Da muss ich spontan an Titanic denken. Da wird doch aus der Sicht von Rose erzählt (man sieht sie zu Beginn des Films als alte Dame), und dann tauchen pötzlich jede Menge Szenen im Film auf, wo sie gar nicht dabei ist. Woher weiß sie denn so genau , dass Leo dies oder jenes tat? Schließlich ist er am Ende vom Film gestorben, ihr hinterher davon erzählen konnte er ja nicht.
Tut mir leid, ich habe Titanic nie gesehen und bin sehr stolz darauf.
Noch Zum Stephen King, Dan Brown und dieses 3. Person Präteritum, dass meistens verwendet wird:
Diese Form ist dann auch personal oder nicht? Von Kapitel zu Kapitel schlüpft man in verschiedene Personen, und beschränkt sich dann allein auf ihr Epfinden, Sehen, Gedanken usw…
Ja. Wenn es sauber durchgehalten wird.
Und noch zu King: Ich habe vor kurzem the Stand gelesen, und da schreibt er ein paar Mal am Ende von Kapiteln so Sätze wie:
Und das war das Letzte Mal, das sie sich sahen.
Oder: Er sollte diesen Ausspruch noch bereuen.
Und das geht nur bei einem auktorialen Erzähler. Das ist "Foreshadowing", typische Spannungs-Schule. Es ist grad ein Hänger in der Spannungskurve und wir versichern dem Leser, dass es nachher schon noch spannend wird. Das ist - nach der Erzähltheorie - dann auktorial. Und für Puristen ist das ein Perspektiv-Fehler.
Und noch kurz zu diesem "modernen" auktorialen Erzähler. Hast du ein Beispiel dafür?
John Maddox Roberts, der SPQR-Zyklus. Da erinnert sich jemand an sein Leben zurück und gibt immer wieder Anekdoten zum Besten.
Bei "Jakob, der Lügner" weiß der Erzähler mittlerweile Dinge, weil er sie recherchiert hat, über die er zum Zeitpunkt des Geschehens noch nichts wusste. Dann hat er sich Dinge "zusammengereimt", oder vermutet sie nur. Das ist alles nicht mehr so einfach.

Die Fernsehserie "How i met your mother" ist so erzählt.
Hier im Forum? Ich hab bestimmt ein paar Geschichten so geschrieben, aber will keine Eigenwerbung machen. Ricks Geschichten sind oft in diesem Rückblick geschrieben, aber da wird die Erzählsituation auch nicht richtig thematisiert ... ich wüsste jetzt nichts, allgemein wird hier im Forum wenig mit Erzählperspektive und Erzählsituation experimentiert. Also so weit ich den Überblick habe, es gibt auch Autoren, die ich nicht lese, vielleicht machen die das dann ... weiß der Geier.
Germanistikstudenten machen das manchmal hier ... da behandeln sie Dienstags im Seminar den Dekonstruktivismus und Donnerstags gibt's dann ne spitzen neue Kurzgeschichte.
Ganz im allgemeinen, dieser Unterschied.
Der "veraltete" auktoriale Erzähler ist allwissend.
Der "moderne" auktoriale Erzähler ist nur wissender, als er es im Moment der Handlung sein konnte und teilt dem Leser mit, wie er an die Informationen gelangt ist, die er im Moment der Handlung gar nicht haben konnte.
Auktorial zeichnet sich ja durch eine gewisse Distanz zum Geschehen aus, Effi Briest und so ein Kram ist bestimmt auktorial, aber wenn man nicht allwissend ist, dann ist das doch auch irgendwie strange… also ich weiß jetzt nicht genau, wie ich mir dieses "moderne" vorstellen soll.
In der Praxis fällt einem das gar nicht auf. Das ist etwas, zu dem man sich zwingen muss, auf die Erzählsituation zu achten.
Das sieht man doch hier im Forum. Wer achtet denn hier auf Erzählstruktur und Erzählsituation? Aris hat neulich eine Collage hingestellt und darauf gehofft, dass jemand mit ihm darüber spricht. Friedrichards Texte haben immer den Autor als Erzähler, jetzt stellt er sie ja unter Rezensionen. Neulich hatte in Horror einer einen post-modernen Erzählrahmen, mit einer Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, aber hat das selbst gar nicht beachtet und einfach alles in einer Stimme erzählt - das geht dann natürlich nicht.
Das Erzählen innerhalb eines Erzählrahmens mit einer Erzählsituation, einer Erzählfigur, das ist Schreiben für Fortgeschrittene, das ist auch "literarisches" Schreiben. Wenn ich ein Buch aus dem Drehregal in der Bahnhofsbuchhandlung zieh, mit lustigen FIguren auf dem Cover ... dann werd ich da nix finden.
Wenn ich irgendwas lese von Calvino oder Eco, dann krieg ich hundert-pro einen Erzählrahmen verpasst.
Calvino "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" ist super-meta, da fängt der erste Satz damit an, dass man sich anschickt, nun das Buch zu lesen. Und bekommt Empfehlungen, wie man es sich am besten bequem macht.
Bei Ecos Name der Rose ist das so ein Dr. Watson-Erzähler.
Und bei Dürrenmatts "Versprechen" ist der Ich-Erzähler ein Autor (es soll wohl impliziert werden, es sei Dürrenmatt selbst), der auf einer schlecht besuchten Lesung dann von dem Kommisar auf der Heimfahrt erzählt bekommt, was sich da zugetragen hat.
Bei "Meister des Jüngsten Tages" bekomt man eine Erzählung serviert, und am Ende gibt es einen Nachtrag: Ja, das sei jetzt ein Tagebuch gewesen. Der Autor habe sich umgebracht und an den und den Stellen müsse er wohl gelogen haben.
Vor achtzig Jahren als Agatha Christie die Krimis geschrieben hat, hat sie alle zwei Jahren neue Erzählstrukturen erfunden, die wir heute in Durchpausungen noch im Fernsehprogramm sehen. Auf einmal hatte sich der Mörder nicht mehr im "er" versteckt oder im "sie" bei anderen, auf einmal war der Mörder im "Ich" zu suchen, weil der Leser vom Erzähler belogen worden ist.
Dann hatte man in "Fight Club" einen schizophrenen Erzähler. Handlungen fanden in der Psyche des Erzählers statt, in seinem Kopf.
Und immer kommt dann Alice im Wunderland, weil das ein Buch über die Sprache und das Erzählen ist.
Moderne/Postmoderne Literatur ist immer ein Spiel mit der Erzählsituation. Das hat auch nicht immer was mit dem Vergnügen des Lesers zu tun ... da schreibt man auch für ein bestimmtes Publikum, das sich an so was erfreut.
Ich hab neulich einen Bericht über Köche im Fernsehen gesehen, da sagte ein Koch, er könne von seinen Gästen gar nicht erwarten, dass sie sein Essen "verstehen", hauptsache, es schmecke ihn halt.
So ähnlich ist das mit der Erzählsituation auch ... man kann sich da viel Arbeit machen und der Leser interessiert sich nicht dafür. Honorieren tut er es schon mal gar nicht, weil das alles furchtbar anstrengend ist.
Und kann es nicht auch sein, dass es in einer auktorialen Erzählung Stellen gibt, wo der Erzähler in den Kopf einer Person steigt, und das Ganze dann passagenweise sehr personal klingt?
Ja, klar. Auktorial kann so tun, als wär er personal und kann sich selbst Beschränkungen auflegen.
Aber wenn man erstmal vom personalen ins auktoriale gewechselt ist, dann ist man auktorial.
Ein Vogel kann auf dem Boden landen und so tun als wär er ein Frosch, aber ein Frosch kann sich nicht Flügel wachsen lassen und anfangen zu fliegen.
Deshalb ist diese Geschichte von King mit dem Foreshadowing dann "unsauber" erzählt. Ein personaler Erzähler, der seine Erzählsituation "verrät/betrügt", weil er ein Loch in der Spannungskurve ausggleichen muss.
Da wachsen dem Frosch kurz Flügel.
So, jetzt bin ich aber auch fertig und hab da genug gelabert.
Gruß
Quinn