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Die Katastrophe
Die vorgegebenen Worte waren: Katastrophe, Pudding, Aquarium, Sommersprossen und Vernunftheirat
Früher, als Julia noch kleiner war, da wußte sie nicht so recht, was das war – eine Katastrophe.
Die alte Frau Mering vom Zeitungsladen benutzte das seltsame Wort manchmal. Wenn es in Strömen regnete und Frau Mering aus ihrem warmen, trockenen Laden heraus humpeln mußte, um den Ständer mit den Tageszeitungen mit einer großen Plastikplane abzudecken, dann seufzte sie immer und jammerte: „Eine Katastrophe ist das. Eine Katastrophe. Ach je! Ach je!“
Lange Zeit glaubte Julia, daß Katastrophe nur ein anderes Wort für Regen war. Aber in dem Sommer, als es so trocken war, daß das Gras im Garten braun wurde, da merkte Julia, daß sie sich geirrt hatte. Eines Abends, als es damals endlich regnete, da rannte Julia im Badeanzug in den Garten und sang begeistert zum Prasseln der Regentropfen: „Eine Katastrophe! Hurra! Eine Katastrophe!“
„Was?“ fragte Kai. „Was grölst du da für einen Quatsch?“
Kai wohnte nebenan und er war drei Jahre älter als Julia. Deshalb war er wahrscheinlich auch viel klüger als sie.
„Es regnet!“ jubelte Julia. „Eine richtige Katastrophe!“
„Mensch bist du bescheuert!“ schnaubte Kai. „Ein Sommerregen ist doch keine Katastrophe.“
„Nicht? – Ich dachte...“ Julia verstummte. Sie war verwirrt. War eine Katastrophe denn kein Regen?
Jetzt war Julia zwei Jahre älter und sie schämte sich richtig, wenn sie daran dachte, wie dumm sie damals gewesen war. Eine Katastrophe ein Regen..... So ein Quatsch.
Seit drei Tagen wußte Julia genau, was eine richtige Katastrophe war.
Vor drei Tagen saß sie Abends im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Sie schaute sich ihre Lieblingssendung an und aß ein Schälchen Pudding, das vom Mittagessen übrig geblieben war. Ab und zu warf sie einen Blick auf das Aquarium, in dem der neue Fisch schwamm, den Opa ihr geschenkt hatte. Dem Kleinen ging es gut. Munter spaddelte er durch das Wasser und die feinen Fäden der Algen berührten seinen glänzenden Bauch.
Eigentlich hätte Julia zufrieden sein müssen: Der Pudding schmeckte, dem Fisch ging es gut und die Fernsehsendung war okay.
Aber Julia ging es gar nicht gut. In ihrem Magen war ein kleiner, knotiger, harter, kalter Klumpen. Der Klumpen fühlte sich ein bißchen wie Angst an und er hatte ganz sicher etwas mit Mama und Papa zu tun.
Mama und Papa waren nämlich in der Küche und sie redeten sehr laut miteinander. Sehr laut und sehr unfreundlich. Mamas Stimme war ganz schrill und Papa klang so wütend. Julia konnte fast jedes Wort hören, obwohl alle Türen geschlossen waren.
Julia stellte den Pudding auf den Tisch. Sie hatte keinen Appetit mehr. Sie wollte nicht, daß Mamas Stimme ihr so weh tat. Sie wollte nicht, daß Papa wütend war. Julia nahm die Fernbedienung und stellte den Fernseher lauter.
Aber die Stimmen wurden auch lauter.
„Willst du damit sagen, es war bloß eine Vernunftheirat?“ Das war Mama und ihre Stimme war wie ein scharfes, blankes Messer. So sollte sie nicht schreien, damit tat sie Papa bestimmt weh. Julia hielt sich die Ohren zu, aber sie hörte trotzdem, wie Papa tobte: „Meinetwegen! Dann geh doch zurück zu deiner Mutter. Da paßt du sowieso besser hin. Du bist genauso neurotisch wie sie.“
Julia weinte. Was hatten die beiden nur? Warum waren sie so gemein zueinander? Und was war eigentlich mit Oma nicht in Ordnung?
Julia wollte das alles nicht mehr hören. Sie stellte den Fernseher noch lauter und preßte die Fäuste auf die Ohren zu. Doch da kam Mama ins Wohnzimmer gestürzt und riß Julia an einem Arm aus dem Sessel.
„Bist du wahnsinnig? Was sollen denn die Nachbarn denken?“
Mit diesen Worten stellte sie den Fernseher aus.
„Mir reicht es!“ Das war Papa. Er zog sich im Flur seinen Mantel an. „Nicht mal am Abend, nach einem harten Arbeitstag hat man hier seine Ruhe. Ich gehe in die Kneipe.“ Und Julia hörte, wie die Haustür ins Schloß fiel.
Mama stand einen Augenblick wie versteinert. Dann begann sie zu weinen. Die Tränen liefen über ihr Gesicht, das mit roten Flecken übersät war.
Julia saß ganz still. Sie wollte Mama trösten, weil sie sie lieb hatte, aber sie wollte auch Papa trösten, denn ihn hatte sie genauso lieb. Papa aber war nicht da. – Julia rührte sich nicht.
„Was glaubt der eigentlich? Meint er, ich lasse mir alles gefallen?“ Mama zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.
„Julia! Zieh dich an!“ Mamas Stimme war ganz kalt. Richtig unheimlich. „Zieh dich an, wir fahren zu Oma!“
Mamas Stimme und Mamas Augen waren so, daß Julia nicht wagte, zu widersprechen.
Sie hatte sich angezogen und dann waren sie zu Oma gefahren.
Oma nahm Julia wortlos in die Arme und drückte sie fest an sich. Und später, als Julia schon in dem kleinen Zimmer auf dem Sofa lag, da war Oma leise noch einmal hereingekommen, um nach Julia zu sehen.
Julia machte die Augen nicht auf. Sie wußte, wenn sie jetzt mit Oma reden würde, dann würden all die vielen Tränen, die in ihr warteten und die sie nur mit Mühe zurück hielt, aus ihr heraus brechen und sie würde weinen und weinen und weinen.
Und so dachte Oma, daß Julia schon schlief. Und Julia hörte, wie Oma murmelte: „Armes Ding. Ganz käsig und bleich unter den vielen Sommersprossen. – Eine Katastrophe ist das! Eine Katastrophe!“
Und da, ganz plötzlich, wußte Julia, was für ein furchtbares Ding eine Katastrophe war.