Mitglied
- Beitritt
- 19.01.2008
- Beiträge
- 23
Der alten Ziege geht's nicht gut
Die Übernachtung in einem der zwölf Zimmer kostet p.P. achtzig Euro und ich weiß von außen, welche Farbe die Bettdecke hat und welches Muster der Teppich. Ich weiß von der Minibar und der Klimaanlage und ich weiß, dass die Sehenswürdigkeiten nicht weit entfernt sind.
«Park doch dahinten.»
Weder der Preis noch die Ausstattung haben mich verführt, sondern das falsche Lächeln eines Mädchens. Bewegungslos hat sie auf dem Doppelbett gelegen, ohne zu blinzen, ohne den Blick abzuwenden, und ihr Lächeln galt nur mir. Dabei war es so falsch wie ihre Freude.
«Wo dahinten?»
Der Reiseprospekt verspricht ein «gemütliches Ambiente» und eine «idyllische Umgebung». Alles hier ist «atemberaubend schön»: die Berge, die Wälder, die Menschen. Die Kulisse stimmt, wir sind selber Schuld, wenn wir uns nicht amüsieren.
«An den Pappeln.»
Natürlich ist die Realität niemals so perfekt wie die Katalogbilder und das wahre Leben ein ständiger Kompromiss. Eigentlich wollte ich ein Cabrio haben, aber sie hatten keines mehr. Also ist unser Mietwagen braun und klappert, hat einen vollen Aschenbecher und eine Klimaanlage, die nach wenigen Kilometern ihren Dienst eingestellt hat.
«Perfekt», sagt Jennifer.
Ich parke im Schatten der Pappeln, der Motor stirbt und knistert. Entfernt zirpen unsichtbare Insekten und ich bin ganz froh, sie nur hören zu können. Jennifer steigt aus, der Kies knirscht unter ihren Schuhsohlen. Ihr dünnes Sommerkleid klebt an ihrem Körper wie ein feuchter Duschvorhang.
Es ist früher Abend, die Sonne steht tief und taucht alles in ein golden-warmes Licht. Wirklich atemberaubend schön.
Das Knattern eines Motorrades überlagert das Zirpen. Es ist eine alte BMW Sowieso, die auf den Parkplatz gefahren kommt. Auf dem Motorrad sitzt ein Mann, hinter ihm presst sich eine Frau an seinen Rücken, sie hat die Arme fest um seinen Bauch geschlungen. Dünne Träger halten ihr Kleid an den Schultern, sie trägt keinen Helm, sie lebt gefährlich. Die BMW hält neben unserem Mietwagen. Der Mann schiebt seine Sonnenbrille über den Nasenrücken und mustert uns. Mich nur kurz, Jennifer etwas länger. Sein Blick gleitet ihren Rücken entlang, bleibt auf ihrem Hintern haften.
«Hey», sage ich, er nickt nur. Die oberen Knöpfe seines weißen Hemdes sind nicht zugeknöpft.
Jennifer nimmt unsere Taschen aus dem Kofferraum und stellt sie auf den Kiesboden. Jetzt schaut mich die Frau an und lächelt. Sie dreht sich um und geht auf das Gästehaus zu. Ihre Bewegungen lassen erahnen, dass sie mit ihrem Körper alles kriegt. Sie könnte aus dem Reisekatalog stammen.
Ihr Begleiter klemmt sich ganz lässig eine Zigarette in den Mundwinkel und sucht in seinen Hosentaschen nach dem Feuerzeug. Er ist groß und dünn, hat lange Arme und einen kantigen Kopf und einen spitzen Adamsapfel, der von innen gegen seinen Hals drückt. Ich schließe den Wagen ab.
«Komm, ich muss pinkeln», sagt Jennifer.
Ein leises Klicken und dann rauscht eine Flamme aus dem Zippo. Der Fremde saugt an seiner Zigarette und schiebt seine Sonnenbrille zurück. Der Zigarettenqualm brennt mir in den Augen.
«Jetzt komm!»
Kleine Steinchen bleiben im Profil meiner Schuhe stecken.
Durch die Wand höre ich ein fremdes Gespräch und mich überkommt eine dumpfe Geschlagenheit. Ich bin so müde, dass ich nur noch auf dem Bett liegen kann und einfach existiere.
Ich bin die Decke, auf der ich liege, sinnlos liegen wir aufeinander und erfüllen keinen Zweck. Ich werde eins mit dem Zimmer, ich bin unsichtbar. Ich bin das Doppelbett.
Vielleicht hat die Katalog-Schönheit genau auf dieser Matratze gelegen und sich spielerisch in die Haare gegriffen. Sie war das glücklichste Mädchen der Welt, weil sie in diesem Doppelzimmer lebte, in diesem Zimmer mit Dusche und Minibar und Fernseher und Haartrockner.
Während ich auf das Einsetzen der Euphorie warte, werden sie im Nebenzimmer lauter. Ich höre ihr Stöhnen und sein Poltern. Ich bin ein Mensch.
Es ist das Paar vom Parkplatz. Ich habe sie ins Zimmer huschen sehen, als wir vorhin unsere Koffer den Flur entlangzogen haben, auf der Suche nach unserem Zimmer, dem «best room of the house», wie die Alte an der Rezeption gelogen hat.
Drüben legen sie jetzt richtig los. Ich richte mich ein wenig auf und starre an die gegenüberliegende Wand. Sie ist weiß. Mir ist, als würde sie sich bewegen. Der Putz bröckelt, es ist wie im Krieg, als wären da draußen die Panzer, die alles in Schutt und Asche schießen. Als würde die Wand jede Sekunde einstürzen und den Blick freigeben auf den dürren Kerl, wie er auf seiner Liebsten reitet.
Erst will ich mit der Faust gegen die Wand schlagen, doch ich bin zu feige und zu faul und lege mich wieder hin und höre zu.
Jennifer kommt aus dem Bad und rubbelt ihre Haare trocken. Durch den schwarzen Stoff ihres Slips schimmert das Etikett mit den Herstellerangaben und Waschinstruktionen.
Nebenan wird es schlagartig ruhig. Entweder sind sie fertig oder ermordet. Die Wand hat keinen Millimeter nachgegeben.
«Ich bestehe auf ein romantisches Essen bei Kerzenschein», sagt Jennifer und ignoriert mein demonstratives Gähnen. Sie will Kerzen und süßen Nachtisch.
«Lass uns das morgen machen.»
«Ich bin auch müde, na und? Komm schon.» Ihr Blick ersetzt jeden Befehl.
«Bin gar nicht hungrig», behaupte ich – und kann seit Stunden an nichts anderes als Pizza denken. Der Hunger ist der Müdigkeit überlegen und lässt mich aufstehen. Ich ziehe ein frisches Hemd an, während sich Jennifer das Gesicht anmalt.
Kerzen gibt es dann keine. Wir sitzen in einer kleinen Trattoria nicht weit von unserer Pension, es ist das einzige Lokal, das nicht nach einer versifften Spelunke aussieht.
«No candles, too dangerous», sagt der Kellner. Trotzdem ist die Atmosphäre angenehm und gemütlich. Nur die vielen Gemälde von verschiedenen Ziegen stören irgendwie; ausgerechnet Ziegen.
«My cousin made those», erklärt der Kellner. «He likes to paint people―»
«―und struppige Ziegen.»
Der Kellner schaut mich an, sein Mund wird zu einem Geviertstrich. Er ahnt in meinen Worten eine Beleidigung.
«Very nice paintings», sage ich, doch der Kellner ist wieder weg Er muss Stammgäste begrüßen, die gerade zur Tür rein sind. Sie umarmen sich, hier ein Kuss, da ein Kuss, ein lautes Lachen – und noch eine Umarmung, damit das Trinkgeld besser ausfällt.
Es ist das Paar von nebenan, das Paar vom Parkplatz. Der Kellner führt sie zu ihrem Tisch in der dunklen Ecke, der beste Tisch des Lokals.
Außer uns sind noch vier weitere Paare anwesend sowie ein runder Mann, der an einem kleinen Tisch sitzt, Lasagne isst und dabei Nabokovs Lolita liest. Unsere Zimmernachbarn knutschen im schummrigen Licht. Der Kerl hat einen langen Hals und eine Hakennase. Er nimmt seine Sonnenbrille aus dem Gesicht, sie stört beim Küssen. Es ist auch wirklich düster hier.
Ich werde Pizza Margherita nehmen und Jennifer wird mir wieder fehlende Experimentierfreude vorwerfen. Kein unzutreffender Vorwurf, in gewisser Hinsicht bin ich erstaunlich langweilig, besonders in kulinarischen Angelegenheiten. Jennifer wird jedes Mal wütend, wenn ich mir ordinäre Nudeln bringen lasse, und ich habe sie schon oft enttäuscht. Ich soll eben mal was Neues probieren, vielleicht den Schneckeneintopf oder das Krokodilfleisch, well done.
Ich wünschte wirklich, dass ich Lust darauf hätte, aber ich bleibe bei dem, was ich mag. So erspare ich mir wenigstens die Konsequenzen des kulinarischen Todesmutes. Jennifer hingegen hat schon so einige Nacht über der Kloschüssel verbracht und teures/exotisches Gemetzel ins Nirwana gewürgt. Mir muss sie nichts beweisen.
«Was nimmst du?», fragt Jennifer und schaut mich erwartungsvoll an. Ich kann ihr jetzt unmöglich mit Pizza kommen. Noch nicht.
«Keine Ahnung», sage ich, um erst mal etwas Zeit zu gewinnen. Jennifer führt das Studium der Speisekarte fort. Leise liest sie die verschiedenen Speisen, wobei sich ihre Lippen zaghaft bewegen und die Worte formen, als würde sie uns die Köstlichkeiten vorlesen und uns mit fester Stimme zum kulinarischen Selbstmord anstiften.
An den anderen Tischen ahnen sie nichts und unterhalten sich lebhaft, lachen und genießen ihre Nudeln und ihr Brot. Unseren Zimmernachbarn bringt der Kellner zwei Gläser Rotwein. Bestimmt irgendeine billige Plörre aus dem Tetrapak, irgendwas, das weg musste. Sie stoßen an und er trinkt das halbe Glas aus. Jennifer trinkt Ginger Ale und ich ein kleines Bier.
Wir haben viel vor, da bleibt kein Platz für einen Alkoholexzess. Jennifer hat alle möglichen Reiseführer studiert, hat Textpassagen markiert und sich Geheimtipps herausgeschrieben.
«Was sind denn das für Geheimtipps, wenn die überall stehen?», hatte ich sie gefragt, worauf sie mit aggressivem Unverständnis reagiert hatte. Im Flugzeug legte sie mir tatsächlich einen Packen Papier auf mein heruntergeklapptes Plastiktischen. Dieses Dossier war Ergebnis ihrer Mühen; sie nannte es wirklich ihr Dossier. Ich lobte Jennifer für ihren Ehrgeiz und schob die Papiere zur Seite. Ich dachte, ich hätte meine Aufgabe erfüllt.
«Du hast ja gar nicht richtig gelesen.»
Ich ahnte, dass dies ein anstrengender Urlaub werden würde, der im Reisekatalog unter der Rubrik Aktivurlaub zu finden wäre.
Unsere Zimmernachbarn schlürfen an den Enden einer Spaghetti, bis die Nudel in einem Kuss verschwunden ist. Die Fremde schaut mich an und nickt dezent, bevor alles dunkel wird. Der Kellner hat sich wie ein riesiger Mond zwischen uns geschoben. Ich schaue in sein graues Gesicht und sage schnell: «Pizza Margherita».
«Pizza Margherita», wiederholt der Kellner und ich bilde mir einen enttäuschten Unterton in seiner Stimme ein.
«Und für mich Spaghetti Cabonara», sagt Jennifer und klappt das Menü zu. Der Kellner notiert unsere bescheidenen Wünsche und verschwindet. Hatten die Nächte neben der Toilettenschüssel also doch etwas bewirkt, war Jennifer etwa eine Ernüchterung widerfahren, die sie zur Vernunft gebracht hat? Würde ich nun endlich Pizza, Pommes und ordinären Chefsalate genießen können – und niemals mehr Calamari Fritti con Crema di Pomodoro?
«Morgen sollten wir unbedingt indisch essen gehen, da hätte ich total Lust drauf.»
«Indisch?»
«Oder vielleicht Sushi», sagt Jennifer und schaut mich mit großen Augen an. Sie ist völlig von Sinnen. Keine Spur von Ernüchterung, nur heute gönnt sie uns eine kleine Pause. Ich bringe es noch zu einem stillen Stöhnen, das als resignierendes Einverständnis durchgehen kann. Also indisch.
Susi und Strolch haben ihre Spaghetti aufgegessen, aber Susi ist noch nicht satt. Sie streicht mit ihrer Zungenspitze langsam die Vorderzähne entlang, vielleicht hat sie was zwischen den Zähnen hängen. Ich weiß es nicht, es ist wirklich düster hier.
«Morgen Vormittag können wir uns vielleicht den (…) angucken», sagt Jennifer.
Strolch steht auf und verschwindet nach hinten, wo ein kleines Schild die Toiletten verortet. Susi schaut sich um, unsere Blicke treffen sich. Sie lächelt und legt dann die Serviette auf die Tischdecke. Sie rückt mit dem Stuhl vom Tisch und steht langsam auf. Ihr elegantes Kleid und ihre langen Haare—
«Oder wir fahren nach (…) und gucken uns die (…) an.»
—wehen in der Luft, es ist ein bisschen zugig hier.
«Was sagst du dazu?», fragt Jennifer und schaut mich an. Susi ist nirgends zu sehen, ihr Tisch steht einsam in der Ecke.
«Das können wir gern machen», sage ich. Hoffentlich werde ich keine Hoden essen müssen.
«Müssen wir mal sehen, wie das Wetter morgen wird.»
«Klar.»
«Wenn es regnet, können wir vielleicht doch lieber nach (…) fahren, da ist ein (…), das wir unbedingt besuchen sollten. Soll wirklich schön sein.»
Atemberaubend schön.
«Ich bin gleich zurück», sage ich.
«Wohin willst du denn?»
«Pinkeln, ich muss pinkeln!»
Ich folge dem kleinen Schild und komme an den Gemälden des Cousins vorbei. Stillleben mit einer dicken Ziege, die ausgeweidet auf dem Gras liegt. Die Gedärme liegen neben dem leblosen Körper. Der Kellner sollte sich wirklich Sorgen um seinen Cousin machen.
Ich gehe eine enge Treppe hinunter. Unten im gelben Licht sind zwei Türen, auf denen Symbole auf die Geschlechtertrennung hinweisen. Ich muss stehen bleiben, um die Piktogramme erkennen zu können, um herauszufinden, welches Geschlecht welche Tür zu nehmen hat.
Links die Damen, rechts die Herren.
Ich verweile einen Moment und lausche. Zwischen den beiden Türen hängt ein weiteres Bild, es zeigt keine tote Ziege. Es ist ein Portrait einer jungen Frau mit buschigen Augenbrauen und großer Nase. Sie schaut mich an, sie lächelt zaghaft. Der Cousin malt also auch Frauen.
Ich stoße die rechte Tür auf, es ist niemand zu sehen. Dann höre ich sie. Ihr Stöhnen, sein Poltern. Schnell wasche ich mir Hände in dem kleinen Waschbecken und verschwinde.
Als ich an unseren Tisch zurückkehre, steht unser Essen da. Meine Pizza dampft, Jennifers Nudeln duften. Der Lasagneleser genießt seinen Nachtisch: Tiramisu für fünf Euro. Das werde ich auch nehmen, beschließe ich.
«Sieht lecker aus», sagt Jennifer und lächelt. Ich rücke näher zu ihr und streiche ihr sanft über ihren Arm, über die weichen Härchen.