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Magarete
Hey, das hilft ja richtig gegen Schreibstau!
Die Wörter waren: Brand, Zuckerhut,Gartenzaun, Schnee, Tagesschau. Und die Geschichte ist folgende:
Magarete
„Oh Mann, hab' ich einen Brand!“
Alfred nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Das Bier war schon fast handwarm. Bah! Nicht, daß es ihm kalt besser geschmeckt hätte. Seit zwei Jahren ging es ihm sowieso eher darum, seine Sinne zu betäuben. Seine Erinnerungen. Seine Vergangenheit.
Der offene Kühlschrank nebenan warf schwaches Licht in den Raum. Und das beruhigende Summen des Wärmetauschers. Alfred wollte sterben. Oder besser, gesagt, er wollte nicht mehr leben, doch da er für einen sauberen Selbstmord zu feige war, war es einfacher, sich ständig die Birne zuzuknallen. Mit etwas Glück soff er sich bald zu Tode. Dann kam der Tod schleichend, wie durch einen Nebel, aber letztenendes doch plötzlich und unerwartet als Nierenversagen oder Leberzirrose daher. Und dann war es vorbei. Ein paar Tage oder Wochen im Krankenhaus und weg war er. Und es galt nicht, diese Hürde zu überwinden, wie wenn man mit einer Wumme an der Schläfe den Zeigefinger durchbiegen soll. So war es viel einfacher. Jeden Tag ein bischen und unscheinbar.
Er stand vom Sessel auf und ging zum Kühlschrank. Was war denn noch alles da? Eine Packung Kartoffelsalat mit Speck, Butter, ein paar Dosen Bier und... aah! Eine Flasche Jack Daniels, halbvoll. Er nahm einen kräftigen Schluck und bekam einen Hustenanfall. Er schleppte sich zurück zum Sessel, trank den letzten Schluck Bier aus der Flasche und rieb sich den Hals. Seine Uhr zeigte kurz vor 8. Die Fernbedienung lag auf dem Boden, umgeben von Krümeln, Kronkorken und anderem. Daneben der eine Socken, den er blödsinnigerweise immer auszog. Knisternd sprang der Fernseher an und zeigte die Uhr an, die den penetrant pünktlichen Beginn der Tagesschau demonstrierte.
„Guten Abend, meine Damen und Herren.“ Die Worte des Sprechers erreichten sein Gehirn schon länger nicht mehr. Er schaltete den Ton aus. Alltäglich die Tagesschau zu sehen, war eines der letzten Überbleibsel seines alten Lebens, und auch dieses Ritual, über das sich seine Frau Magarete so gerne lustig gemacht hatte, zerfiel zusehends.
Er stand auf und ging zum Fenster. Die Jalousien waren fast immer heruntergezogen. Alfred wollte nicht, daß die Nachbarn von Gegenüber seinen Zerfall beobachteten. Doch jetzt war es dunkel und er konnte sie hochziehen. Auf den Dächern und auf den Gehwegen lag Schnee. Weißer Schnee. Er glitzerte im Schein der Laternen.
Es klingelte. Einmal, zweimal, dreimal. Alfred starrte weiter nach draußen. Viermal, fünfmal, sechsmal. Sollte er ans Telefon gehen? Er hatte Angst. Angst vor der Nähe, Angst, mit jemandem reden zu müssen. Siebenmal, achtmal, neunmal. Seit einem Jahr war er kaum draußen gewesen. Seine Arbeit als Journalist hatte er vor einem Jahr verloren. Und seine Einkäufe bedeuteten für ihn seitdem jedesmal einen Horrortrip. Er schritt zum Telefon. Zehnmal. Schnaubend riß er den Hörer von der Gabel, legte ihn ans Ohr.
„Ja?“, schrie er fast.
Freizeichen.
Mit einem Schrei schleuderte er den Hörer von sich, so daß das ganze Telefon von dem kleinen Tischchen gerissen wurde. Ein paar Sekunden stand er nur schweratmend da und starrte das Telefon auf dem Boden an.
Er ging zurück zum Sessel, warf sich hinein und starrte weiter in die Mattscheibe. Das leise Piep des Telefons vermischte sich mit dem Summen des Kühlschranks.
Er wollte noch einen Schluck aus der Flasche nehmen, doch sie war leer. Er stand auf, ging zum Kühlschrank, nahm zwei Dosen Bier heraus, ebenso den Kartoffelsalat. Aus der Spüle fischte er eine halbwegs saubere Gabel und wischte sie noch etwas ab. Dann ging er zurück, doch hielt er auf halbem Wege inne. Er stellte das Bier und die Packung Kartoffelsalat auf das kleine Tischchen und ging zum Telefon, hob es auf und legte den Hörer wieder auf die Gabel. Es klingelte sofort. Einmal, zweimal, dreimal. Zitternd griff seine freie Hand nach dem Hörer. Viermal, fünfmal, sechsmal. Er nahm ab.
„Ja?“. Nur ein Flüstern.
„Alfred? Bist du das?“
„Magarete!“
„Ja!“
„Wo bist du?“
„Rio!“
„Du bist tot!“
„Nein. Hör zu! Ich muß mit dir reden!“
„Ich verstehe das nicht!“ Das konnte nicht sein! Er hatte das Autowrack gesehen, in dem sie gesessen hatte. Niemand konnte das überleben.
„Ich weiß, Alfred. Es tut mir so leid. Aber wir müssen unbedingt reden. Ich bitte dich!“
Tränen schossen in seine Augen.
„Einfach so am Telefon?“
„Nein, hier! Ich möchte, daß du nach Rio kommst. Du hast doch immer schon davon geträumt, mal den Zuckerhut zu sehen, oder?“
„Magarete...“ Er wußte nicht was er sagen sollte. Sie konnte, sie durfte es nicht sein. Aber es war ihre Stimme, nie würde er sie vergessen. Nie würde er Ihr Lächeln vergessen, ihr Lachen, ihr Seufzen, nachts.
„Ich habe dir Geld für den Flug überwiesen. Über Heathrow geht noch diese Woche eine Maschine!“
„Magarete, es hat sich soviel geändert. Du müßtest mich SEHEN!“
„Ich weiß. Es macht mir nichts aus. Und es tut mir unendlich Leid. Aber es kann wieder werden, wie damals. Vor dem Unfall. Vertrau mir. Ich weiß, daß du mich noch liebst.“
„...“
„Und ich liebe dich!“
„Was machst du in Brasilien?“ Ganz langsam faßte Alfred sich wieder.
„Ich werde dir alles erklären. Wenn du hierher kommst.“
„OK!“
„Danke!“
Klick. Sie hatte aufgelegt. Magarete lebte. Sie war tot, oder vielmehr: Er und alle seine Freunde und Verwandten hatten es geglaubt. Sie waren sogar auf ihrer Beerdigung gewesen! Doch sie lebte! So viele Fragen. So wenig Antworten. Bis er in Rio war. Unterm Zuckerhut.
Er schaute sich um. Bier und Salat standen noch auf dem kleinen Tischchen. Asche von Zigaretten lag auf dem Boden. Er machte Licht, räumte auf, zog seinen einen Socken an und ging hinaus. Zum Bankautomat. Er mußte wissen, ob sie ihm wirklich Geld überwiesen hatte.
Es war kalt. Eisig kalt. Der Wind bewegte eine lose Latte des Gartenzaunes, welcher seinen kleinen Vorgarten eingrenzte.
Bevor er nach Rio flog, würde er den Zaun erst noch reparieren.
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Die neuen Wörter sind: Ruder, Foto, Stern, Baronin, Erstklässler