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Montagmorgen

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18.01.2017
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Montagmorgen

Ein Mann springt auf die Gleise. Nüchternheit bringt einen Mann ins Taumeln, der Rausch verschafft ihm Klarheit. Ein Mann springt in einem schwachen Moment nüchterner Klarheit rauschhaft taumelnd auf die Gleise.
Blut wirkt bei zu hellem Sonnenschein, wie wir ihn heute Morgen trotz aller Frühe haben, unnatürlich grell. Bei Mondlicht soll es schwarz sein. Die Neonbeleuchtung der U-Bahnstation macht es erträglich, denkt er, während er springt.
Währenddessen betrachtet ein Mädchen auf einer Wiese unweit der zitternden Schienen, die zu beiden Seiten stadtwärts führen, die bienenumschwirrten Kornblumenblüten und verzweifelt bei dem Versuch, erkennen zu vermögen, welche die schönste und vollste aller Blüten sei. Ernüchtert von der Fülle all seiner prächtigen Möglichkeiten greift es wahllos, wenn auch behutsam, um sich vor eventuellen Bienenstichen zu wahren, in das dichte Blumenfeld und bekommt einen festen Stängel, dessen Blüte ihr zartes Blau, ihr morgengetäutes Schimmern von jetzt an zu verlieren beginnt, zu fassen. Und zwischen den groben ungelenken Kinderhänden bricht er mit einem entladenden Schrei, den niemand außer der davonstiebenden Bienen hören kann, schließlich entzwei, bereit seine stumme Prächtigkeit für einen kurzen Moment mit seiner Peinigerin zu teilen.
Ungefähr dreißig weitere Kilometer entfernt führt ein Mann seine Katze an einer Leine vom verschlafenen Handelsweg, über die Neue Straße, an deren Ende er sich noch einmal kurz umdreht, um sich nach den aktuellen Kinovorstellungen zu erkundigen, bis zum Ringerbrunnen, um darauffolgend zielstrebig den Weg nach rechts zum Kohlmarkt einzuschlagen. Er setzt sich auf eine Bank nahe des dortigen Brunnens und nimmt die Katze auf seinen Schoß. Man könnte sie nun ganz laut schnurren hören, denn die „Häuser zu“ geben es hallend zurück. Und manch einer mag dies an diesem ruhigen Frühlingsmorgen schon eine Ruhestörung nennen. Nun stellen Sie doch ihre Katze ruhig, wenn selbst die Tritone nur stumm in ihre Hörner blasen. Aber weder Mann noch Katze werden gehört oder gesehen, denn an jedem Montagmorgen gibt es diese Zeitspanne von fünfzehn bis zwanzig Minuten, in denen man völlig unerkannt seine Katze durch menschenleere Straßen, unter verhängten Fenstern, spazieren führen kann. An der Leine selbstverständlich, allein aus Respekt vor dem frühen Vogel, der einen ohnehin nicht verraten kann, denn sein Mund ist voll mit Wurm; und mit vollem Mund spricht man nicht.
Nun ist der Mann mit seiner Katze freilich nicht der einzige Wissende und es gibt noch weitaus mehr Menschen, die sich den Montagmorgen für ihre stillen Spaziergänge ausgesucht haben. Aber noch nie in der Geschichte des Montags kam es je dazu, dass ein Spaziergänger dem anderen begegnete. Man kann sich also vorstellen, wie erschreckend es für den Mann sein muss, er lässt beinahe seine Katze vom Schoß fallen, so sehr zuckt er zusammen, als er plötzlich eine Frauenstimme ganz nah an seinem linken Ohr Guten Morgen flüstern hört.
Der Bahnführer, der an diesem Morgen seinen Zug in die Bahnstation einfährt, ist glücklicherweise weniger Schreckhaft und beginnt, direkt nachdem Leichenwagen und Polizei abgefahren sind, fröhlich pfeifend seine blutverschmierte Frontscheibe zu putzen und beißt währenddessen ab und zu von seinem Wurstbrot ab. Er ist froh, dass sich die Tragödie so früh am Morgen ereignet, wenn noch kaum einer auf dem Weg zur Arbeit ist, und so kein allzu großes Verkehrschaos entstehen kann, wie es beim letzten Springer der Fall war. Außerdem mussten so keinerlei Kinder den schrecklichen Anblick ertragen, denkt er, während er zurück in die Führerkabine klettert um die Bahn zur nächsten Station zu bewegen.
Das Mädchen schleicht sich, die Kornblume unbeholfen in die strähnigen Haare geflochten, über die alte Holztreppe zurück in sein Kinderzimmer. Es wählt jeden Stufenschritt mit bedacht, denn wie es alte Treppen aus Holz an sich haben, verursacht jede Stufe ihr ganz eigenes, dazu noch vom Treppengehenden stark beeinflusstes, knarrendes Geräusch, sodass der aufmerksame Zuhörer allein an diesem Geräusch erkennen kann, wer gerade die Treppe in welche Richtung begeht. Aber da das Mädchen beim Treppensteigen mehr Geduld zu haben scheint, als beim Blumenpflücken, schafft es seinen Weg unbemerkt zurück in sein weiß betuchtes Bett und wartet dort bis seine Mutter es wie jeden Morgen mit einem zarten Kuss, wie ihn nur eine sanftliebende Mutter ihrem Kind geben kann, auf die Stirn weckt.
Der Mann dreht sich, seine Katze auf dem Kopfsteinpflaster absetzend, um und blickt der Frau mit der Flüsterstimme ungläubig in die dunklen Augen. Sie lächelt ihn an und die langen schwarzen Haare umspielen vom Wind geleitet ihr sonnengebräuntes Gesicht. Er kratzt sich noch immer benommen am Hinterkopf und lächelt zurück, worauf sie sich neben ihn auf die Holzbank setzt. Dort schweigen sie sich einige Minuten an, streicheln abwechselnd die beleinte Katze und betrachten den plätschernden Brunnen.
Um sie herum werden die Menschen langsam wach und da ihnen nun nicht mehr viel Zeit bleibt, küssen sie sich leidenschaftlich, bevor der eine, seine Katze unter dem Arm, in seine dunkle Wohnung zurückkehren, die andere, ihre Schürze anlegend, die Arbeit in ihrer Bäckerei aufnehmen wird.
Auch ich wache schließlich auf und kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich geträumt habe. Ich träume oft, dass ich auf einer hohen Felsklippe stehe, die langsam von tosenden azurblauen Wellen abgetragen wird. Und immer, wenn ich beginne zu fallen, wache ich auf. Ich träume auch oft von dir. Wahrscheinlich bin ich einfach aufgewacht, als ich dieses Mal begann von dir zu träumen.

Ende.​

 

Hallo, Herecomestheocean

Vielen Dank für deine Geschichte hier!

Die Geschichte rüttelte in mir einige Szenen aus dem Film "Die fabelhafte Welt von Amelie": leicht, dennoch ziemlich schnorkelhaft.

Dann wollte ich fragen, warum deine Geschichte "Montagmorgen" heißt?

Vielen Dank!

 

Lieber herecomestheocean,

"Ein Normalsatz in einer deutschen Zeitung ist eine überraschende Merkwürdigkeit; er nimmt eine Viertelseite ein und enthält sämtliche Redeteile dieser Sprache, nicht in einer geregelten Ordnung, sondern durcheinander. Er besteht hauptsächlich aus zusammengesetzten Wörtern, von dem Verfasser eigens für seinen Zweck gebaut und nirgends im Wörterbuch zu finden; oft sechs bis sieben Worte an einem Stücke ohne Nähte und Einschnitte..."

So beschrieb Mark Twain die deutsche Sprache. Dein Text gibt ihm recht, finde ich. Die Sätze sind mir oft zu lang und zu überladen, was das Lesen anstrengend macht. Das Wirre, Traumhafte deiner Geschichte teilt sich schon mit, allerdings deutlich auf Kosten der Lesbarkeit. Gäbe es da einen Kompromiss für dich?

Viele Grüße

Willi

 

Hallo an alle Kommentatoren!
Erstmal vielen Dank, dass ihr euch die Zeit genommen habt, um meinen Gedankenmüll durchzulesen.
Als erstes möchte ich gerne HerrSchusters Frage nach dem Titel beantworten, der für mich mehrere Bedeutungen hat, von denen aber natürlich keine für dich zutreffen muss: Erstens bildet der Montagmorgen hier schlicht den Handlungsrahmen, nämlich den Zeitpunkt des Erwachens. Zweitens stellt er den Zeitpunkt der Verfasserschaft dar. Und drittens soll, durch die bloße Nennung der Zeit, das Feststehen eines bestimmten Ortes für die Rahmenhandlung (das Träumen an sich) überwunden werden, wohingegen die Binnenhandlungen der einzelnen Träume konkret in der Region Hannover/Braunschweig zu verordnen sind. Dies ist der (missglückte?) Versuch, die Kategorien Wirklichkeit und Traum in ihrer Bedeutung, was objektive Wirklichkeit angeht, zu vertauschen.

Liebe Maria,
ich danke dir für deine Kritik und kann sehr gut nachvollziehen, was dich alles an meinem Text stört. Nur sind es für mich genau die Dinge, auf die ich beim Schreiben besonderen Wert gelegt habe. Ich finde es durchaus interessant, dass du und auch Willi, die schwere Lesbarkeit, die unzugängliche Handlung und die Emotionslodigkeit erwähnen, da genau diese Eindrücke erwirkt werden sollten.
Ich nehme mir eure Kritikpunkte zu Herzen und versuche, beim nächsten Mal darauf einzugehen, also die Sätze etwas einfacher, lesbarer zu gestalten und einzelne Handlungstränge, sowie Personenzeichnungen noch mehr zu vertiefen.

Liebe Grüße,
herecomestheocean

 

Ich finde es durchaus interessant, dass du und auch Willi, die schwere Lesbarkeit, die unzugängliche Handlung und die Emotionslodigkeit erwähnen, da genau diese Eindrücke erwirkt werden sollten.

Das ist nur scheinbar "schwer lesbar." In Wahrheit ist das einfach ein Gimmick, ein Trick. Durch eine Veruneindeutigung wird ein Text nicht besser, er bekommt auch keine zweite Ebene oder sonst was. Er bleibt einfach nur an der Oberfläche.

Meiner Meinung nach tut sich damit niemand einen Gefallen.

Gruss, Jimmy

 

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