. Aber heute freue ich mich erst mal nur. Zieh dein Ding durch. Nutze deine Chance.
Ich trete durch die große Schwingtür auf den Schulhof, die Vormittagssonne blendet mich. Als meine Augen sich an das Licht gewöhnt haben, sehe ich Sanela neben den Fahrradständern stehen. Sie ist allein und tippt irgendwas auf ihrem Handy.
Ich atme tief durch und gehe zu ihr hinüber. Nutze deine Chance. „Hi.“
Sanela schaut auf. „Hi, Timo.“ Sie streicht sich eine braune Strähne aus dem Gesicht und blickt mir direkt in die Augen.
Das bringt mich aus dem Konzept. Habe ich überhaupt eins? „Ich, äh ... wollte dich mal fragen ...“
„Ja?“ Sie legt den Kopf schief. Ich starre nur noch auf ihr entblößtes Ohrläppchen.
„Also ... hättest du vielleicht mal Lust auf Kino?“
Sanela sieht mich zwei Sekunden lang wortlos an. Dann lacht sie los.