Was ist neu

Novelle Michails Deal

Seniors
Beitritt
02.01.2011
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Michails Deal

I II

1

Manchmal habe ich das Gefühl, so richtig aufzuwachen, ich kann das nicht anders beschreiben – dann fühle ich mich für zehn, zwanzig Sekunden so, als hätte ich mein ganzes Leben über geschlafen, als hätte ich die ganze Zeit in einem großen, verfickten Tagtraum gelebt.
Als mir Angelika das erste Mal begegnete, hatte ich das Gefühl, aufzuwachen.
Sie stand im Lidl am Kühlregal, mit dem Kleinen auf dem Arm – und gerade, als ich an ihr vorbeilief, sind ihr die kompletten Einkäufe aus der Hand gefallen.
»Podaschditye – warte«, sagte ich, dann zog ich mir die Kopfhörer runter und bückte mich. »Ich mach’ das.«
»Danke«, sagte sie, steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte. Der Kleine fing zu heulen an, sie schaukelte ihn. Ich sammelte Käse und Joghurt vom Boden auf, und als ich wieder aufgestanden war, fragte ich: »Ist das deiner?«, und nickte auf das Kind.
»Nee«, lachte sie, schaukelte den Kleinen und lächelte mich weiter an, »ich pass’ bloß auf den auf.«

So habe ich Angelika kennengelernt – das war eine Woche bevor diese Sache passiert ist: Eine Woche bevor ich nach Hause gekommen bin, meine Mutter schreiend auf dem Fußboden gekniet war und mein Vater sie angefleht, angebrüllt, geohrfeigt hat, dass sie doch endlich damit aufhört; das war eine Woche, bevor ich all das Blut gesehen habe – Blut an der Wand, Blut auf dem Teppichboden, Blut an der Haustüre.
So habe ich Angelika kennengelernt.


2
Mein Vater und ich hängen drei Monate mit der Miete hinterher, und als ich mit Angelika im Bett liege, klingelt der alte Böhmer Sturm: Der Wichser will Geld sehen, jetzt.
Ich lege den Zeigefinger auf meine Lippen, sage zu Angelika: »Warte«, dann höre ich, dass auch mein Vater drüben im Wohnzimmer den Fernseher auf stumm schaltet.
Seitdem ich denken kann, will ich weg von hier. Flüchten. Ich kenne niemanden aus meiner Stadt, der nicht genauso denkt; klar, da gibt es diese kurzen Augenblicke, in denen man sich zurücklehnt und: »Zuhause« und: »Ist doch alles gut« denkt, aber all diese Momente werden früher oder später von einer tiefen, brennenden Sehnsucht überschattet; einer Sehnsucht nach etwas anderem, nach einem Ort, der wahrscheinlich gar nicht existiert.
Zehn Minuten später gibt der alte Böhmer auf. Angelika und ich zünden uns eine Kippe an, wir lachen und dann reden wir weiter, wir träumen von fernen Ländern, in die wir gerne abhauen würden.
»Amerika«, sagt Angelika, und zieht an ihrer Zigarette. Die Glut leuchtet auf, verscheucht kurz die Dunkelheit aus meinem Zimmer, und ich sehe ihre spitze Nase, die glänzende Haut.
»Oder nee«, haucht sie, fuchtelt erst mit der Hand herum, dann lacht sie und fährt sich durch die Haare. »Los Angeles. Dann George Clooney über ’n Weg laufen und mit dem durchbrennen oder so.«
Sie lacht noch mal, dreht sich auf die Seite, schiebt ihre Hand zwischen Kissen und Gesicht und tastet mich mit ihren großen, müden, braunen Augen ab.
»Und du?«, fragt sie.
Ich picke mir die Zigarette aus ihrer Hand, drehe mich auf den Rücken und nehme ein paar Züge. Schließlich zucke ich mit den Schultern.
»Kanada«, sage ich.
Angelika runzelt die Stirn.
»Kanada?«, fragt sie in einem schrillen Ton, »was willst ’n du in Kanada?«
»Weiß auch nicht«, sage ich, und rauche weiter, aber als ich merke, dass der Filter heiß wird, fingere ich den Aschenbecher vom Fenstersims und drücke die Kippe aus. »Ruhe wahrscheinlich.«
»Ha ha, genau«, lacht Angelika, piekst mir in die Seite und stößt ihr Knie unter der Bettdecke gegen mein Schienbein. »Mein großer Maler will einfach mal seine Ruhe vor mir haben oder was?«
»Na endlich hast du’s gecheckt«, sage ich, grinse, und wir lachen beide.
»Ublyudok – Fiesling«, zischt Angelika, dann rutscht sie rüber zu mir und beißt mir in die Schulter.
Wir liegen einige Zeit so da; ich spüre ihren warmen Körper neben mir, rieche diesen Geruch, der nur von ihr ausgeht, wenn wir miteinander geschlafen haben. Angelika streicht mir mit den Fingerspitzen über die Brust.
»Du bist so anders als er«, sagt sie schließlich, »weißt du, mit dir kann ich lachen und so, und Michail ... Michail ist immer so ernst. Redet die ganze Zeit von diesem scheiß Haus und der scheiß Kohle dafür, hat sich das richtig in den Kopf gesetzt. Keine Ahnung, warum, aber der will das total, das scheiß Haus in irgend ’nem scheiß Kaff, mit Garten und Kühen und so um die Ecke. Was weiß ich, was der da will.«
Sie legt sich mit der Backe auf meinen Bauch, ich streiche ihr durch die Haare.
»Kanada«, flüstere ich in die Dunkelheit meines Zimmers. Angelika hebt ihren Kopf und sieht mich mit zugekniffenen Augen an.
»Was?«
»Als wir noch klein waren«, fange ich an, »da hab’ ich meinen Bruder manchmal mit rüber zu Logan genommen. Deutsches Fernsehen und so, der war da immer ganz scharf drauf. Und da gab’s diese eine Doku, da ging’s um diesen einen Typen, der nach Kanada geht, so total in die Natur halt. Und der wohnt dann in so ’ner Holzhütte, paar Wochen, und plötzlich kann er nicht mehr schlafen. Einfach so. Und irgendwann kommt er drauf, dass es ihm einfach zu still ist. Dass er nicht schlafen kann, weil er nachts keine Autos und keine Züge und keine Menschenstimmen mehr hört. Deswegen kann er nicht mehr schlafen.«
Angelika sieht mich an und schüttelt den Kopf.
»Du spinnst«, sagt sie, dann legt sie sich wieder auf meinen Bauch.
Ich atme tief ein. Fast schäme ich mich, das alles gesagt zu haben – das mit meinem Bruder und das mit der Stille.

3
Das Dach vom alten Atrium-Einkaufszentrum ist der einzige Ort, an dem man in der Mittagspause in Ruhe kiffen kann. Logan und ich sitzen auf dem Rücken dieser Betonleiche und reden davon, wie wir als Kinder mit großen Augen vor den Spielzeugläden im Erdgeschoss gestanden haben.
Wir schweigen einen Moment, Logan bröselt was vom Hasch über den Tabak, dann grinst er mich blöd an und sagt: »Betoncity, was?«
Er nickt vom Dach runter, auf das graue Wimmelbild vor uns, auf die Straßen, die viereckigen Wohnklötze, die rauchenden Fabrikschlöte. Ich grinse und nicke zurück; Logan spricht Betoncity so aus, als ob er einen Witz reißen würde, als ob das Spaß wäre, aber ich weiß, wie er es meint. Wir sind hier aufgewachsen, im gleichen Hochhaus, fast Tür an Tür: Logans Kinderzimmer lag genau ein Stockwerk unter meinem Kinderzimmer – und ich konnte es immer hören, wenn sein Vater mal wieder mies drauf war und vorne bei Mehmet’s Späti zu viel getankt hatte – zuerst seine tiefe, kratzige Stimme, dann das komische, dumpfe Klatschen, fast wie der Knall eines Peitschenhiebes oder wie man sich als Kind den Schuss einer Pistole vorstellt. Erst, als Logan mal abends, nach diesem Klatschen, vor meiner Tür gestanden war, und ich seine roten, glühenden Wangen sah, da wurde mir bewusst, was hinter diesem Geräusch steckte. Jahre später hat mir Logan erzählt, dass auch er unsere Wohnung hören konnte: Dass er oft meine Mutter hörte, wenn sie mal wieder ihren Blues schob, wenn sie tagelang im Bett lag und wimmerte, heulte.

Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche.
»Noch zehn Minuten«, sage ich, »meinste, wir schaffen das?«
»Klar«, sagt Logan, lässt die Zunge über den Klebestreifen des Papers fahren und dreht die Tüte zu. »Der wird auf jeden Fall noch weggeballert, Mann.«
Er steckt sich den Joint in den Mund und tastet seine Taschen ab.
»Scheiß auf den verfickten Kapo«, sagt er, und zündet sich die Tüte an, »in ’n paar Wochen sind wir eh hier weg.«
Logan nimmt ein paar tiefe Züge, zieht sich seine Kapuze zurecht und sieht schließlich mich an. Seine blauen, glasigen Augen weilen einige Zeit auf mir, dann hält er mir den Joint hin und fragt: »Wie geht’s deinem Bruder eigentlich?«
Ich blicke wieder runter auf unsere Stadt, atme tief ein und nehme schließlich den Joint.
»Besser«, sage ich, obwohl ich es eigentlich nicht weiß.
Ich habe ihn zu lange nicht gesehen. Das letzte Mal vor einem halben, dreiviertel Jahr, als ich mit der Bahn dorthin gefahren bin, wo er jetzt lebt. Ich habe ihn besucht, weil ich ihm sagen wollte, dass ich ihm nicht böse bin, dass er den Bullen alles erzählt hat – ich habe ihn besucht, weil ich ihm sagen wollte, dass ich ihm nur böse bin, weil er es überhaupt machen wollte.
Gesagt habe ich dann letztendlich nichts von beidem. Wir saßen einfach nur da, im Garten, lange, hörten den Vögeln zu, sahen uns die Bäume, Gräser, Blumen an, die im Wind wackelten, als winkten sie uns heimlich zu.
Das alles ist lange her, aber ich denke noch jeden Tag daran; ich denke auch daran, wie es vorher, wie es früher gewesen ist. Ich denke daran, dass es irgendwie auch meine Schuld gewesen sein könnte, aber dann denke ich, dass es wahrscheinlich niemands Schuld ist, dass höchstens diese Stadt daran schuld ist, dass sie über die Jahre hinweg in ihn eingesickert ist, sich bis in sein Hirn gefressen hat. Und dann hat er eben diese gottverdammte Pistole bei mir liegen sehen.
Ich liebe meinen kleinen Bruder. Ich liebe ihn so sehr, dass ich mich jeden Tag frage, wie es wohl heute wäre, wäre Logan damals nicht vollkommen aufgebracht vor meiner Haustüre gestanden, und hätte er mir nicht mit diesem glasigen, irren Blick die Knarre in die Hand gedrückt, und gesagt: »Die Bullen ficken mich, Mann, die ficken mich, die nehmen grade meine Bude auseinander, und wenn die das Ding da finden, ficken die mich!«
Klar, hab’ ich ihm versprochen, das Teil ein paar Tage bei mir zu lagern, und, klar, hab’ ich mir nichts dabei gedacht, als ich die Knarre einfach in die oberste Schublade meines Nachttischs gelegt habe.

Wir rauchen auf und dann rasen Logan und ich das Treppenhaus hinunter, wir schreien und lachen, spucken auf die Wände, überall stinkt es nach Pisse. Und dort, im Treppenhaus vom alten, leerstehenden Atrium, zwischen Erdgeschoss und Dach, da kann ich das alles für einen Augenblick vergessen; da kommt mir das alles kurz so vor, als ob es nie wirklich passiert ist. Als ob diese ganze Geschichte mit Logan und Angelika, mit der Knarre und meinem Bruder, als ob das alles etwas ist, das mir irgendjemand mal erzählt hat, und von dem ich dann schlecht geträumt habe.

4
Ich bin neunzehn Jahre alt und habe noch fünfundachtzig Arbeitsstunden vor mir. Logan hat länger bekommen – zu der Sache mit der Pistole kamen die zwei Es, die sie bei ihm zuhause gefunden haben. Wir beide sind Ersttäter und ich weiß nicht, wie wir das hinbekommen haben, aber Logans Onkel hat uns da richtig rausgeboxt, keine Bewährung, kein Bau, sondern Jugendstrafe, Arbeitsstunden, mehr geht echt nicht.

Der Kapo ist der größte Wichser, den ich je gesehen habe: blaue Latzhose, Meister-Proper-Glatze und glupschige, in den Schädel gedrückte Augen; den ganzen Tag hat er nichts Besseres zu tun, als ständig von der Werkstatt zu uns rüberzukommen und rumzukeifen, dass wir zu lahm wären. Und das acht Stunden am Tag, ohne Radio, ohne Fenster. Von den Wänden bröckelt der Putz ab, der Boden klebt und riecht nach Ammoniak.
Logan sitzt am Tisch gegenüber von mir und starrt auf seine Hände. Er tunkt eines der schwarzen Gummiteile in den Eimer Seifenwasser, dann zieht er das Ding über die Metallstange. Wir bauen irgendwelche Teile für Solaranlagen, zusammen mit Langzeitarbeitslosen und einem anderen Arbeitsstündler, der mit einem Ziegelstein auf einen Bullen losgegangen ist. Die Arbeitslosen reden nicht viel; sie sind vierzig, fünfzig und verdrücken sich so oft es geht aufs Klo, um zu trinken.

Um kurz vor vier passiert es dann. Meine Arme bewegen sich wie von alleine: Gummiteil, Eimer, Metallstange, Gummiteil, Eimer, Metallstange, aber von acht Stunden Wasser und Seife sind meine Hände rot und verschrumpelt und meine Birne ist weich und matschig. Einer der Männer murrt, Logan kriegt das Gummiteil nicht über die Stange gezogen, er schmeißt alles auf den Tisch, schnaubt, sieht mich an und sagt: »So ’ne Scheiße, Mann, das ist so ’ne Scheiße hier, noch einen Tag, dann ist Freitag, dann machen wir ordentlich einen drauf, Mann, das schwör’ ich dir!«
»Mhm«, mache ich, greife nach dem Gummiteil und will es über die Stange ziehen – da blitzt mir plötzlich dieser verdammte Schmerz bis in die Schulter. Ich springe vom Stuhl, fauche: »Fuck!«, und da sehe ich auch schon die klaffende Wunde in meinem Handteller, Blut tropft auf den Tisch.
»Scheiße«, sagt Logan, und dann hört der gesamte Raum auf zu arbeiten, alle blicken mich an.
»Die Scheißwichser von der Werkstatt!«, fluche ich, »können nicht mal richtig abschleifen oder was!«
Der Mann neben Logan nickt und sagt: »Geh mal schnell rüber zum Kapo, sonst sauste uns noch den ganzen Tisch voll.«
Ich versuche mir das Blut von der Hand zu lecken, aber es ist zu viel. Ich schaue in die Runde, niemand sagt was.

Ich brauche eine Ecke, bis ich die Werkstatt gefunden habe. Teile holen und bringen übernehmen sonst immer die Alten, weil sie dann unbemerkt bei den Klos vorbeischauen können.
Das Arbeitsförderungszentrum ist riesig, ich renne die Treppe hoch. Im ersten Stock sitzen alte, russische Mütterchen an Nähmaschinen, die schicken mich wieder runter, in den Hof, da stehen ein paar Typen in meinem Alter mit Schaufeln in der Hand, die lachen erst, schütteln den Kopf und zischen: »Kartoffel!«, aber als ich auf den Boden spucke und: »Nyet, ya russkay – nein, ich bin Russe« sage, drücken sie mir eine Zigarette zwischen die Lippen und meinen, die Metallwerkstatt sei genau auf der anderen Seite des Gebäudes.

In der Werkstatt ist es laut, das Geräusch von Sägen, die sich in Metall fressen, bohrt sich in mein Trommelfell, überall sprühen Funken, es riecht verbrannt. Vierzehn-, fünfzehnjährige Jungs stehen herum, in Blaumännern. Es dauert keine zehn Sekunden, da steht der Kapo vor mir und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
»Haiaiai«, sagt er, dreht sich zu seinen Schützlingen um und hebt die Arme. »Alle mal aufhören! Stopp! Stopp!«
Als alles still ist, blickt er wieder zu mir.
»Wie ist ’n das passiert?«, fragt er und nickt meine Hand an, ich halte sie vor meinem Brustkorb.
»Geschnitten«, sage ich. Er denkt einen Moment lang nach, dann schnalzt er mit der Zunge und ruft: »Michail!«
Michail – als er um die Ecke biegt, zucke ich zusammen. Kurz springen mir all die Bilder vor die Augen: Michail in der Grundschule, in der ersten Reihe, bei jeder Frage den Finger oben, aber keiner dieser Streber, nein, schon damals ein Bulle, vor dem wir alle Respekt hatten – dann denke ich an Angelika, klar, Angelika, fuck, Angelika.
Michail kommt auf mich zu und mir wird mulmig; zwei Sekunden später schiebt sich ein Lächeln zwischen seine gigantische Kiefer, er hebt die Hand, winkt mir zu, und ich atme durch.
»Scheiße«, sagt er, als er vor mir steht, »die Flasche da kenn’ ich doch.«
Er sieht auf meine Hand, dann in mein Gesicht.
»Würde dir ja die Hand geben, ist aber grade weng scheiße oder?«
Er lacht, ich versuche mitzulachen und sage: »Das kannste sagen, Mann.«
»Ich mach’ das«, sagt Michail zum Kapo, dann nickt er mir zu und wir gehen nach hinten, in die Umkleide.

Als ich auf der Bank hocke und Michail den Erste-Hilfe-Kasten auf dem Boden auspackt, kriege ich dieses Bild nicht aus dem Kopf: Angelika unter mir, ihr heißer Atem, ihr nassgeschwitzter Körper. Michail blickt vom Kasten auf und ich weiß nicht warum, aber für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, dass er direkt in meinen Tagtraum hineinsehen kann: Angelika unter mir, Angelika ...
»Ich pack’ dir mal ’nen Verband rum«, sagt Michail, »aber an deiner Stelle würde ich’s heute noch flicken lassen.«
»Klar«, sage ich.
Plötzlich schluckt Michail; er streckt den Kopf nach links, nach rechts, so, als wolle er sichergehen, dass uns niemand hören kann. Dann schiebt er sein Gesicht nah an meines, zu nah, ich beginne zu schwitzen, drücke mich mit dem Rücken gegen den Spint. Michail schaut mir prüfend in die Augen. Er beginnt zu flüstern, diesmal in einem harten, kantigen Russisch: »Also, sag, wieso bist du hier, Mann?«
Ich beiße mir auf die Zunge.
»Mein Bruder«, fange ich an, aber als ich zum nächsten Wort ansetzen will, blickt Michail schon runter auf meine Hand und schüttelt den Kopf.
»Ja«, flüstert er, »ja. Hab’ davon gehört.«
Er sieht wieder hoch zu mir. »War deine oder wie? Mit der er’s machen wollte?«
Ich nicke.
Michail rümpft die Nase, blickt wieder zur Werkstatt und spitzt dabei die Lippen.
»Also keine Drogen-Sache?«
»Nee.«
»Gut.«
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen.
»Wieso: gut?«
»Na ja«, sagt er, und fährt sich dabei über die Wange, »suche gute Leute. Leute, denen man vertrauen kann, weißt du.«
Er schlägt mir gegen die Schulter, ein Lachen platzt aus ihm heraus. »Russen! Du bist doch einer, oder? Oder bist du schon ’ne kleine Kartoffel geworden?«
»Nie im Leben«, sage ich, und lache auch.
»Na siehst du. Gute Kohle für gute Russen«, sagt er, »wir müssen doch zusammenhalten oder?«
»Michail«, sage ich, und schüttle den Kopf, »der verfickte Richter fickt mich, wenn ich jetzt noch was schiebe.«
»Andrej«, sagt er, und tätschelt mir beschwichtigend auf den Oberschenkel, »ihr könnt doch jetzt ’n bisschen Kohle gebrauchen oder? Oder hast du was Besseres?«
»Nein, aber, Scheiße ...«
»Ja, also. Ist nichts Schweres. Meine Cousins sind wieder da, kommen einmal die Woche. Ich brauche bloß jemanden wie dich, weißt schon, nettes Gesicht, wie Kartoffel, aber innen drin«, sagt Michail, und dann klopft er sich gegen die Brust und grinst dabei, »innen drin guter Russe. Also, was sagst du?«

Ich glaube nicht an das Schicksal. Ich glaube nicht daran, dass alles einem großen Plan gehorcht, dass manche Dinge passieren, weil sie eben passieren müssen, weil dadurch dann dies oder das passieren wird.
Aber wieso zum Teufel diese kleine scharfe Kante an der Metallstange? Wieso dieser eine verdammte Augenblick, in dem ich nicht bei der Sache war? Wieso ausgerechnet Michail – Michail? Angelika hat mich gewarnt, als ich ihr erzählt habe, wohin mich das Gericht schickt. Sie hat mich davor gewarnt, dass Michail wegen der Kurzarbeit bloß noch die Nachtschichten in der Fabrik bekommt, und jetzt tagsüber Kids ausbildet, die sonst keine Lehrstelle finden. Angelika hat mich gewarnt, und ich war unvorsichtig.

5
Ich weiß nie, wie Angelika drauf ist, wenn sie zu mir kommt: Mal taucht sie nachts auf und will nur Tee trinken, schweigen und im Bett liegen, mal steht sie morgens mit einem Sixpack Export vor der Tür, und reißt mir schon im Gang die Hose runter.
»Fester!«, schreit Angelika, und unsere heißen, brennenden, verschwitzten Körper reiben aneinander.
»Ja«, sage ich, »kriegst du«, und dann bohrt mir Angelika ihre Fingernägel in die Arschbacken und beißt mir so fest in die Lippe, dass ich sofort Blut schmecke. Ich sehe, denke, höre nichts mehr, habe Scheuklappen auf, stoße immer wieder in sie hinein, bis zum Anschlag, bis es nicht mehr weiter geht: Ich habe das Gefühl, sie gleich in der Mitte zu zerreißen, sie aufzuschlitzen, umzubringen.
»Ja«, schreit sie, »ja! So! Jetzt würg’ mich!«
»Was?«
»Würg’ mich!«
Ich packe sie, bumse sie, ihr Puls pocht in meinen Händen, ihr Kopf wird rot, ihre Adern schwellen an.
Dann kommt es mir, eine halbe Sekunde später zieht sich auch bei Angelika alles zusammen, und es ist, als ob ich mit einer Rakete durch die Decke schießen würde, durch die Wolken breche, die Sonne sehe.
Wir liegen nebeneinander und schnaufen. Schweiß läuft mir das Gesicht herunter, mein Herz rast, ich bekomme kaum Luft.
»Das war’s«, sagt Angelika, fährt sich durch die Haare, schnauft und nickt. »Das war’s«, sagt sie.
Ich höre Angelika noch eine Weile atmen; dann werden wir still, dann tun wir nichts, als in die bläuliche Dunkelheit meines Zimmers zu starren. Wir schweigen. Sind weit weg. Fühlen uns, als seien wir woanders, als seien wir wer anders.
Ich weiß nicht, was mir Angelika bedeutet. Es gibt Augenblicke, da denke ich, dass ich sie liebe. Da beginnt alles in mir zu rasen, wenn ich mir vorstelle, dass sie noch am selben Tag mit Michail zusammen sein wird; da versteifen sich meine Gedanken: Angelika, Angelika, und da habe ich das Gefühl, dass nach ihr nichts mehr kommen wird, bloß noch Leere, bloß noch ein tiefer, schwarzer Abgrund. Und dann, zwei Minuten später, laufe ich zum Kühlschrank, und plötzlich sind all die komischen Gedanken kilometerweit weg: Dann fühle ich nichts mehr, dann lache ich bloß noch, weil ich mir denke, dass ich doch tatsächlich so eine geile suka ficke.

6
Der einzige, der neben Logan noch von Angelika weiß, ist mein Vater. Er sieht sie, wenn sie kommt, und er sieht sie, wenn sie geht. Da ist etwas an ihr, das ihn abstößt, das ihn wütend macht. Ich merke das an der Art, wie er sich bewegt, wenn er sie gesehen hat, an der Art, wie er ihr Blicke zuwirft.

An der Tür nimmt Angelika meine rechte Hand, streicht über den Verband und sagt: »Ich melde mich, wenn ich wieder kann. Pass auf dich auf, okay?«
Ich schließe die Tür, dann setze ich mich zu meinem Vater auf die Couch. Der Fernseher läuft, irgendein russischer Nachrichtensender, mein Vater ist ganz verrückt nach russischen Nachrichten. Er meint, der Westen lügt, er meint, früher, nach Glasnost, da sei das noch anders gewesen, aber seit dem Elften September würde der Westen durchdrehen, seit da gäbe es diese große Paranoia gegen alles und jeden, auch gegen uns, auch gegen Putin.
Wir sitzen da und nippen an unserem Bier. Die Krim hat sich zur Republik ausgerufen, ein aufgebrachter grauer Mann sagt in die Kamera, er fürchte sich vor den ukrainischen Faschisten. Mein Vater stellt sein Bier ab, da sagt er plötzlich: »Pass auf mit ihr.«
Ich weiß nicht genau, was er meint, frage: »Was?«
»Dein Mädchen«, sagt er, » pass auf mit ihr.«
Ich nehme einen Schluck und sehe rüber zu meinem Vater. Das blaue, weiße, rote Licht des Fernsehers flackert auf seinem Gesicht.
»Ich pass’ schon auf«, sage ich.
»Manche Frauen haben Augen wie Katzen«, sagt er, und als er »Katzen« sagt, schwingt da irgendwas mit, ich weiß nicht was, »Kaati« sagt er, und ich bekomme sofort Gänsehaut.
Mein Vater blickt nicht vom Bildschirm weg, und als wir ein paar Sekunden geschwiegen haben, sagt er schließlich: »Manche Frauen kratzen, obwohl sie kurz davor noch geschnurrt haben.«

In meinem Zimmer setze ich mich aufs Bett und stecke mir eine Kippe an. Draußen hängt der Mond in einem blauschwarzen Himmel, er ist groß und rund, fast unwirklich. Durch die Wand höre ich den Fernseher meines Vaters und auch den unserer Nachbarn, es sind Araber, nette Leute, Frauenstimmen lachen auf, Geschirr klappert, ihre Küche liegt direkt hinter meinem Zimmer.
Ich rauche und dann ziehe ich die Bilder unter meinem Bett hervor. Wenn ich nicht in mein Blackbook kritzle, zeichne ich viel: meistens mit Bleistift oder Kohle, selten mit Acryl oder schwarzer Tinte. Angelika will immer, dass ich sie zeichne – sie nennt mich ihren »großen Maler«, sie sagt, sie hat noch nie gesehen, dass jemand so zeichnen kann wie ich, sie sagt, dass sie heulen könnte, wenn sie sieht, wie ich den Blick aus meinem Zimmer, wie ich Menschen oder Hochhäuser zeichne.
Ich blättere weiter, und dann kommt das Kohlebild von meinem Bruder; ich habe ihn gezeichnet, als er an seinem Schreibtisch gesessen und geschrieben hat. Mein Bruder hatte in den letzten Jahren immer geschrieben. Den ganzen Tag saß er in seinem Zimmer und hat in seine Hefte gekrakelt, und wenn man ihm über die Schulter sehen wollte, wurde er panisch und hat alles zugeklappt. Ich habe mich oft gefragt, was er wohl schreibt, »Schulzeug«, hat er immer gesagt, aber ich wusste, dass das nicht stimmt. Ich hatte keine Ahnung, was die letzten Jahre in ihm vorging. Alex war der einzige, den ich kannte, der ins Gymnasium ging. Er redete nie viel und ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass er jemals irgendjemanden mit nach Hause gebracht hätte. Nachdem die Sache mit der Pistole passiert war, haben wir sein ganzes Zeug gefunden, all die Zettel, Blöcke, Hefte – ich habe mir alles durchgelesen, manches zweimal, dreimal, manches verfolgt mich bis zum heutigen Tag.
Die Araber in der Wohnung nebenan lachen wieder auf, diesmal sind auch Männerstimmen dabei. Ich rauche fertig, dann setze ich mich aufs Fenstersims und blicke runter auf die Straße, rüber zu den anderen Hochhäusern. Ich sehe nur ihre Schatten, so wie ich meinen Bruder langsam in meiner Erinnerung nur noch als Schatten sehe, ein Schatten, der mir fremd, aber doch so vertraut vorkommt. Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals wirklich gekannt habe.

7
Die Wunde an meiner Hand hört nicht auf zu bluten. Als ich aufwache, ist der Verband durchgeweicht, ein dunkler Fleck hat sich ins Spannbetttuch gesogen.

Ich stehe in der Küche und schenke mir Kaffee ein – mit der Rechten, alles zieht, ich verschütte die Hälfte. Als ich das Zeug mit dem Schwamm aufwische, beobachte ich meinen Vater: Aus dem Augenwinkel kann ich ihn sehen, er sitzt im Wohnzimmer, am Keyboard, mit den Kopfhörern auf, die Augen geschlossen – seine Hände tanzen über die Tasten, ganz leichtfüßig und zart, aber mit dem Oberkörper wippt er hin und her, so schwermütig und träge, als würde er torkeln, als hätte ihn all der Kummer und Frust der letzten Monate auf eine komische Art besoffen gemacht.
Mein Vater denkt an Mutter, und er denkt daran, ob es ihr zuhause in Nowosibirsk besser geht – ich kann nicht genau sagen, wieso ich mir da so sicher bin, aber ich spüre es, ich weiß es.

8
Ich sitze im Büro vom Kapo, in der Linken meine Stechkarte, meine Rechte habe ich mit dem Handteller nach oben auf dem Tisch liegen. Die Schnittwunde klafft noch immer, sie brennt und glänzt, wenn ich nicht aufpasse, fängt sie wieder zu bluten an.
»Mhm«, sagt der Kapo, und schiebt sein plattes Gesicht noch ein Stück näher an meine Hand. »Nee, das wird nix.«
»Wie, das wird nix?«
Der Kapo blickt mich an, mitten ins Gesicht.
»Na, was denkste denn, was das heißt?«, sagt er nach ein paar Sekunden.
»Aber ich muss die scheiß Stunden wegkriegen«, sage ich.
Jetzt lässt er sich in seinen Stuhl fallen und faltet die Hände hinter dem Kopf zusammen.
»Kann man nix machen«, sagt er, »so bringste mir gar nix, so wird das nix mit der Arbeit.«
Ich atme tief ein und aus, lasse mich auch in den Stuhl sacken; und das ist der Augenblick, in dem ich beschließe, noch mal rüber zu Michail zu schauen. Ja, meine Hand ist im Arsch und ja, ich brauche Kohle, aber da gibt es noch einen anderen Grund, wieso ich zu Michail in die Werkstatt schaue, wieso ich ihm sage, dass ich dabei bin, dass ich heute Abend vorbeikomme. Ich weiß nicht, ob Angelika der Grund ist. Ich glaube, ich würde das gerne sagen, aber ganz stimmen würde es nicht. Vielleicht bin ich scharf auf den Kick, vielleicht will ich die zweihundert Tacken, um dann mit Logan einen draufzumachen, gutes Gras, gute Es, Shots und Elektro. Vielleicht ist da aber auch etwas in mir, das will, dass Michail mich und Angelika zusammen sieht, etwas, das will, dass heute Abend alles auffliegt. Das ist dumm und selbstmörderisch, klar, aber manchmal bin ich eben so: dumm und selbstmörderisch – manchmal muss ich so sein, um alles zu vergessen, um zu spüren, dass ich noch lebe. Um Kanada zu sehen, wenn ich die Augen schließe.

9
Als mir Angelika die Tür öffnet, erstarrt sie. Da ist etwas an ihrem Blick, das mich anschreien, wegstoßen will, aber dann kommt auch schon Michail von hinten, nickt mir zu und sagt: »Privyet! – Hallo!«
»Privyet, Michail«, sage ich, und ziehe mir die Schuhe aus.
»Angelika kennst du?«, fragt er.
Ich schaue sie an, sie schaut mich an: Für einen Augenblick weiß ich nicht, ob wir uns zu lange ansehen, für einen Augenblick ist da diese Spannung zwischen uns, dieses Vertraute, diese Verbundenheit; es ist schwierig, das wegzubekommen, wenn es erst einmal da ist.
Ich schüttle den Kopf, »nyet – nein, vielleicht früher mal gesehen?«, sage ich.
Angelika zuckt mit den Schultern, schaut an mir vorbei.
»Kann sein«, sagt sie.

Wir sitzen auf der Couch, trinken türkischen Apfeltee und Michail erzählt mir, wie alles ablaufen soll. Aber ich kann ihm kaum folgen; Angelika, Angelika, überall ist Angelika, ihr Geruch hängt in der Wohnung, ab und zu blitzt etwas von ihr aus der Küche zu mir herüber: ihre Nase, ihre Hand, eine Haarsträhne.
»Alles klar?«, fragt Michail. Sein Gesicht verkrampft, er beäugt mich.
»Ja«, sage ich, »klar.«
»Du schwitzt wie ein Schwein«, sagt Michail, dann beugt er sich vor zu mir, die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt.
»Schau mir mal richtig in die Augen, bläd – verdammt«, sagt er. »Ich hasse das, wenn man mir nicht richtig in die Augen schaut.«
Ich sehe ihn an, versuche den Blick zu halten. Alles in mir beginnt zu beben, Angelika, Angelika – Hitze steigt mir in den Kopf, mein Hals schnürt sich zu. Michail sitzt keine Armlänge vor mir, seine blauen, stählernen Augen durchstechen mich, wollen in mich hineinsehen, in meinen Kopf.
»Ich mach’s«, sage ich, und weiche seinem Blick nicht aus, »ich bekomm’ das hin. Bloß ...«
»Was? Was bloß?«
»Na ja ...«
»Sag.«
»Die Deutschen«, sage ich, weil mir in dem Moment einfach nichts Besseres einfällt.
»Was ist mit denen, bläd
Angelika kommt um die Ecke, die Hände auf Bauchnabelhöhe zusammengefaltet.
»Wollt ihr noch ’nen Tee?«, fragt sie.
»Nyet«, stöhnt Michail, »geh mal bitte.«
Er sieht Angelika hinterher, es fällt mir schwer, das nicht auch zu tun.
»Also, was ist jetzt mit den Deutschen, hä?«
»Wollen mich vielleicht doch in den Knasten stecken«, sage ich.
»Was?«
»Ja. Hab’ vorhin ’nen Brief bekommen.«
»’nen Brief?«
»Da – Ja. Vom Richter. Meint, dass ich doch vielleicht in ’n Knast muss.«
»Dachte, das ist vorbei?«
»Wird neu aufgerollt, vielleicht.«
Ich schwitze, mein T-Shirt klebt mir wie Tesafilm auf dem Rücken. Ich frage mich, ob Michail mir diesen Mist abnimmt, oder ob er checkt, weswegen ich wirklich so aufgeregt bin.
Michail schlägt sich die Hände über dem Kopf zusammen, lässt sich nach hinten in die Couch fallen.
»Dyermo - Scheiße«, bellt Michail, »verfickten Nazis.«
Ich nicke, schlucke.
»Lass dich nicht fertigmachen von den verfickten Nazis«, sagt er.
»Da«, sage ich, »scheiß Nazis, Hurensöhne.«
Aus der Küche höre ich, wie Angelika mit Geschirr klappert.
»Wo ist ’n das Klo?«
»Da rechts um die Ecke«, sagt Michail, und als ich aufstehe, blickt er mir hinterher, lacht und schreit: »Mir aber nicht die Bude vollscheißen, klar?«
Ich lache zurück, sage: »Kann nichts versprechen, Mann!«

Ich wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Langsam komme ich wieder zu mir, das Zittern in meinen Beinen wird schwächer, ich gebe mir eine Ohrfeige, atme tief ein und aus, höre Angelika draußen etwas sagen, dann Michail.
Plötzlich sehe ich, wie sich der Türgriff nach unten dreht, wie sich die Tür ins Bad schiebt.
Angelika steht vor mir. Sie steht vor mir und starrt mich an, aus ihren großen, runden, braunen Augen. Amerika. Kanada. Großer Maler.
Wir sagen nichts von alldem. Wir stehen nur da, blicken uns an, Angelika noch mit dem Türgriff in der Hand. Da passiert es – da packe ich sie an der Hüfte, Angelika schlingt ihre Arme um meinen Hals, unsere Lippen treffen sich, verfehlen sich, ich spüre ihren heißen Atem auf meiner Wange, ihre weichen Hände an meinem Nacken. Amerika. Kanada. Kanada, Los Angeles.
»Andrej?«, schreit Michail von drüben.
Wir zucken zusammen, erstarren, lösen uns voneinander. Ein letzter Blick, dann schlurft sie zurück in die Küche. Ich drehe den Wasserhahn auf und zu.
»Ja, ja, bläd, gleich!«, schreie ich zurück.

10
Logan ruft an. Er fragt, was ich mache, er fragt, ob ich Bock hätte, bei ihm zu chillen, »hab’ gutes Zeug«, sagt er, und fast kann ich sein Augenzwinkern durch mein Handy hören.
Ich stehe in einem Wald vor der Stadt. Alles ist dunkel, alles knistert und raschelt, die Baumstämme sehen wie erstarrte, langgezogene Riesen aus, das Mondlicht fällt durch Äste, Blätter.
»Kann grade nicht«, sage ich, »chille bei mir.«
»Ich komm’ vorbei«, sagt Logan.
»Nein«, sage ich, »bin zu müde«, dann brauche ich noch zwei Minuten, um ihn abzuwimmeln.
Erst finde ich die Plastiktüte nicht. Michail hat mir die Koordinaten gegeben, Michail hat gemeint, es liegt in einem Loch unter einer großen, alten Eiche, aber da dachte ich noch nicht daran, dass ich gar keine Ahnung habe, wie eine Eiche überhaupt aussieht, vor allem nicht nachts.
Ich gehe ein paar Schritte, habe das Gefühl, im Kreis zu laufen, immer mit dem Smartphone vor mir, GPS.
Plötzlich ein Rascheln an meinem linken Fuß. Ich leuchte mit dem Handy darauf, sehe den blauen Plastikgriff. Ich muss ein paar Mal kräftig ziehen, dann liegt die Tüte vor mir.

Später treffe ich den Typen auf einem Feldweg neben der Landstraße. Er kommt mit dem Roller, ein zweiter Kerl sitzt hinten drauf, er hat eine schwarze Sporttasche in der Hand. Als die beiden absteigen und sich die Helme ausziehen, springen mir ihre Klamotten in die Augen: rote Nikes, feine Hosen, Poloshirts; der vordere ist ein langer, dünner Deutscher, ich sehe das an seinem Gesicht und an der Art, wie er sich bewegt, wie er sich durch die Haare fährt – der andere ist Türke, Araber, keine Ahnung, Muskeln hat er, dazu noch Flaumbart und diese Bushido-Frisur.
»Warteste auf uns?«, fragt der Deutsche und grinst.
»Ja«, sage ich.
»Ist’s da drin?«, fragt der Bushido-Verschnitt, und nickt auf die blaue Tüte in meiner Hand.
»Ja«, sage ich wieder.
»Dann zeig mal her«, sagt der Deutsche, und fährt sich wieder durch die Haare.
»Erst die Kohle«, sage ich, und blicke auf die schwarze Sporttasche.
»Mann, ey ...« Der Deutsche wirft seinem Kumpel einen Blick zu, lacht auf und schüttelt den Kopf.
»Was biste denn so misstrauisch, ey?«, fragt er mich, und grinst immer noch.
»Erst die Kohle.«
Wir tauschen Blicke aus, dann nickt der Deutsche seinem Kumpel zu, der zischt: »Russen«, wirft mir die Tasche vor die Füße und spuckt auf den Boden.
Einen Augenblick geschieht gar nichts, einen Augenblick steht alles still: Ich sehe sie an, sie sehen mich an, ein Lastwagen fährt vorbei, der Windstoß peitscht mir ins Gesicht.
Dann bücke ich mich – ich bücke mich und lasse die beiden nicht aus den Augen, stelle die Plastiktüte ab und greife nach der Sporttasche – da passiert es plötzlich, da packen mich Hände von hinten, halten mir den Mund zu, ich spüre ein, zwei Schläge in den Magen, dann das kalte Metall an meiner Kehle. Der Deutsche lacht wieder auf, hinter mir Stimmen, dann noch ein Schlag und noch einer, ich liege auf dem Boden, bekomme keine Luft, sehe den Sternenhimmel.
»Ihr Russen seid so dumm«, höre ich den Türken zischen, »ihr seid so dumm, ey – fuck, wieso seid ihr eigentlich so behindert, hä?«
Irgendjemand spuckt mir ins Gesicht, dann wird alles schwarz.

11
Ich sitze in Michails Wohnung, auf dem Sofa, mein Gesicht ist demoliert, ich sehe kaum was: Mein linkes Auge ist zugeschwollen, meine Lippe dick, mein Schädel fühlt sich an, als ob er gleich platzen würde.
»Diese Hurensöhne!« Michail läuft hin und her, schwitzt, knöpft sich das Hemd auf, steckt sich die Kippe zwischen die dünnen Lippen. »Das kriegen die zurück, die verfickten Nazis!«
Und erst, als ich dasitze, in Michails Bude, erst, als Angelika aus der Küche angerannt kommt und mir den Eisbeutel an die Schläfe drückt, da wird mir klar, was gerade eben passiert ist: Ich wurde verarscht. Klar, ich wurde abgezogen und verprügelt, aber ich wurde auch verarscht, von Michail: Seine Cousins verstecken ihm das Zeug im Wald, und er will sich die Hände nicht schmutzig machen, er will kein Risiko eingehen, also braucht er jemanden wie mich, einen Dummen, einen, der ihm sein Zeug erledigt.
Ich atme tief ein.
»Dyermo – Scheiße«, zische ich zu Angelika, als sie mir den Eisbeutel auf die Wange drückt, »nicht so fest!«
Michail schaut zu uns herüber, mit diesem Blick, als ob er für eine Sekunde sehen würde, wie wir bumsen, wie wir von Amerika, von Kanada träumen.
»Du hättest mitkommen sollen!«, schreie ich Michail plötzlich an, »verfickte Scheiße, du hättest mitkommen sollen, Mann!«
Michail kommt zu mir rübergelaufen, schnell, aggressiv, Angelika springt weg, und als Michail vor mir steht, schlägt er mir mit der flachen Hand ins Gesicht, direkt auf die Schwellung. Ich falle vom Sofa, warmes Blut läuft mir das Kinn herunter.
»Halt die Fresse!«, schreit er, »halt bloß deine Fresse! Woher will ich wissen, dass du’s nicht gerippt hast, hä?«
Dann dreht er sich um, zündet sich eine neue Kippe an, läuft durchs Wohnzimmer und bleibt am Fenster stehen.
»Ich lass’ mir was einfallen«, sagt er, ohne mich dabei anzusehen, »geh’ mal heim, und ich lass’ mir was einfallen, Andrej.«

12
Am nächsten Morgen besuche ich meinen Bruder.
Wir trinken schwarzen Kaffee und ich erkenne ihn kaum. Ja, doch, das ist er, mein Bruder, irgendwo hinter diesen dunklen, tiefen, leeren Augen, hinter den eingefallenen Wangen: Er ist dünn geworden, ich sehe jeden einzelnen Fingerknochen, über den sich die graue, fahle Haut spannt.
Wir sitzen im Gemeinschaftsraum. Zu ihm ins Zimmer durften wir nicht, der Zimmergenosse hatte heute Morgen irgendwas, braucht Ruhe, ein psychotischer Schock oder so.
Ich rede fünf Minuten, dann fällt mir nichts mehr ein. Ich erzähle meinem Bruder von Vater, dass er wieder ab und zu Keyboard spielt, ich erzähle ihm von früher, von dem riesigen Staudamm, den wir im Bach aus Teilen vom Schrottplatz gebaut haben, und von dem Alten, der dann gekommen ist und sich darüber aufgeregt hat: Aber wir sind weggerannt, haben uns in einem Gebüsch versteckt, er hat uns nie gekriegt. Kurz lache ich auf, aber als sich bei meinem Bruder nichts regt, lasse ich das.
Auf einmal hebt Alex seine Hände und starrt sie an. Er starrt sie an, als ob er sie zum ersten Mal sehen würde, als ob er erschrecken würde, dass sie da wären, an seinen Armen. Dann blickt er wieder mich an.
»Es ist in mir drin«, sagt er mit krächzender und heiserer Stimme – eine Folge des Schusses.
»Was?«, sage ich, und ziehe die Augenbrauen zusammen. »Was ist in dir drin?«
»Es ist einfach in mir drin«, sagt er. »Hab’ alles versucht. Echt jetzt, Andrej, ich hab’ alles versucht.«
Ich runzle die Stirn, blicke fragend zurück.
»Es ist einfach in mir drin, kann man machen, was man will«, sagt er. »Es ist so fest in mir drin, wie meine Augen oder meine Hände in mir drin sind. Total verwachsen mit mir, ein Teil von mir.«
»Alex, komm ...«
»Nein«, sagt er, schließt die Augen und schüttelt den Kopf, »ist einfach so.«
Dann blickt er wieder auf seine Hände.

13
Als ich nach Hause komme, geht alles sehr schnell. Michail sitzt im Treppenhaus vor meiner Tür, in Jeans und schwarzer Lederjacke, alles verkrampft sich in mir, als ich ihn sehe.
»Du musst mitkommen«, sagt er.
Ich laufe an ihm vorbei, hole den Schlüssel aus meinem Rucksack.
»Mit wohin?«
Ich bleibe vor meiner Haustüre stehen, versuche mir nichts anmerken zu lassen.
»Zu dem Hurensohn«, sagt er, dann steht er von den Treppenstufen auf und sieht mich an. »Du musst mit.«
»Ist jetzt schlecht, Mann«, sage ich, aber Michail packt mich am Kragen, drückt mich gegen die Wand und beißt die Zähne zusammen.
»Pass auf, bläd«, sagt er, »dieser Hurensohn hat uns abgezogen, und jetzt sieht der mal, was passiert, wenn man uns abzieht, klar?«
»Was ist mit deinen Cousins?«, sage ich. »Wieso lässt du die’s nicht machen?«
Michail lässt mich wieder los, fährt sich über die blonden Haarstoppel, läuft den Gang auf und ab.
»Komm schon«, sagt er, »springt auch was bei raus für dich.«

14
Es ist komisch, in dieser Gegend zu sein. Im Sommer zischen hier Rasensprenger über Vorgärten, die Straßen sind rot gepflastert, die Häuser groß, imposant, sauber – alles ist so sauber, nirgends Dreck oder Scherben oder dieser Geruch nach irgendwas; ich weiß nicht welcher, vielleicht der nach Schweiß, vielleicht der nach Angst, vielleicht der nach Blut, Beton, Pisse oder Träumen.
Wir sitzen die halbe Nacht vor dem Haus, im Golf, haben Baseballschläger und Sturmhauben auf unserem Schoß liegen, das Nummernschild mit Erde eingerieben, nur zur Sicherheit. Ständig erwische ich mich dabei, wie ich mir vorstelle, dass ich hier wohne; dass ich hier durch die Straßen laufe, dass ich hier Fußball, Basketball, Hockey spiele, dass ich abends meinen Freunden winke und in eines der Häuser verschwinde. Ich frage mich, wieso der Typ in diesem Haus tickt, ich frage mich, ob er es vielleicht selbst nicht weiß, ob er es vielleicht wegen einem Mädchen macht. Ich frage mich, ob man überhaupt irgendetwas macht, ohne dass es in irgendeiner Verbindung zu einem Mädchen steht.

Ein paar Stunden, nachdem alle Lichter erloschen sind, ziehen wir uns Handschuhe und Sturmhauben über und steigen aus. Ich schmeiße die Tür hinter mir zu, Michail zischt: »Nicht so laut, bläd, nicht so laut!«
Michail meint, er kenne da einen Typen – er meint, er wüsste, wie man am besten reinkommt. Wir springen über die Hecke, laufen durch den Garten, immer gebückt, immer mit dem Blick überall.
Durch das Fenster reinzukommen ist kein Problem. Michail setzt mit dem Schraubenzieher unten rechts am Rahmen an, wackelt, drückt, dann noch mal oben, dann springt es auf.

Drinnen ist es dunkel, still. Wir laufen durch Gänge, die Treppe hoch in den ersten Stock, Michail immer mit dem Baseballschläger voraus, er scheint genau zu wissen, wo wir hin müssen.
Wir finden das Zimmer. An der Tür hängt ein Sido-Poster, wir warten zwei, drei Sekunden, werfen uns gegenseitig Blicke zu, schnaufen durch, nicken uns an, dann drückt Michail die Türklinke nach unten. Als wir ins Zimmer schleichen, versuche ich meinen Atem so still wie möglich zu halten. Mein Puls pocht mir an der Schläfe, mein Herz trommelt; ich erkenne ihn sofort wieder, den blonden Deutschen, ich sehe seinen Kopf, wie er im Bett liegt, wie er schläft, wie er träumt.
Michail lehnt den Baseballschläger vorsichtig ans Bett an, dann packt er den Deutschen: mit der Linken hält er seinen einen Arm fest, die Rechte legt er auf seinen Mund – ein, zwei Sekunden vergehen, dann wacht der Deutsche auf und blickt uns erschrocken an – und als er plötzlich checkt, was hier gerade abgeht, reißt er die Augen auf, will schreien, zappeln, aber ich bin auch schon auf der anderen Seite des Bettes und halte seine Beine an den Knöcheln fest.
»Halt die Fresse!«, zischt Michail, und schiebt sein Gesicht ein Stück an das des Deutschen. »Sei still, du Pussy! Halt’s Maul oder ich bring dich um! Hast du das gecheckt? Ich hab’ ’ne Knarre an deinem Schädel, du Pussy! Halt die Fresse jetzt!«
Der Deutsche wird ruhiger, versucht sich nicht mehr zu befreien, starrt Michail bloß noch mit großen, aufgerissenen Augen an.
»Du weißt, wieso ich hier bin, du Pussy? Wo ist meine Kohle? Hä? Wo?«
Der Deutsche will etwas sagen, da flüstert Michail: »Ich hab’ ’ne Knarre an deinem Schädel, kapiesch? Ich werd’ jetzt meine Hand von deinem Mund nehmen und du wirst mir schön brav sagen, wo meine Kohle ist, klar, und wenn du denkst, du kannst hier gleich rumschreien, dann baller ich dir den Schädel weg, klar?«
Jetzt fängt der Deutsche plötzlich an wie irre zu nicken, und als Michail die Hand von seinem Mund nimmt, flüstert der Deutsche irgendwas, ich verstehe es nicht.
»Was?«, zischt Michail. »Sag das noch mal, bläd
»Dein Typ«, höre ich den Deutschen plötzlich flüstern, »ich hab’ deine Kohle nich’ mehr, ich hab’ sie deinem Typ gegeben, die Kohle, so wie wir’s ausgemacht haben, Mann!«
Sofort beginnt mein Herz zu rasen. Ich höre, wie Michail das Schnaufen anfängt – er starrt erst runter auf den Deutschen, tauscht ein paar Sekunden Blicke mit ihm aus – dann schaut er durch die Dunkelheit des Zimmers rüber zu mir. Ich schüttle den Kopf, will sagen: Nein, nein, das stimmt nicht, Mann!
»Sicher?«, knurrt Michail schließlich den Deutschen an, noch während er mich ansieht.
»Ja!«, zischt der Deutsche. »Ja! Ich hab’s ihm gegeben, die Kohle! Bitte!«
»Bullshit!«, fahre ich Michail plötzlich an, »das ist Bullshit! Der will dich abziehen, der Hurensohn!«
»Nein!«, wimmert der Deutsche, »echt nicht!«
Michail starrt mich noch immer an. »Wo-ist-mein-Geld?«, knurrt er, und betont dabei jede einzelne Silbe – den Blick noch auf mich gerichtet, die Worte aber an den Deutschen.
Wieder faselt der Deutsche irgendwas, aber ich kann ihn nicht verstehen – alles um mich herum verschwimmt zu etwas Unwirklichem, meine Beine werden weich; Michail starrt mich noch immer durch die Dunkelheit hinweg an, mit diesem Blick, als würde er alles wissen, als würde er mich und Angelika gerade ficken sehen – das bilde ich mir zumindest ein.
Da greift Michail den Baseballschläger, der noch an der Bettkante lehnt; und ich halte den Deutschen ja noch an den Füßen fest, damit er nicht mit den Beinen rumzappeln kann; und Michail blickt noch immer mich an, mit diesem Blick, als er nach dem Baseballschläger greift – und dann holt er aus, Michail: Der silberne Überzug des Baseballschlägers glänzt für einen Augenblick im Zimmer auf, von der Straße her bricht Licht rein – ein kurzes Zischen, Holz durchschneidet die Luft, dann dieser hölzerne, dumpfe Schlag, bong!, und sofort brechen die Schreie aus dem Deutschen heraus: Sie sind so laut, ich muss mein ganzes Gewicht auf seine Füße stemmen, damit ich ihn halten kann, mein Puls ist auf dreitausend – Michail holt noch mal aus, dann wieder volles Rohr auf das Schienbein des Deutschen – und diesmal ist da nicht bloß dieses Bong!, diesmal knackst da irgendetwas, diesmal spüre ich, wie der Fuß des Deutschen plötzlich wegsackt, ganz lasch wird – und immer noch diese Schreie, diese furchtbaren Schreie, sie sind so laut, ich ertrage es nicht; und dann dreht sich Michail um, zum Gesicht des Deutschen – und dann holt er ein drittes Mal aus, mit dem Baseballschläger; und der Deutsche schreit und schreit, und er fuchtelt mit den Händen herum, und Michail hat den Baseballschläger noch über sich in der Luft stehen – und dann schlägt er zu, ein drittes Mal, mitten auf den Kopf des Deutschen, bong!; und plötzlich wird alles ganz still, plötzlich hört der Deutsche zu schreien und zu zappeln auf. Ein paar Sekunden vergehen, in denen alles wie eingefroren scheint. Michail atmet ein und aus. Ich zittere am ganzen Körper, mir ist kotzübel, ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten.
»Das war’s«, sagt Michail, schaut noch immer auf den Deutschen und nickt dabei. »Das war’s jetzt.«

Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich nach Hause komme, wie wir es aus dem Zimmer und dem Garten des Deutschen geschafft haben, alles ist so weit weg, so grau und schwarz und weich wie Watte. Ich komme erst wieder zu mir, als ich daheim zur Tür reinkomme, als ich in meinem Zimmer stehe und rauche und rauche, noch mit der Sturmhaube in der Hand.

15
Mein Bruder hat sich wegen einem Mädchen in den Mund geschossen. Ich weiß nicht, wieso ich jetzt daran denken muss, aber irgendwie hängt das alles miteinander zusammen, irgendwie existiert das eine nicht ohne das andere: Michail, der mit dem Baseballschläger ausholt, mein Schwanz, der in Angelika reinhämmert, mein Bruder, der sich in den Mund schießt.
Ich sitze auf meinem Bett, zittere, schwitze, alles rast in mir, jeder Gedanke, jedes Gefühl. Ich wippe mit dem Kopf hin und her, rauche einen Topf: Weißer, süßer Rauch, es wird nicht besser.
Ich habe keine Sekunde geschlafen gestern Nacht, draußen geht die Sonne auf: blauer Himmel, fast keine Wolken, ich laufe im Kreis.
Mein Bruder hat sich wegen einem Mädchen in den Mund geschossen. Sie ging in seine Klasse, zwei Jahre lang, und er war unglaublich verknallt, das erste Mal. Wusste aber keiner, er hat das niemandem gesagt, hat das bloß immer aufgeschrieben, Tag für Tag, hat lauter kleine Geschichten über sie geschrieben, in denen sie sich kennenlernen, in denen sie sich verlieben, küssen, und dann zusammen abhauen, irgendwohin, mal auf ein Schiff, das zu einer Stadt in den Wolken fliegt, mal nach Südamerika, in den Dschungel.
Mein Bruder hat sich wegen einem Mädchen in den Mund geschossen – einem Mädchen, mit dem er anscheinend nie geredet hat, die er immer nur von der letzten Reihe aus beobachtet hat; mein Bruder hat so unglaublich viel über sie geschrieben, und sie hatte keinen Schimmer. Für sie war er bloß ein blasser, komischer Typ mit Brille und Akzent, der jeden Tag aus irgendeinem Hochhaus mit dem Bus angefahren kam. Und sie? Was war sie für ihn? Jeder hat etwas, an das er sich klammert; jeder hat diesen einen Wunsch, diese eine Vorstellung, die er Tag für Tag mit sich herumträgt – ich weiß nicht, ob sie nicht schon von Geburt an in uns lebt, unsere eine Vorstellung, oder ob sie erst mit der Zeit in uns heranwächst, uns besessen macht: so besessen, dass man die Leere nicht erträgt, die sie hinterlässt, wenn man begreift, dass sie irreal ist, die Vorstellung, dass man Seifenblasen hinterherjagt.
Ich kiffe und kiffe, ich kriege gar nicht genug.
Ich bin so müde, so müde.

16
Ich bin eingeschlafen. Wann genau, weiß ich nicht. Aber als ich wieder aufwache, höre ich plötzlich überall Polizeiautos, Sirenen. Ich springe vom Bett und schaue aus dem Fenster: Es ist schon fast Abend, meine Beine zittern, eine ganze Kolonne an Bullenautos rast an meinem Hochhaus vorbei. Auf einmal klopft es an meiner Tür, und dann steht auch schon mein Vater vor mir.
»Da ist irgendwas passiert«, sagt er, »hörst du’s draußen?«
Ich nicke.
»Da wurde vorhin geschossen, bei uns im Viertel, sagen sie im Fernsehen«, sagt er aufgeregt.
»Ich weiß nicht«, sage ich, »ich weiß nicht« – aber tief in mir drin spüre ich etwas: Tief in mir drin weiß ich, dass gerade irgendetwas aus dem Ruder gelaufen ist, und dass das alles auch mit mir zu tun hat.

Zwei Minuten später habe ich mir Pulli und Schuhe übergezogen, und renne das Treppenhaus hinunter, raus auf die Straße, in Richtung Logan. Ich habe furchtbaren Schiss, dass die Bullen Michail geschnappt haben – und dass er auspackt, und dass sie mich als nächstes holen werden.
Oder lebt Michail gar nicht mehr? Haben sie ihn bei der Festnahme erschossen? Oder haben seine Cousins etwas damit zu tun? Sind sie ausgerastet, weil er ihre Kohle verloren hat?
Je mehr ich darüber nachdenke, desto schneller laufe ich. Ich habe die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, ich blicke ständig nach links, nach rechts, hinter mich: Verfolgt mich jemand? Die Bullen? Michails Cousins?
Als ich gerade über die Kreuzung vor Logans Hochhaus renne, rast mir ein Auto vor die Füße. Quietschende Bremsen, dann wird die Tür aufgeschmissen – das gibt es nicht: Michail! Er ist kreidebleich, hat die Augen weit aufgerissen und schreit: »Rein!«
»Was?«, sage ich.
»Schnell! Steig ein, Mann!«
»Wieso?«
»Steig jetzt ein, du Idiot!«, brüllt Michail, den Blick im Rückspiegel, ein Mercedes steht hinter ihm auf der Straße und hupt.

17
Wir rasen erst durchs Viertel, dann ein kurzes Stück über die Autobahn, und schließlich kommen wir in das kleine Waldstück, in dem ich vorgestern Nacht das Zeug geholt habe. Michail dreht total hohl – die ganze Fahrt über prügelt er aufs Lenkrad ein und schreit dabei wie irre; ich sitze auf dem Rücksitz, sage kein Wort, Panik macht sich in mir breit. Was ist hier los?
Wir fahren immer tiefer in den Wald hinein, alles holpert, ich muss mich am Türgriff festhalten. Irgendwann hält Michail dann an, stellt den Motor ab, steigt aus und reißt die Hintertüre auf.
»Raus«, sagt er straff, ohne mich dabei anzusehen. Ich merke sofort, dass hier irgendwas nicht stimmt.
»Was soll der Scheiß, Mann?«, sage ich – da fällt mir plötzlich die glänzende Knarre auf, die Michail in der Hand hält – da fallen mir plötzlich die dunkelroten Blutspritzer auf, die Michail auf Hose und Schuhen hat.
Ich will schlucken, habe aber keine Spucke im Mund; mein Herz rast, mir ist schwindelig, schlecht.
»Michail? Fuck, was ist hier los, Mann?«
Michail sieht mich noch immer nicht an, steht bloß vor mir und blickt an mir vorbei.
»Raus«, befiehlt er noch mal. Ich steige aus, zittere am ganzen Körper. Plötzlich schubst mich Michail weg von sich, ich stolpere ein paar Meter zurück, falle rücklings auf den Boden. Michail reißt die Augen auf, hält mir die Knarre ins Gesicht und blickt mich wutentbrannt an.
»Du Idiot!«, brüllt er. »Du Bastard! Du Hurensohn, du Missgeburt!«
»I-Ich weiß n-nicht was du willst, Michail, ich –«
»Tu nicht so!«
Einen Augenblick ist alles still: Ich sitze da, zittere, das nasse Moos an meinen Händen, mein Gesicht wird taub; ich sehe Michail vor mir, sehe in den Lauf seiner Knarre.
»Denkst du, ich bin bescheuert oder was?«, brüllt Michail auf Russisch. »Denkst du, ich checke nicht, was hier abgeht?«
»I-Ich –«
»Weißt du, was ich gestern Nacht noch gemacht hab’?«
Mein Hals schnürt sich zu.
»Ich hab’ mal umhören lassen, im Gericht, wie’s mit deinem Prozess aussieht! Wann der ist! Weißt du noch? Das hast du gesagt, dass dein Prozess wieder aufgerollt wird!«
»M-Michail, ich –«
Plötzlich verändert sich Michails Gesichtsausdruck – plötzlich verschwindet dieses Harte, Toughe, plötzlich wird alles ganz weich an ihm, plötzlich werden seine Augen glasig, Tränen sammeln sich in ihnen.
»Du bumst sie! Du bumst sie, du Missgeburt!«, schreit er. »Ich hab’s gesehen, wie ihr euch anschaut! Wie ihr euch berührt! Du hast mein Geld und willst mit ihr abhauen, du Missgeburt! Als der’s mir gesagt hat, dass es keinen Prozess gibt, da hab’ ich’s gleich gewusst! Dass du mit ihr abhauen willst, du Hurensohn!«
Ich sehe wieder auf das Blut an Michails Klamotten. Alles in mir fällt zusammen – Angelika, Angelika! Das – das kann nicht sein!
»Du Hurensohn!«, schreie ich, »du Psycho! Wo ist Angelika? Was hast du mit ihr gemacht, du Fotze!«
Aber eigentlich weiß ich, was passiert ist; ich sehe Michails irre, glasige Augen, ich sehe die Knarre, die er zitternd auf mich hält und ich sehe das viele Blut, das an seiner Kleidung klebt.
»Sie hat es mir gesagt!«, schreit Michail. »Du Bastard! Du Hundesohn! Sie hat es mir gesagt! Alles!«
Da kribbeln plötzlich meine Fäuste – da weiß ich auf einmal, was ich tun muss: Denn wenn ich jetzt nicht handle, wenn ich Michail jetzt nicht die Knarre aus der Hand schlage ...
Ich blicke direkt in den Lauf seiner Pistole. Ich denke an Angelika, ich denke an ihren Geruch; ich denke an meinen Bruder und an meinen Vater, und daran, wie alles gewesen ist, früher, und wie ich mit meinem Bruder diesen Staudamm im Bach gebaut habe und dieser Alte dann gekommen ist, aber wir haben uns im Gebüsch versteckt; und Angelika, Angelika, ich bin ihr großer Maler, meine Angelika, und als sie mir das erzählt hat, das mit Michail, dass er dieses Haus kaufen will, irgendwo in der Pampa, neben Kühen, auf dem Land, und dass sie gar nicht weiß, was er da will; und meine Angelika, Angelika, nein, nein, nein, das kann nicht sein, das kann alles nicht sein, dass ich –
Ein Schuss, es schleudert mich nach hinten, auf den Rücken, auf den Waldboden, in meiner Brust ein gigantisches Ziehen, wie der Stich einer riesigen Hornisse, ich kriege kaum Luft –
Michail heult Rotz und Wasser, und ich hebe die Hand, ich will etwas sagen, aber Michail dreht den Kopf nach rechts, schaut weg von mir, und jetzt hält er mir wieder den Lauf ins Ge-

 

Hallo zigga,

da ist dir wieder einmal ein starkes Stück Geschichte aus diesem speziellen Milieu der Loser mit Migrationshintergrund gelungen.

Guter Plot und sehr viel Spannung drin und was mir obendrein noch sehr gut gefallen hat, war die gesamte stimmige Atmosphäre. Die Typen passen, ihre Sprache passt, was sie machen passt und wie sie handeln und entscheiden passt.

Mit dem Ende bin ich eigentlich nicht so glücklich, aber das liegt daran, dass im Moment meine Krämerseele sich nach was Aufgeräumten sehnt. :D
Aber es ist schon ok so, der Bogen ist hier zu Ende und alles andere wäre nur für die erzählt, die ständig fragen: "Und dann? Und dann?" :D

Was mir auch imponiert, ist deine souveräne Art, eine Menge Personen in die Handlungen einzubauen, ohne dass ich das Gefühl habe, sie stünden da nur als Staffage rum oder sie hätten nix zu tun und füllen nur den Platz. Sie haben alle eine wichtige Aufgabe, die Geschichte voran zu bringen und trotz ihrer hohen Anzahl sind sie von dir so angelegt, dass man den Überblick nicht verliert. Du besitzt dafür ein sehr gutes Händchen.

Ein wenig blass erscheint mir allerdings Angelika. So richtig doll kann ich nicht nachvollziehen, weshalb dein Protagonist an ihrer Nadel hängt. Als du beschreibst, wie sie sich zusammen verhalten und wohl fühlen, da ist mir klar, dass sie für ihn etwas Besonderes ist. Ich meine aber die erste Begegnung.

Ich bin ja kein Mann (pardon für diese Plattitüde), ich habe daher vermutlich recht verdrehte Vorstellungen davon, was einen Mann, wenn er eine Frau zum ersten Mal sieht, an ihr anziehend finden könnte. Ich denke, dass dies vermutlich recht vielschichtig ist, vielleicht aber auch nicht.
Was also fixt ihn an bei der ersten Begegnung? Vielleicht sogar, dass sie das Kind auf dem Arm hält? Ihre Unbeholfenheit? Du siehst, ich stochere da nur rum. Mir fehlt da noch ein bisschen Text an dieser Stelle.

Habe diese Geschichte echt gern gelesen. Ist so ein typischer Zigga-Text. :)
Also ein Markenzeichen für gute Ware.


Textarbeit ist aber trotzdem angefallen:

Als ich Angelika das erste Mal gesehen habe, hatte ich das Gefühl, aufzuwachen.
Dieser gesamte 1. Absatz wirkt leider ein wenig so, als würdest du dich hineinschleppen müssen.
Dieser Satz ist stellvertretend dafür.

Wie wäre es anstelle: "So ging es mir, als ich Angelika begegnete."


als ich wieder aufgestanden war und ihr Käse und Joghurt in die Hand gedrückt hatte,
Ist zwar Erbsenzählerei, aber er ist nicht aufgestanden, er beugt sich wieder hoch.

So habe ich Angelika kennengelernt.

Bitte streichen, du schreibt ja nicht für Alzheimer-Leser. ;)

»Ublyudok – Fiesling«,

Das und die folgenden Doppelungen russisch-deutsch wirken fast wie Untertitel bei einem Film. Das ist nicht so glücklich.
Ich würde fast alle Übersetzungen streichen. Der Leser erkennt hier allein schon an der Reaktion Angelikas, dass sie etwas Provozierendes sagt. Man muss nicht exakt wissen, was es genau heißt. Es geht hier ja um die Stimmung zwischen den beiden und die erlebt man auch ohne Wörterbuch.
Sei mutig und vertrau auf den Klang.

Ich habe mal einen winzigen Text hier veröffentlicht (http://www.wortkrieger.de/showthread.php?54405-Hundeleben), in welchem ich ein paar russisches Brocken ohne Übersetzung verwende und es hat keiner der Leser moniert, dass es nicht auf Deutsch dort stand.

Sie legt sich mit der Backe auf meinen Bauch
Ich fände Wange schöner und treffender.

Hier noch ein dickes Lob dazwischen:

Kapitel 3 ist sehr stark geworden. Respekt!

die zwei Es, die

Auch wenn ich nicht meine, dass du es im Text erklären musst, aber ich weiß nicht was Es ist.

sondern Jugendstrafe, Arbeitsstunden, mehr geht echt nicht.
Hier würde ich direkter bezeichnen und sagen : weniger geht echt nicht.

»Kartoffel!«, aber als ich auf den Boden spucke und: »Nyet, ya russkay

Den Begriff Kartoffel habe ich an dieser Stelle null verstanden. Da gäbe es jetzt viel zu viele Deutungsmöglichkeiten, so dass ich hier schwimme. Hier müsstest du geschickt den Begriff in erklärter Form sozusagen einflechten. Später ist es dann aus dem Zusammenhang heraus klar. Während z.B. Nyet, ya russkay absolut auch ohne Übersetzung klar ist.


An dieser Stelle irgendwo berichtest du davon, dass dein Protagonist Michail von früher aus der Schule kennt. Ich finde das viel zu gewollt und viel zu zufällig. Du benötigst das auch nicht. Du hast ja Angelika als diejenige, die Michail dem Protagonisten beschrieben hat. Ich fände es klarer in dem Frontenaufbau zwischen den beiden, wenn sie sich eben nur über Angelika kennen. Zumal du ja im Verlaufe der Geschichte keine weitere Verbindung zwischen den beiden herstellst, die aus der damaligen Schulzeit rührt.

ist aber grade weng scheiße oder?«
wenig

»Privyet! – Hallo! «

»nyet – nein, vielleicht
»Dyermo - Scheiße«,

Hier würde ich überall die Übersetzung weglassen.

Warteste auf uns?«, fragt der Deutsche und
Wartest.

wieso der Typ in diesem Haus tickt
wie so

Ich frage mich, ob man überhaupt irgendetwas macht, ohne dass es in irgendeiner Verbindung zu einem Mädchen steht.
Schöner Kernsatz des Lebens.

plötzlich hört der Deutsche zu Schreien und zu Zappeln auf.
zu schreien und zu zappeln


Kapitel 14 ist hochspannend und hier nimmt die Geschichte atemberaubende Fahrt auf. Sehr gelungen!


»Steig jetzt ein, du Idiot!«,
Was macht ein Russe, der auf Deutsch nicht weiterkommt? Er spricht russisch. Hier würde ich also das Russische: "Steig ein, du Idiot" setzen. Und natürlich ohne Übersetzung, weil man ja vorher schon gelesen hat, was genau er will.


Der Titel gefällt mir gut, er passt.


Lieben Gruß

lakita

 

Hallo zigga,
ein eindrucksvoller Text, eine harte Milieustudie, die kein Blatt vor den Mund nimmt, sprachlich, wie ich finde, souverän gestaltet. In der gesamten Anlage ist das genau balanciert und beherrscht in den vielen Bezügen, die sich am Anfang als lose Fäden darstellen und dann enger zusammenziehen auf eine unforcierte Art. Ja, man nimmt die Verstrickung und Verknüpfung der Figuren an, weil die Hinführung auch im groben Text subtil und elegant erfolgt.
Der Text braucht von der Lesezeit her wohl so 40 Minuten und geht gleich mit sehr viel Blut zur Sache. Mir persönlich wird ab Minute 20 oder 25 vielleicht eine Menge zu viel an Blut vergossen, zu oft ein roher Ton bedient, der für meine Begriffe sich etwas abstumpft. Da wird er verprügelt, dann prügelt ihn Michail nochmal auf die geschwollene Stelle. Am nächsten Abend geht er mit ihm prügeln. Vorher besucht er verprügelt seinen Bruder. Eine solide Grundkondition gehört da schon her. Aber gut, aus dem warmen Stübchen heraus kann man sich viele Dinge nicht vorstellen, die im Adrenalinfeuer möglich sind. Dennoch, die Stalinorgel an Gewalt, die immer gleich ins Extreme geht, die ist schon bemerkenswert, aber eben, für mich dann ein wenig überdreht. Da reicht nicht der normale Sex im Flur, sie muss gewürgt werden. Der Bruder ritzt nicht, weil er heimlich verliebt ist, er schießt sich gleich in den Mund. Wenn er am Morgen schon den Bruder besucht, hat aber am Tag vorher geschwollene Augen, dass er kaum etwas sieht ... Gut. wie gesagt, warmes Stübchen. In diesem Genre nimmt man einiges hin. Auch wohl, dass während dem lautstarken Verkehr im Flur die Nachbarn an den Papierwänden, die zu Beginn so eindringlich beschrieben werden, hängen und interessiert der akustischen Kulisse folgen.
Ich habe den Text ausgesprochen spannend und sprachlich immer auf der Höhe gefunden. In der Lesezeit ist für mich persönlich die Brutalitätsdichte dann doch recht hoch, unabhängig von einer persönlichen Präferenz, sondern einfach, weil es sich für mich dann als Effekt abschleift.
Aber sehr gerne gelesen.
Herzlich
rieger

 

Hallo @zigga,

Deine Geschichte habe ich verschlungen. Gelesen, gelesen, gelesen und nicht mitbekommen, wie die Zeit verging. Ich war gefesselt von der Story und wollte wissen wie sie endet.

Die Szenen empfand ich als gut beschrieben und mit den notwendigen Details ausgestattet, um sich die Figuren und ihr Handeln bildhaft vorstellen zu können. Die Personen, sind ja nicht gerade wenig, gut charakterisiert, so dass ich nie verwirrt war und immer wusste, von wem gerade gesprochen wurde.

Zum Prot: Mir hat gefallen, wie er die Geschichte erzählt. Sein Denken, Fühlen Handeln. Ich habe ihn durchwegs als glaubwürdig wahrgenommen – sympathisch also.
Angelika: sie bleibt für mich ein wenig im Hintergrund. Ganz klar ist mir auch nicht, wie/warum die beiden zusammenkommen. Er trifft sie im Lidl, offenbar zum ersten Mal, und ich denke mir schon, dass da eine Romanze draus wird. Doch mir fehlt die Entwicklung dazu. Auch die Bedeutung des Kindes ist mir nicht klar. Ich habe im Verlauf der Geschichte immer darauf gewartet, dass es auftaucht. Besonders in der Wohnung von Michail dachte ich, gleich kommt sie mit dem Kind auf dem Arm ins Zimmer, weil es eben ihr Kind ist und sie es Andrej nur nicht sagen wollte. Doch es kommt hierzu nicht mehr, was ich verwirrend empfand und jetzt denke ich, ich hab da etwas überlesen, denn du wirst das Kind nicht grundlos erwähnt haben.
Michail: Komisch, den mochte ich sogar. Obwohl er ein fieser Typ ist, hat er Sympathiepunkte bei mir. Schon, als Angelika von dessen Träumen sprach. Das Haus, Garten Kühe. Ein gemeinsames Leben mit ihr, eine Zukunft. Das fand ich schön. Dass er den Nebenbuhler später töten will, nun ja damit habe ich nicht nur gerechnet, das habe ich erwartet.
Unnötig, weil nicht von Bedeutung finde ich, dass M und A zusammen zur Schule gingen. Das habe ich zwar zur Kenntnis genommen, hätte ich aber nicht gebraucht. Ist doch egal, woher die beiden sich kannten. Im Gegenteil, wenn du das so explizit erwähnst, habe ich fast darauf gewartet, dass da noch etwas kommt von früher. Ein Geheimnis, ein gemeinsames Erlebnis. Hier, so denke ich, hast du das für die Charakterbeschreibung von M gebraucht, die ich jetzt aber nicht noch zusätzlich benötigt hätte.
Vater und Bruder: Mir hat das ausnehmend gut gefallen, dass du nicht nur die hoffnungslose Seite der Familie zeigst. Jeder von ihnen hat ein Talent. Vater musiziert, Bruder schreibt, Prota zeichnet. Es zeigt, dass in jedem auch eine kreative Seite steckt und mich macht das dann besonders traurig wenn bei denen im Leben was schief läuft, sie keine Chance auf Glück haben oder ihre Chancen nicht erkennen oder nutzen können/wollen. Ja, das hat mich berührt.
Der Bruder scheint mir der Schwächste zu sein. Über ihn wollte ich noch etwas mehr wissen. Gerade was die Waffe betrifft, die später der Prot an sich genommen hat. Man könnte das auch so stehen lassen, denken, die kennen sich aus, in gewissen Kreisen. Wer an Drogen kommt, kommt auch an Waffen. Doch den Typen wäre ich auch noch länger gefolgt um das, was ich mir denken oder zusammenreimen kann, auch noch zu lesen. Der Text hat das Zeug, den Leser auf noch längerer Strecke zu halten, finde ich.
Logan: nicht wirklich greifbar für mich, ist aber trotzdem konsequent in der Beschreibung geblieben. Eine Figur anhand der man den Prot zeigen kann. Mittel zum Zweck quasi und nicht weg denkbar.

Super fand ich auch, den immer wiederkehrenden Gedanken des Prot an Kanada, Amerika, Los Angeles, das "mein großer Maler" oder Staudamm-bauen mit dem Bruder .... Das sind die roten Fäden, die die Geschichte am Ende für mich glaubhaft, gelungen und als absolutes Erlebnis machen. Traurig dabei ist nur, dass man weiß, es wird nie zu der Reise kommen, sie ein Traum bleiben wird.

Toll fand ich auch die Art, wie du erklärt hast, was mit Andrejs Bruder passiert ist. In der Nacht, nachdem sie den Deutschen zusammen geschlagen haben. Andrej auf seinem Bett sitzt, schwitzt, zittert und daran denkt, weswegen sich sein Bruder in den Mund geschossen hat. Die dreimalige Wiederholung: Mein Bruder hat sich wegen einem Mädchen in den Mund geschossen. Btw: eines Mädchens? Das fand ich von Andrej schon sehr intensiv erlebt. Ich hatte auch sofort Mitleid mit dem unglücklich verliebten Bruder, der seine Gefühle nur aufgeschrieben aber nie ausgesprochen hat. Und wie Andrej seine Gedanken dann weiterspinnt und auf den einen Wunsch die eine Vorstellung kommt, die ein jeder mit sich herumträgt, der wir wie besessen hinterher jagen. Das sind schon sehr tiefgehende Gedanken des jungen Mannes. Ob's am kiffen liegt? :-)

Deinen Text, zigga habe ich auf dem Rechner gespeichert. An ihm möchte ich lernen, wie man es richtig macht. Nachdem Isegrims unter meinen Beitrag zur Challenge schrieb, dass Atmosphäre fehle und der Blick von außen ins Innere um Gefühle zu spiegeln und Nähe zu erzeugen, habe ich mir dies auf die Fahne geschrieben. Ich finde, deine Geschichte ist auch diesbezüglich als Anschauungsmaterial gut geeignet.

Es ist schon, wie rieger schrieb, alles sehr extrem, doch du hast das glaubhaft und stimmig inszeniert. Von Normalos liest man viel, die begegnen einem auch im wirklichen Leben. So finde ich es immer wieder spannend, mal über andere Menschen zu lesen, solche, die ich in meiner Welt nie kennenlernen würde. Auch unter diesem Gesichtspunkt war deine Geschichte ein echtes Leseerlebnis für mich.

Ach ja, fast hätte ich es vergessen: die deutsche Bedeutung der wenigen russischen Wörter, brauchte ich nicht, da man das dem Zusammenhang entnehmen konnte. Zudem macht es den Text nur unschön, fast als hättest du etwas in Klammern geschrieben, was für mich ein No-Go ist. Ich bin auch der Meinung, dass man dem Leser etwas zumuten darf. Heutzutage, wo doch fast jeder sein Smartphone an der Hand festgetackert hat … Das gilt übrigens auch für die Drogen. "Es" musste ich nachlesen. Ich gehöre aber auch zu denen mit dem Handy … du weißt schon. Von daher kein Problem :-)

Wenn ich jetzt so vor mich hin resümiere, stelle ich fest, dass mir der Sinn von Michails Cousins nicht so ganz klar ist, also zu denen kann ich grad nichts sagen.
Das Ende bleibt offen und obwohl ich mit Happy-End glücklicher wäre, kann ich gut damit leben. Das Leben ist halt einfach mal so, dass es für viele scheiße endet.

So, ich hoffe, nichts vergesse zu haben. Meine Gratulation zu diesem super Text.

Lieber Gruß
Tintenfass

 
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Hallo lakita!

Vielen Dank erstmal für deinen tollen Kommentar, ich habe mich sehr gefreut.

Guter Plot und sehr viel Spannung drin und was mir obendrein noch sehr gut gefallen hat, war die gesamte stimmige Atmosphäre. Die Typen passen, ihre Sprache passt, was sie machen passt und wie sie handeln und entscheiden passt.
super!

Mit dem Ende bin ich eigentlich nicht so glücklich, aber das liegt daran, dass im Moment meine Krämerseele sich nach was Aufgeräumten sehnt.
Also für mich ist das Ende eigentlich relativ klar. Ich denke mir, wenn man aus der Präsens-Innenperspektive des Prots erzählt, gibt es nur eine Möglichkeit, wieso der Gedankenstrom so schlagartig abreißen könnte. Hier wird das ja nicht gerne gesehen, wenn man seine eigenen Texte "tot"deutet, aber meine Intention beim Schreiben war schon, dass er zum Schluss stirbt bzw. erschossen wird. Man kann klar nicht schreiben: Oh! Da war ein Schuss! Bin ich jetzt tot? Ist das Petrus da am Himmelstor? :D Also für mich ist das die einzig logische Art aus der Erzählperspektive zu beschreiben, wie jemand stirbt. Aber gut.

Was mir auch imponiert, ist deine souveräne Art, eine Menge Personen in die Handlungen einzubauen, ohne dass ich das Gefühl habe, sie stünden da nur als Staffage rum oder sie hätten nix zu tun und füllen nur den Platz. Sie haben alle eine wichtige Aufgabe, die Geschichte voran zu bringen und trotz ihrer hohen Anzahl sind sie von dir so angelegt, dass man den Überblick nicht verliert. Du besitzt dafür ein sehr gutes Händchen.
super, danke. In anderen Versionen war Logan etwas fehl am Platz, oder das Mädchen kam lange Zeit "deplatziert" oder überflüssig vor - hier bin ich eigentlich ganz zufrieden mit den Figuren und ihren Plätzen im Plot.

Ein wenig blass erscheint mir allerdings Angelika. So richtig doll kann ich nicht nachvollziehen, weshalb dein Protagonist an ihrer Nadel hängt. Als du beschreibst, wie sie sich zusammen verhalten und wohl fühlen, da ist mir klar, dass sie für ihn etwas Besonderes ist. Ich meine aber die erste Begegnung.
Ja, das haben andere jetzt auch noch angemerkt. Ich finde es nicht ganz so schlimm, dass man ihre Liebesgeschichte nicht 1:1 kennt ... da müsste ich in die Richtung noch mal den Plot aufblasen, und das kann dann wieder zu Ungleichgewichtungen innerhalb der Story kommen, ich denke, ich werde das so lassen, wie es jetzt ist ... aber danke auf jeden Fall für die Anmerkung, ich behalte sie im Hinterkopf, evtl. lässt sich ja später noch mal was machen.

Was also fixt ihn an bei der ersten Begegnung? Vielleicht sogar, dass sie das Kind auf dem Arm hält? Ihre Unbeholfenheit? Du siehst, ich stochere da nur rum. Mir fehlt da noch ein bisschen Text an dieser Stelle.
okay, danke, ich werde da mal drüberschauen und mir was überlegen.

Ist so ein typischer Zigga-Text.
Also ein Markenzeichen für gute Ware.
Ich fühle mich geehrt!

Ich würde fast alle Übersetzungen streichen.
Ja, mhm ... dann kommt maria, und lyncht mich! :D Auch wenn alle Kommentatoren bis jetzt empfohlen haben, die Übersetzungen zu streichen muss ich sagen, dass sie mir ganz gut gefallen. Ich habe früher auch immer einfach die nichtdeutschen Begriffe in meine Texte eingebaut und darauf gebaut, dass man das schon irgendwie versteht, aber mittlerweile bin ich an einem Punkt, wo ich eher die Meinung vertrete, man sollte dem Leser fast alles verstehen lassen. Mal sehen. Ist ein bisschen Geschmackssache, schätze ich, aber es kann schon nerven, wenn da ein russischer Satz steht, und ich als Deutscher denke mir: Was? Der Erzähler versteht die russische Sprache ja selbst, und da wäre es fast ein bisschen ein Perspektivenbruch, dem Leser die Bedeutung der Worte vorzuenthalten, finde ich.

ich weiß nicht was Es ist.
Ecstasy. Ist ein bisschen unglücklich, weil in der Mehrzahl, normal heißt es "E"


Ich fände es klarer in dem Frontenaufbau zwischen den beiden, wenn sie sich eben nur über Angelika kennen. Zumal du ja im Verlaufe der Geschichte keine weitere Verbindung zwischen den beiden herstellst, die aus der damaligen Schulzeit rührt.
Das mit der Schulverbindung wurde jetzt echt von jedem getadelt! :D Hätte ich nie gedacht! Man hat ja oft so ein Gefühl dafür, was die Kommentatoren hier anprangern werden könnten und was nicht, aber dass das so "unauthentisch" vorkommt, hätte ich nie gedacht. Wäre das nicht, und wüsste man nicht, dass er gut in der Schule war, aber trotzdem ein kräftiger Kerl mit Respekt, dann wäre die Figur Michail womöglich etwas flach und zum Schluss versteht man auch etwas weniger, wieso er so druchdreht - das ist meine Befürchtung und mein Grund, wieso ich das eingebaut habe.

Warteste auf uns?«, fragt der Deutsche und
Wartest.
"Warteste" ist hier umgangssprachlich für "wartest du"

Der Titel gefällt mir gut, er passt.
toll

lakita, vielen Dank fürs Lesen und Vorbeischauen und Kommentieren, über so viel Lob kann man sich nur freuen. Merci!


Hallo rieger,

auch dir vielen Dank fürs Lesen, Kommentieren und Vorbeischauen!

ein eindrucksvoller Text, eine harte Milieustudie, die kein Blatt vor den Mund nimmt, sprachlich, wie ich finde, souverän gestaltet.
Super, ich freue mich richtig über dein Lob, und dass dir die Geschichte gut gefallen hat. Gibt kein geileres Gefühl, als wenn eine Geschichte, an der man lange gearbeitet hat, Lesern gefällt, finde ich!

Das mit der vielen Brutalität: Da hast du schon recht. Das ist mir gar nicht so explizit aufgefallen, aber jetzt, wo du es mir gesagt hattest, da kann ich es schon nachvollziehen. Es ist natürlich ein Text über Gewalt, vieles ist gewalttätig, sogar der Sex. Auch die Ausbreitung der Verletzungen, die Zunahme von Blut, angefangen beim kleinen Schnitt in der Werkstatt bis hin zum Finale, das ist schon so gewollt und geplant - ja, evlt. werde ich hier und da einen kleinen Tick runterfahren, aber ehrlich gesagt habe/hatte ich jetzt nicht das Gefühl, dass es "unlogisch" viel Gewalt oder Verletzungen gibt ... also im Bezug darauf, ob das körperlich machbar ist oder nicht. Ist bloß mein Gefühl. Das mit dem angeschwollenen Auge z.B., da werde ich evtl. etwas zurückfahren, da der Prot ja am nächsten Tag wieder gut sieht (zumindest erwähnt er das Auge nicht mehr), als er den Bruder besucht. Ja, womöglich nimmt der Effekt der Gewalt im Text nach und nach ein bisschen ab ... aber gut, schlimmer wäre es für mich, wenn die Gewalt als effekthascherisch wahrgenommen worden wäre, denn so würde ich das absolut nicht wollen. Die Gewalt, sie passiert hier, sie ist auch irgendwo ein Spiegel von Andrejs Seele, aber mit der Logik und Authentizität sollte sie natürlich nie brechen. Vielen Dank für den wertvollen Hinweis, das werde ich bei einer Überarbeitung auf jeden Fall im Hinterkopf haben!

Noch kurz zu:

Auch wohl, dass während dem lautstarken Verkehr im Flur die Nachbarn an den Papierwänden, die zu Beginn so eindringlich beschrieben werden, hängen und interessiert der akustischen Kulisse folgen.
Das ist eine kleine Unstimmigkeit im Text, merke ich gerade. Der Sex soll eigentlich im Zimmer und Bett von Andrej stattfinden, so hatte ich das vor mir gesehen, nicht im Gang, das wäre schon ein wenig too much, finde ich. Und außerdem wohnt ja der Vater auch noch da. Werde ich ausbessern, das kann man echt falsch verstehen, sehe ich gerade. Danke dafür.

Ich habe den Text ausgesprochen spannend und sprachlich immer auf der Höhe gefunden.
Super. Ich freue mich sehr über dein Lob, rieger.

Viele Dank!

Hallo Tintenfass,

Deine Geschichte habe ich verschlungen. Gelesen, gelesen, gelesen und nicht mitbekommen, wie die Zeit verging. Ich war gefesselt von der Story und wollte wissen wie sie endet.

Mann, was für ein Kommentar! :D Wenn man eine Geschichte schreibt, da wünscht man sich natürlich insgeheim immer, dass sie bei (einigen) Lesern so gut ankommt, dass da so ein Kommentar herauskommt, wie deiner. Der geht wirklich runter wie Öl, und gerade, dass du dich so tief mit meinen Figuren und den Konflikten und allem beschäftigt hast, das freut mich ungemein, weil ich das Gefühl habe, Andrej und alle sind dir in der kurzen Lesezeit schon ein bisschen ans Herz gewachsen und ich konnte dich in mit dieser Geschichte berühren. Wenn das so ist, dann freue ich mich sehr. Das ist natürlich bomben Antrieb, weiter zu machen und Gas zu geben, also vielen lieben Dank für deine warmen und sehr intelligenten Worte.

Er trifft sie im Lidl, offenbar zum ersten Mal, und ich denke mir schon, dass da eine Romanze draus wird. Doch mir fehlt die Entwicklung dazu.
Ja, hat lakita auch angekreidet, und ihr habt beide völlig recht. Eigentlich müsste ich hier noch mehr zeigen, eine Liebesgeschichte, zumindest eine kleine, damit man versteht, wieso Andrej so sehr auf Angelika steht. Das Teil ist halt jetzt schon sehr lange, und wenn ich mal die 50 Seiten überschritten hätte, hätte ich wirklich Angst, ob das überhaupt noch eine Kurzgeschichte ist. Und ich bin immer sehr froh und erleichtert, wenn ich so lange an einer Story herumgebastelt und umgewichtet habe, und wenn sie mir dann mal rund und ausgewichtet vorkommt. Das ist so ein Augenblick, wenn ich danach noch mal anfange, Szenen auszubauen oder großflächig zu streichen, dann wird entweder noch mal eine ganz andere Geschichte daraus, oder ich versaue es dermaßen, dass ich nach zwei Wochen wieder zur ursprünglichen, "runden" Geschichte zurückfinde. Aber ich schaue mal. Ihr habt recht. Da müsste ich noch mehr zeigen, das würde interessieren.

Auch die Bedeutung des Kindes ist mir nicht klar. Ich habe im Verlauf der Geschichte immer darauf gewartet, dass es auftaucht.
Aaah ... ja, Mist. In einer früheren Version kam das Kind später noch mal vor, wurde wichtig, das ist praktisch ein nun bedeutungsloses Überbleibsel dessen. Hätte sie das Kind halt nicht auf dem Arm, könnte sie ihr Zeug selber aufheben, das ihr runterfällt, und Andrej hätte sie nie ansprechen müssen. Deswegen das Kind. Aber es hat keine Bedeutung, in meinen Gedanken hat sie bloß auf das Kind aufgepasst, und ist halt eben kurz einkaufen gegangen.

Michail: Komisch, den mochte ich sogar.
Das ist gut! Ich mag ihn nämlich auch. Ich finde es wichtig, auch die "bösen" Figuren menschlich zu zeichnen, ihnen Träume und eine nette Seite zu geben. Das gibt einer Figur einfach Tiefe, und man ist selbst hin und her gerissen, was man nun von ihr halten soll.

Unnötig, weil nicht von Bedeutung finde ich, dass M und A zusammen zur Schule gingen.
Das hat lakita auch angekreidet. Ich schrieb ihr dazu: Das mit der Schulverbindung wurde jetzt echt von jedem getadelt! :D Hätte ich nie gedacht! Man hat ja oft so ein Gefühl dafür, was die Kommentatoren hier anprangern werden könnten und was nicht, aber dass das so "unauthentisch" vorkommt, hätte ich nie gedacht. Wäre das nicht, und wüsste man nicht, dass er gut in der Schule war, aber trotzdem ein kräftiger Kerl mit Respekt, dann wäre die Figur Michail womöglich etwas flach und zum Schluss versteht man auch etwas weniger, wieso er so druchdreht - das ist meine Befürchtung und mein Grund, wieso ich das eingebaut habe.


Vater und Bruder: Mir hat das ausnehmend gut gefallen, dass du nicht nur die hoffnungslose Seite der Familie zeigst. Jeder von ihnen hat ein Talent. Vater musiziert, Bruder schreibt, Prota zeichnet. Es zeigt, dass in jedem auch eine kreative Seite steckt und mich macht das dann besonders traurig wenn bei denen im Leben was schief läuft, sie keine Chance auf Glück haben oder ihre Chancen nicht erkennen oder nutzen können/wollen. Ja, das hat mich berührt.
Super! Ich freue mich sehr, dass das so gut für dich klappt.

Der Bruder scheint mir der Schwächste zu sein. Über ihn wollte ich noch etwas mehr wissen. Gerade was die Waffe betrifft, die später der Prot an sich genommen hat. Man könnte das auch so stehen lassen, denken, die kennen sich aus, in gewissen Kreisen. Wer an Drogen kommt, kommt auch an Waffen. Doch den Typen wäre ich auch noch länger gefolgt um das, was ich mir denken oder zusammenreimen kann, auch noch zu lesen. Der Text hat das Zeug, den Leser auf noch längerer Strecke zu halten, finde ich.
Ja, würde ich alles noch ausbauen, die Geschichte der Waffe und Angelika erzählt, könnte der Text gut noch mal 10, 20 Seiten bekommen. Das wäre schon krass und würde hier glaube ich kaum noch gelesen werden, 40 Seiten ist schon Maximum, denke ich mir. Aber danke für den Hinweis. Ich überlege mal, ob ich das noch einbauen kann, ist ein guter Punkt.

Deinen Text, zigga habe ich auf dem Rechner gespeichert.
Mann, das ist ja eine Ehre. Wirklich, bombe, ich freue mich sehr. Was die Atmosphäre betrifft: Da gibt es viele verschiedene Theorien im Storytelling, wie man das hinkriegt. Eine, die für mich so ein richtiger Aha-Effekt war, ist, dass die geschilderte Umwelt immer auch ein Abbild des Innenlebens deines Helden sein muss. Das, was in der Umwelt passiert, muss immer metaphorisch aufgeladen ein Spiegelbild der inneren Konflikte deiner Figuren sein. Aber schwierig, da muss jeder seine eigene Art und Sprache finden, wie er/sie das hinbekommt. Üben, weiterschreiben, viel lesen, Texte/Filme, die gut gefallen, so auseinanderfaseln und analysieren, wie du es hier schon sehr gut gemacht hast, und für sich selbst die eigenen Schlussfolgerungen ziehen - das ist die beste Schule, sage ich jetzt mal.

Ach ja, fast hätte ich es vergessen: die deutsche Bedeutung der wenigen russischen Wörter, brauchte ich nicht, da man das dem Zusammenhang entnehmen konnte.
Mhm ... dann kommt maria, und lyncht mich! :D Auch wenn alle Kommentatoren bis jetzt empfohlen haben, die Übersetzungen zu streichen muss ich sagen, dass sie mir ganz gut gefallen. Ich habe früher auch immer einfach die nichtdeutschen Begriffe in meine Texte eingebaut und darauf gebaut, dass man das schon irgendwie versteht, aber mittlerweile bin ich an einem Punkt, wo ich eher die Meinung vertrete, man sollte dem Leser fast alles verstehen lassen. Mal sehen. Ist ein bisschen Geschmackssache, schätze ich, aber es kann schon nerven, wenn da ein russischer Satz steht, und ich als Deutscher denke mir: Was? Der Erzähler versteht die russische Sprache ja selbst, und da wäre es fast ein bisschen ein Perspektivenbruch, dem Leser die Bedeutung der Worte vorzuenthalten, finde ich.

Wenn ich jetzt so vor mich hin resümiere, stelle ich fest, dass mir der Sinn von Michails Cousins nicht so ganz klar ist, also zu denen kann ich grad nichts sagen.
Also se sind ja praktisch der Grund, wieso Andrej in diese Situation des Deals kommt - sie verstecken Michail das Zeug, damit er es in seiner Stadt weiterverkaufen kann. Michail will sich aber die Hände nicht dreckig machen und sucht sich einen, der das für ihn erledigt. Deswegen braucht es die Cousins, auch als "Motivation", weswegen Michail schließlich zum Deutschen gehen will, und das Geld wiederholen will - ansonsten sitzen die Cousins ja im Nacken.

Tintenfass, noch mal Danke und ich habe mich wie gesagt echt sehr gefreut, ein wirklich toller Kommentar, ich wünsche dir alles Beste und bleib am Ball!

Gruß,
zigga

 
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Erst finde ich die Plastiktüte nicht. Michail hat mir die Koordinaten gegeben, Michail hat gemeint, es liegt in einem Loch unter einer großen, alten Eiche, aber da dachte ich noch nicht daran, dass ich gar keine Ahnung habe, wie eine Eiche überhaupt aussieht,

Sehr, sehr schön. :D
(Tatsächlich eine meiner Lieblingsstellen, weil sie wunderbar zeigt, wie man dem Leser in zwei winzigen, beiläufigen Nebensätzen ganz viel von einer Figur, ihrem Charakter, ihrer Lebensrealität, ihrer Weltwahrnehmung usw. vermitteln kann.)

Ist harter Stoff, zigga, was du uns hier um die Ohren haust. Trotzdem wirkt es mit bemerkenswerter Leichtigkeit geschrieben. Sprachlich mitreißend, atmosphärisch dicht, die Handlung plausibel ausgedacht und darüber hinaus wirklich spannend und dramaturgisch geschickt umgesetzt. Die Geschichte hat Tempo und Drive, und ja, sie bietet viel Gewalt, keine Frage, aber auch großes Gefühlskino.
Überhaupt ist das natürlich ein dankbares Thema: Der junge Held, der sich in Machenschaften verstrickt, die einfach eine Nummer zu groß für ihn sind. Nicht nur, dass sich dieser Andrej die falschen Freunde aussucht und sich eher unbedarft im eindeutig falschen Gewerbe versucht, nein, er lässt sich obendrein mit der falschen Frau ein. Dumm gelaufen …

Am meisten hat mir gefallen, wie es dir gelingt, mir diesen Andrej sympathisch zu machen. Im Grunde ist das ja ein Typ, den man leidenschaftslos und kopfschüttelnd einfach als dummen, perspektivlosen Kleinkriminellen abtun könnte. Das lässt du aber nicht zu und das gelingt dir vor allem durch die Art, wie du Andrej reflektieren und erzählen lässt, in seiner Erzählsprache schwingt immer so was leicht Melancholisches mit. Von Anfang an spürt man, dass hier einer erzählt, der zwar Träume hat, in Wahrheit aber längst ahnt, dass er diese Träume niemals wird verwirklichen können. Na ja, und das verleiht der Geschichte dann halt schon so ein zusätzliches Quäntchen existentieller Wahrhaftigkeit.

Hat mir richtig gut gefallen, zigga.


offshore


Ein paar kleine Störfälle gab's:

»Danke«, sagte sie, steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte. Der Kleine fing wieder zu heulen an.
Wieso „wieder“?
(Stört mich schon deshalb, weil du gleich in der nächsten Zeile - berechtigt - noch einmal „wieder“ verwendest.)

Einkaufzentrum


dass höchstens diese Stadt daran Schuld [schuld] ist, [oder: Schuld trägt]

den ganzen Tag hat er nichts besseres [Besseres] zu tun,

der Vordere [vordere] ist ein langer, dünner Deutscher,

mit krächzender und heißerer [heiserer] Stimme

da steht der Kapo vor mir und schlägt sich die Hände über dem Kopf zusammen.
und beißt sich die Zähne zusammen.
besser ohne Reflexivpronomen

dass ich doch tatsächlich so eine geile suka [Suka] ficke.

vielleicht der nach Blut, Beton, Pisse oder Träume[n].

plötzlich hört der Deutsche zu Schreien [schreien] und zu Zappeln [zappeln] auf.

Ich habe die Kapuze tief in mein [besser: ins] Gesicht gezogen,
(Vielleicht hast du's ja noch nicht mitgekriegt, aber ich hab eine schwere Possessivpronomenallergie.)

nein, nein, nein, dass [das] kann nicht sein,

Und noch was zur Zweisprachigkeit, bzw. zu deinen Simultanübersetzungen:
Also mir gefällt das auch nicht.
In erster Linie sehe ich da ein quasi formales Problem: Wir bedienen uns bei der schriftlichen Textdarstellung ja eines verbindlichen Zeichensystems, das bestimmt, wie wir einen Text wahrnehmen. Und daraus ergeben sich dann so was wie unbewusste(?) Lesekonventionen bzw. -gewohnheiten. Und diesen Lesegewohnheiten entsprechend lese (höre) ich z.B. alles, was zwischen Anführungszeichen steht, als gesprochen.

»Nyet, ya russkay – nein, ich bin Russe«
Und jetzt frage ich dich: Wie soll ich das lesen?
(Die deutsche Übersetzung wirkt auf mich wie eine Stimme aus dem Off. Und so was haut mich - wenn auch nur für Sekundenbruchteile - total raus aus der Illusion, gerade in einer anderen Realität zu sein. :shy:)

Außerdem machst du das ja sowieso nicht konsequent. Ich kann mir nämlich vorstellen, dass deine Russen, wenn sie unter sich sind, überwiegend russisch miteinander reden. Und da stellst du ja auch nicht die Originalfassung vor die Übersetzung.
Wenn dir das russische Idiom für die Atmosphäre der Geschichte wirklich wichtig ist, solltest du höchstens ein paar quasi selbsterklärende Floskeln einbauen, ohne sie zu übersetzen, und darauf vertrauen, dass die Leser kapieren, was gemeint ist.

 
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Hey zigga

Starker, komplexer Text. Vor allem dramaturgisch klasse gemacht. Ich geh gleich rein.

Manchmal habe ich das Gefühl, so richtig aufzuwachen, ich kann das nicht anders beschreiben – dann fühle ich mich für zehn, zwanzig Sekunden so, als ob ich mein ganzes Leben über geschlafen hätte, als ob ich die ganze Zeit in einem großen, verfickten Tagtraum gelebt hätte.

Gut. Auf alle Fälle. Aber wenn ich die Latte jetzt mal ganz hoch ansetze: Das Bild vom Aufwachen aus einem Traum angesichts einer speziellen Situation ist nicht unbedingt abgegriffen, aber wirkt auch nicht besonders eigenständig, speziell.

Als ich Angelika das erste Mal gesehen habe, hatte ich das Gefühl, aufzuwachen.

Diese Wiederholung hat mir nicht so gut gefallen. Ich hätte geschrieben: „Zum Beispiel als ich Angelika zum ersten Mal gesehen habe“ oder - gefällt mir noch besser - das einfach weggelassen. Der Leser verknüpft das automatisch. Du hast hier auch zweimal „als“ (im vorhergehenden Satz schon mal).

Der Kleine fing wieder zu heulen an.

Weshalb „wieder“? Es steht nichts davon, dass er vorher geheult hat.

bevor ich all das Blut gesehen habe – Blut an der Wand, Blut auf dem Teppichboden, Blut an der Haustüre.
So habe ich Angelika kennengelernt.

Da werden wir uns wohl nie ganz einig. Aber bedenke, dass du hier auf engstem Raum nicht nur die Wiederholung Blut-Blut-Blut-Blut hast, sondern auch „So habe ich Angelika kennengelernt“ wiederholt sich. Das ist mir zu rhetorisch, zu gewollt. Ich weiss, dass da unsere Einschätzungen divergieren – ich sag’s trotzdem.

Ich finde den Abschnitt 1 aber dennoch gut, der zieht mich in die Geschichte rein, Hauptaufgabe erfüllt.

einer Sehnsucht nach etwas anderem, nach einem Ort, der wahrscheinlich gar nicht existiert: nach Paradies, nach Nirvana.

Ich wiederhole meine Kritik, die ich schon bei den Gaspistolen formuliert habe. Paradies und Nirvana schwächt meiner Meinung nach das Gesagte ab.

Die Glut leuchtet auf, verscheucht kurz die Dunkelheit aus meinem Zimmer, und ich sehe ihre spitze Nase, die glänzende Haut.

Stark. Auch die folgende Szene finde ich grossartig, sehr sinnlich und nah.

Wir liegen einige Zeit so da; ich spüre ihren warmen Körper neben mir, rieche diesen fantastischen, einzigartigen Geruch, der nur von ihr ausgeht, wenn wir miteinander geschlafen haben. Angelika streicht mir mit den Fingerspitzen über die Brust.

Fehlt nur noch „unbeschreiblich“. :) Ich würde hier konkret bleiben. Keine Floskeln.

Und irgendwann kommt er drauf, dass es ihm einfach zu still ist. Dass er nicht schlafen kann, weil er nachts keine Autos und keine Züge und keine Menschenstimmen mehr hört. Deswegen kann er nicht mehr schlafen.

Sehr stark.

Überhaupt finde ich den zweiten Abschnitt sehr sehr gut. Wenn ich das mal mit den Gaspistolen vergleiche, dann bist du hier viel fokussierter, tiefer, näher bei den Figuren, weil du (hier zu Beginn) weniger Fäden aufrollst. Ich denke, es ist gut, wenn du den Figuren mehr Raum gibst, den Leser mal daran riechen lässt, bevor die Geschichte komplexer wird.

Erst, als Logan mal abends, nach diesem Klatschen, vor meiner Tür gestanden war, und ich seine roten, glühenden Wangen sah, da wurde mir bewusst, was überhaupt hinter diesem Geräusch steckte.

Würde ich streichen. Und „was“ muss nicht kursiv.

Jahre später hat mir Logan dann erzählt, dass auch er unsere Wohnung hören konnte: Dass er oft meine Mutter hörte, wenn sie mal wieder ihren Blues schob, wenn sie tagelang im Bett lag und wimmerte, heulte.

Er kann nicht die Wohnung hören, sondern nur, was in der Wohnung geschieht. Und dieses Blues schieben, das ist perspektivisch unsauber, meines Erachtens. Denn Logan hört nur das Wimmern und das Heulen.

Wir saßen einfach nur da, im Garten, lange, hörten den Vögeln zu, sahen uns die Bäume, Gräser, Blumen an, die im Wind wackelten, als winkten sie uns heimlich zu.

Du weisst schon. Aber hier wackeln die alle auch noch, sogar die Bäume. :)

Klar, hab’ ich ihm versprochen, das Teil ein paar Tage bei mir zu lagern, und, klar, hab’ ich mir nichts dabei gedacht, als ich die Knarre einfach in die oberste Schublade meines Nachttischs gelegt habe.

Gute Dosierung. Ich hab eine ungefähre Vorstellung, was geschehen ist, möchte aber unbedingt mehr wissen. Das ist echt gut gemacht.


Die Arbeitslosen reden nicht viel; sie sind vierzig, fünfzig und verdrücken sich so oft es geht aufs Klo, um heimlich zu trinken.

Redundant.

»Würde dir ja die Hand geben, ist aber grade weng scheiße oder?«

wenig

Michail – als er um die Ecke biegt, zucke ich zusammen. Kurz springen mir all die Bilder vor die Augen: Michail in der Grundschule, in der ersten Reihe, bei jeder Frage den Finger oben, aber keiner dieser Streber, nein, schon damals ein Bulle, vor dem wir alle Respekt hatten – dann denke ich an Angelika, klar, Angelika, fuck, Angelika.

Hm. Ich dachte zunächst, das sei eine neue Figur. Erst nach einer Weile fiel mir ein, dass Angelika von ihm erzählt hat. Also, der Text erfordert schon recht viel Aufmerksamkeit, weil ich als Leser noch so einiges nicht richtig einordnen kann. Das puzzelt sich sicher zusammen, ich vertraue dir da auf alle Fälle – aber eben.


»Also, sag, wieso bist du hier, Mann?«
Ich beiße mir auf die Zunge.
»Mein Bruder«, fange ich an, aber als ich zum nächsten Wort ansetzen will, blickt Michail schon runter auf meine Hand und schüttelt den Kopf.
»Ja«, flüstert er, »ja. Hab’ davon gehört.«
Er sieht wieder hoch zu mir. »War deine oder wie? Mit der er’s machen wollte?«
Ich nicke.

Ist etwas blöd, aber mir hätte geholfen, wenn du geschrieben hättest: War deine Pistole (Knarre).

So, das Puzzle fügt sich. Bin wieder gut drin in der Geschichte. Ich mach Pause, aber poste schon mal, was ich bisher habe.

[Edit 11.1. 17.45 Uhr] Weiter geht‘s.

»Fester!«, schreit Angelika, und unsere heißen, brennenden, verschwitzten Körper reiben aneinander.

Wiederum finde ich, dass jedes der drei Adjektive die anderen abschwächt, die weisen ja auch nicht in verschiedene Richtungen.

Er sieht sie, wenn sie kommt, und er sieht sie, wenn sie geht. Da ist etwas an ihr, das ihn abstößt, das ihn wütend macht. Ich merke das an der Art, wie er sich bewegt, wenn er sie gesehen hat, an der Art, wie er ihr Blicke zuwirft.

Als ich’s gelesen habe, hat es mich nicht gestört. Aber danach kommt die Verabschiedung von Angelika und danach die Szene vor dem TV, wo er sagt, pass auf. Und da habe ich mir gedacht, dass diese Tell-Passage oben gar nicht nötig ist, dass es organischer wäre, wenn sich Angelika verabschiedet und der Vater sitzt nebendran (ist also impliziert, dass er weiss, wer sie ist) und dann spricht er die Warnung aus. Das käme dann für den Leser ähnlich überraschend wie für Andrej. Jetzt ist das so ein wenig eingeführt: Hallo Leser, in diesem Abschnitt geht’s um den Vater aber, wartet, zuerst verabschiedet sich noch Angelika.

Durch die Wand höre ich den Fernseher meines Vaters und auch den unserer Nachbarn, es sind Araber, nette Leute, Frauenstimmen lachen auf, Geschirr klappert, ihre Küche liegt direkt hinter meinem Zimmer.

Weshalb? Also, ich fand diese Wertung etwas unmotiviert. Vielleicht, wenn du das zeigst, es sind Araber, die uns manchmal Essen bringen, uns mal geholfen haben, einen Schrank nach oben zu tragen, was weiss ich.

sie sagt, dass sie heulen könnte, wenn sie sieht, wie ich den Blick aus meinem Zimmer, wie ich Menschen oder Hochhäuser zeichne.

Da fehlt was, oder?

Nachdem die Sache mit der Pistole passiert war, haben wir sein ganzes Zeug gefunden, all die Zettel, Blöcke, Hefte – ich habe mir alles durchgelesen, manches zweimal, dreimal, manches verfolgt mich bis zum heutigen Tag.

Ich lese das – aus Konvention – so, dass er einige Stellen dreimal gelesen hat, und ihn andere Stellen bis heute verfolgen. Ist das so gemeint?

Die Araber in der Wohnung nebenan lachen wieder auf, diesmal sind auch Männerstimmen dabei.

Vielleicht kann Andrej noch was mit der Zeichnung machen, auch wenn es nur das Zurücklegen in die Mappe ist. So habe ich als Leser das Gefühl, Andrej nimmt die Zeichnungen in die Hand, damit er elegant zum Thema Bruder überleiten kann – und sonst aus keinem Grund.

Als ich aufwache, ist der Verband durchgeweicht, ein dunkler Fleck hat sich ins Spannbetttuch gesogen.

Ist vielleicht zu pingelig, aber wenn sich eine Flüssigkeit eingesogen hat, entsteht ein Fleck. Der Fleck selbst kann das nicht.

Ich stehe in der Küche und schenke mir Kaffee ein – mit der Rechten, alles zieht, ich verschütte die Hälfte.

Das finde ich unplausibel. Bei dieser Verletzung würde er automatisch die linke Hand nehmen, denke ich. So schwierig ist das nicht. (Aber er kann auch was vergiessen :))

Ja, meine Hand ist im Arsch und ja, ich brauche Kohle, aber da gibt es noch einen anderen Grund, wieso ich zu Michail in die Werkstatt schaue, wieso ich ihm sage, dass ich dabei bin, dass ich heute Abend vorbeikomme. Ich weiß nicht, ob Angelika der Grund ist. Ich glaube, ich würde das gerne sagen, aber ganz stimmen würde es nicht. Vielleicht bin ich scharf auf den Kick, vielleicht will ich die zweihundert Tacken, um dann mit Logan einen draufzumachen, gutes Gras, gute Es, Shots und Elektro. Vielleicht ist da aber auch etwas in mir, das will, dass Michail mich und Angelika zusammen sieht, etwas, das will, dass heute Abend alles auffliegt. Das ist dumm und selbstmörderisch, klar, aber manchmal bin ich eben so: dumm und selbstmörderisch – manchmal muss ich so sein, um alles zu vergessen, um zu spüren, dass ich noch lebe. Um Kanada zu sehen, wenn ich die Augen schließe.

Finde ich eine spannende Passage. Weil ich von sowas die Finger lassen, den Text so konstruieren würde, dass diese vorausblickende Erklärung der Handlungsmotive eines Protagonisten nicht nötig wird. Aber – ehrlich – ich finde das gut gemacht, so dass es mich nicht gestört hat. Nur am Schluss würde ich das selbstmörderisch weglassen, das ist erstens etwas übertrieben und zweitens ein furchtbar sperriges Wort. Dumm reicht doch.

Für einen Augenblick weiß ich nicht, ob wir uns zu lange ansehen, für einen Augenblick ist da diese Spannung zwischen uns, dieses Vertraute, diese Verbundenheit; es ist schwierig, das wegzubekommen, wenn es erst einmal da ist.
Ich schüttle den Kopf, »nyet – nein, vielleicht früher mal gesehen?«, sage ich.
Angelika zuckt mit den Schultern, schaut an mir vorbei.
»Kann sein«, sagt sie.

Finde ich schade, dass du die Szene erklärst.

»Dyermo - Scheiße«, bellt Michail, »verfickten Nazis.«
Ich nicke, schlucke.
»Lass dich nicht fertigmachen von den verfickten Nazis«, sagt er.

Verfickte. Die Wiederholung ist beabsichtigt?

Ich wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser ab.

Würde ich ohne „ab“ schreiben.

Wir zucken zusammen, erstarren, lösen uns voneinander. Ein letzter Blick, dann schlurft sie zurück in die Küche. Ich drehe den Wasserhahn auf und zu.
»Ja, ja, bläd, gleich!«, schreie ich zurück.

Hier habe ich mich ernsthaft gefragt, weshalb Angelika überhaupt bei Michail bleibt. Was ist ihr Motiv? Das könntest du zumindest mal andeuten, ich meine, die sind ja nicht verheiratet, haben keine Kinder, sind jung und alles. Da braucht es schon handfeste Gründe, die Andrej ja wohl auch mal erfragen würde. Also, ich geh davon aus, dass sie Angst vor Michail hat, aber dafür kommt der mir bisher noch zu brav daher.

Der Rest kommt dann in einem neuen Post.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Grüß Gott ernst offshore,

vielen Dank dir erstmal fürs Lesen und Kommentieren!

Sehr, sehr schön.
(Tatsächlich eine meiner Lieblingsstellen, weil sie wunderbar zeigt, wie man dem Leser in zwei winzigen, beiläufigen Nebensätzen ganz viel von einer Figur, ihrem Charakter, ihrer Lebensrealität, ihrer Weltwahrnehmung usw. vermitteln kann.)
Super! Tatsächlich hatte ich diesem Satz nie große Aufmerksamkeit geschenkt (das mag jetzt überheblich klingen, ist aber gar nicht so gemeint), aber jetzt, nach deinem Herauspicken, mag ich ihn auch sehr gerne. :D Macht natürlich immer am meisten Bock, wenn man beim Schreiben so tief in seiner Geschichte ist, dass man solche Nebensätze heraushauen kann.

Ist harter Stoff, zigga, was du uns hier um die Ohren haust.
Ja, aber genau das reizt mich auch immer und interessiert mich am meisten.

Trotzdem wirkt es mit bemerkenswerter Leichtigkeit geschrieben.
Super. Das ist mir immer ein Anliegen. Oft denke ich mir: Nee, den Absatz, den muss ich noch mal, der muss viel leichter, eingängiger daherkommen. Das ist so ein Anspruch für mich, denke ich. Auch wenn es harter Stoff ist, muss es sich weglesen lassen.

Sprachlich mitreißend, atmosphärisch dicht, die Handlung plausibel ausgedacht und darüber hinaus wirklich spannend und dramaturgisch geschickt umgesetzt. Die Geschichte hat Tempo und Drive, und ja, sie bietet viel Gewalt, keine Frage, aber auch großes Gefühlskino.
Super, danke!

Am meisten hat mir gefallen, wie es dir gelingt, mir diesen Andrej sympathisch zu machen.
Ja, das freut mich. Ich bin gerade in so einer Phase, wo ich richtig Bock habe, tolle Figuren und auch sympathische Figuren in meinen Storys zu haben. Freut mich, wenn das hier geklappt hat.

Hat mir richtig gut gefallen, zigga.
Super! Ich freue mich, ernst.

Zu den Störfällen: Da gebe ich dir in (fast) allen Fällen recht. Deine Vorschläge werde ich gleich mal mit einbasteln, vielen Dank dir dafür, ich finde, durch genau solche Detailkritik hier hat man gute Möglichkeit, seine Texte noch mal auf Hochglanz zu polieren. Super.

Die Zweisprachigkeit: Jaa ... ach, ich weiß gerade auch nicht. Einerseits will ich's übersetzt haben, andererseits liest sich das wirklich ein bisschen unnatürlich. Ich überlege mir da was. Aber danke für deine Einschätzung, hat mir weitergeholfen.

Ich kann mir nämlich vorstellen, dass deine Russen, wenn sie unter sich sind, überwiegend russisch miteinander reden.
Jaein. Es kommt wirklich immer darauf an. Es gibt "Russen" (oder Deutschrussen), die viel Wert auf ihr Russischsein legen, aber wenn sie dann untereinander sind, reden sie komischerweise halbe Sätze auf Deutsch, halbe auf Russisch. So sah ich das auch in der Geschichte. Aber ich werde da noch mal drüberarbeiten.


Danke dir, ernst!

Peeperkorn, danke dir auf jeden Fall auch schon mal fürs Reinlesen, ich antworte dir, wenn dein Kommentar fertig ist, ich denke, das ergibt mehr Sinn!


Gruß
zigga

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey zigga,

wow, das war ein Ritt, zigga. Diese Kurzgeschichte werde ich so schnell nicht vergessen, das ist sicher.
Am Anfang muss man erstmal reinkommen in deinen Stil, der so dicht am Charakter ist, stellenweise so wirkt, als hättest du die Gedanken des Prota ungefiltert aus seinem Schädel niedergeschrieben, aber nach einem Absatz wurde ich vom Sound eingesogen, und dann habe ich einfach immer weitergelesen und weitergelesen.

Der Prota ist dir wirklich grandios gelungen, sehr facettenreich, einfach nur menschlich. Arme Sau, Verliebter, Träumer, Künstler - so viel, mit dem sich verschiedenste Leser identifizieren können. Der Andrej ist einfach sympatisch und man will, dass er bekommt, was er sich ersehnt.

Aber man weiß, dass wird alles nicht gut ausgehen. Da schwingt beständig die Melancholie mit, die Verzweiflung, dass das Ganze aussichtslos ist, dass Andrej gefangen ist in dem Milieu, in der Armut und der Traum von Kanada und Angelika nie wahr werden wird. Gleichzeitig habe ich aber auch gehofft, dass ich mich täusche, er doch einen Weg da raus findet. Bis zum Schluss. Das hast du wirklich ausgezeichnet gemacht, zigga, da gibt's nichts. Spannend und intensiv von Anfang bis Ende.

Und du hast das echt drauf, diese Stories über Russen, kriminelle und verträumte. Erinnert mich an deine Gaspistolen-Geschichte, da gibt's ein paar Parallelen, wenn ich mich richtig erinnere. Verliebtheit, dieses Betoncity-Gefühl, am Ende geht alles schief. So eine richtige zigga-Story eben. Und man merkt, du fühlst dich wohl darin. Die Atmosphäre ist einfach toll mit den vielen Details, vor allem bei der Interaktion deiner Figuren, dann noch das Milieu und die komplexen Gedanken deines Prota - das alles trägt dazu bei, dass ich in der Geschichte richtig versunken bin, gar nicht aufhören wollte zu lesen. Wirklich spitze.

Was wäre ein uneingeschränktes Lob bei den wk-lern ohne Peanuts:

Als ich Angelika das erste Mal gesehen habe, hatte ich das Gefühl, aufzuwachen.

Ein bisschen viel haben, zumal du im Satz davor auch noch zwei Mal hätte drin hast. Vielleicht klingt das etwas besser: Als ich Angelika das erste Mal sah, hatte ...

das Blut gesehen habe – Blut an der Wand, Blut auf dem Teppichboden, Blut an der Haustüre.
So habe ich Angelika kennengelernt.

Den letzten Satz würde ich hier rausnehmen, der bremst ein wenig die Spannung, finde ich. Den Absatz mit dem Blut enden lassen, ohne nochmal Angelika zu erwähnen, das hätte eine stärkere Wirkung.

Mehmet’s Späti

Ist der falsche Apostroph hier Absicht? Ich frage, weil ich schon Dutzende Läden gesehen habe, die diesen Apostroph so falsch benutzen. Kann ja sein, dass du das als Detail absichtlich so gemacht hast. Fänd ich klasse.

dumpfe Klatschen, fast wie der Knall eines Peitschenhiebes oder wie man sich als Kind den Schuss einer Pistole vorstellt, bloß mit Watte in den Ohren.

Also das kann ich mir jetzt nicht genau vorstellen. Ich würde hier auch nur einen Vergleich nehmen, also Pistole oder Peitsche. Dann wäre das Bild klarer, präziser.

Ich denke daran, dass es irgendwie auch meine Schuld gewesen sein könnte, aber dann denke ich, dass es wahrscheinlich niemands Schuld ist, dass höchstens diese Stadt daran schuld ist, dass sie über die Jahre hinweg in ihn eingesickert ist, sich bis in sein Hirn gefressen hat.

Da könnte ein ist weg, denke ich.

Dann hast du manchmal Apostrophe beim Imperativ. Hier zum Beispiel:

»Würg’ mich!«

Ist natürlich kein Fehler, aber den kann man auch weglassen. Ich habe in Romanen und so jedenfalls noch nie (nicht, dass ich mich erinnere) den Imperativ so abgekürzt gesehen, die lassen den Apostroph einfach weg. Eigentlich total nebensächlich, aber ich wollt's nur mal anmerken.

Als mir Angelika die Tür öffnet, erstarrt sie. Da ist etwas an ihrem Blick, das mich anschreien, wegstoßen will, aber dann kommt auch schon Michail von hinten, nickt mir zu und sagt: »Privyet! – Hallo! «

Leerzeichen zu viel. Erwischt. ;)

Ich frage mich, wieso der Typ in diesem Haus tickt, ich frage mich, ob er es vielleicht selbst nicht weiß, ob er es vielleicht wegen einem Mädchen macht.

Da bin ich kurz gestolpert. Meinst du: Wie der Typ in diesem Haus tickt?
wegen eines Mädchens

Hier wieder:

Mein Bruder hat sich wegen einem Mädchen in den Mund geschossen.

Durch das Fenster reinzukommen ist kein Problem.

Hier würde ich ein Komma setzen.

Wir rasen erst durchs Viertel, dann ein kurzes Stück über die Autobahn, und schließlich kommen wir in das kleine Waldstück, in dem ich gestern Nacht das Zeug geholt habe.

War das nicht vorgestern? Gestern Nacht war er doch bei dem Deutschen zuhause, oder?

Das war's auch schon. Ganz großes Kino, zigga, Hut ab. Und obwohl diese Geschichte recht lang war, habe ich das kaum bemerkt, so gefesselt war ich vom Klang und der Atmo und der Spannung. Ganz ehrlich, davon würde ich auch 200, 300 Seiten weglesen. Meinen Respekt. Vielleicht fällt mir noch was zu deiner Geschichte ein, wenn ich drüber geschlafen habe, aber das ist schon ein Brett, das du hier abgeliefert hast.

Liebe Grüße
gibberish

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey zigga

Hier der zweite Teil meines Kommentars:

und fast kann ich sein Augenzwinkern durch mein Handy hören.

Na ja. Das ist nicht wirklich etwas, das man hören kann. Ich find’s etwas zu überdreht.

»Nein«, sage ich, »bin zu müde«, dann brauche ich noch zwei Minuten, um ihn abzuwimmeln.

Ich würde einen Punkt nach „müde“ setzen.

Michail hat mir die Koordinaten gegeben, Michail hat gemeint, es liegt in einem Loch unter einer großen, alten Eiche,

Gewollt? Ansonsten einfach „er hat gemeint…“

ein zweiter Kerl sitzt hinten drauf, er hat eine schwarze Sporttasche in der Hand.

Hm. Werden solche Deals nicht so aufgegleist, dass auf beiden Seiten gleichviele Leute stehen?

da passiert es plötzlich, da packen mich Hände von hinten, halten mir den Mund zu, ich spüre ein, zwei Schläge in den Magen, dann das kalte Metall an meiner Kehle.

Eben. :)

mein Gesicht ist demoliert, ich sehe kaum was: Mein linkes Auge ist zugeschwollen, meine Lippe dick, mein Schädel fühlt sich an, als ob er gleich platzen würde.

die / der

er will kein Risiko eingehen, also braucht er jemanden wie mich, einen Dummen, einen, der ihm sein Zeug erledigt.

Ja, aber er geht ja doch ein Risiko ein, ist ja seine Kohle. Weshalb schickt er nicht zwei Leute, echt? Sorry, dass ich darauf rumreite. Aber könnte man nicht einen zweiten Mann ins Spiel bringen, der aber nicht auftaucht, und Andrej macht’s halt alleine, oder so was?

diesen dunklen, tiefen, leeren Augen

Kein Kommentar.

»Es ist in mir drin«, sagt er mit krächzender und heißerer Stimme – eine Folge des Schusses.
»Was?«, sage ich, und ziehe die Augenbrauen zusammen. »Was ist in dir drin?«
»Es ist einfach in mir drin«, sagt er. »Hab’ alles versucht. Echt jetzt, Andrej, ich hab’ alles versucht.«
Ich runzle die Stirn, blicke fragend zurück.
»Es ist einfach in mir drin, kann man machen, was man will«, sagt er. »Es ist so fest in mir drin, wie meine Augen oder meine Hände in mir drin sind.

Sehr stark. Aber vielleicht kannst du hier Körperteile nehmen, die wirklich drin sind, und nicht gerade diejenigen, die mit der Umwelt interagieren. Wie meine Nieren, wie mein Blut oder so was?

Ich hab’ ’ne Knarre an deinem Schädel, du Pussy! Halt die Fresse jetzt!«

Kein Apostroph nötig bei Ich hab. Echt packend, diese Szene. Saugut geschrieben.

alles um mich herum verschwimmt zu etwas Unwirklichem, meine Beine werden weich

Würde ich weglassen, ist impliziert und muss nicht noch gesagt werden.

– das bilde ich mir zumindest ein.

Kann weg. Ist m.E. wichtig, hier intensiv zu bleiben, nicht zu reflektieren, relativieren.

»Das war’s«, sagt Michail, schaut noch immer auf den Deutschen und nickt dabei. »Das war’s jetzt.«

Boah! Echt krass. Natürlich wegen der Brutalität. Aber noch viel härter ist, dass Michail Andrej vertraut, ohne noch mal nachzufragen. Hat er ja auch allen Grund dazu – wäre da nicht Angelika. Hier vermischen sich diese beiden Sphären, das ist sehr gut gemacht.

aber irgendwie hängt das alles miteinander zusammen, irgendwie existiert das eine nicht ohne das andere: Michail, der mit dem Baseballschläger ausholt, mein Schwanz, der in Angelika reinhämmert, mein Bruder, der sich in den Mund schießt.

Sei mutig und lass das den Leser denken!

Panik macht sich in mir breit.

Finde ich etwas behäbig, auch floskelhaft formuliert. Ich würde es glaub weglassen.


Irgendwann hält Michail dann an, stellt den Motor ab, steigt aus und reißt die Hintertüre auf.

Kann weg.

Als der’s mir gesagt hat, dass es keinen Prozess gibt, da hab’ ich’s gleich gewusst! Dass du mit ihr abhauen willst, du Hurensohn!«
Ja, das ist der Scheiss an der Ich-Erzählung. Aus einer anderen Perspektive hättest du erzählen können, wie Michail so langsam drauf kommt. Das kannst du hier im Dialog aus guten Gründen nicht tun, wer will schon eine langfädige Erklärung lesen.
Aber ja, so geht mir das zu schnell. Es geht ja nur um eine Lüge, da könnten verschiedene Motive dahinterstehen, da müssten mehr Hinweise auf eine Beziehung mit Angelika da sein, meiner Meinung nach.

Angelika, Angelika, nein, nein, nein, dass kann nicht sein, das kann alles nicht sein, dass ich –

das

Ich nenne nochmal meine drei Vorbehalte:

Der Grund, weshalb Angelika bei Andrej bleibt, bleibt unklar – bis zum Ende. Das könntest du vorher mal leise ansprechen.

Dass Michail einen allein in den Wald schickt, um einen Deal abzuwickeln, erscheint mir weiterhin unplausibel.

Die Aufdeckung durch Michail kommt mir zu schnell.

Insgesamt ein wirklich guter Text, zigga. Hab ich mit Spannung gelesen. Ich denke der Schlüssel ist, dass du nicht nur auf der Handlungsebene erzählst, sondern auch die Sehnsüchte, Wünsche, Bedürfnisse Andrejs immer mitschwingen lässt, das macht die Sache wirklich besonders. Ich finde, der Text stellt gegenüber der Sache mit den Gaspistolen, der ja auch schon sehr gut war, einen Fortschritt dar.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hi gibberish,

sorry für die späte Antwort. Habe deinen Kommentar aber gleich nach dem Einstellen gelesen, und mich sehr darüber gefreut.

Diese Kurzgeschichte werde ich so schnell nicht vergessen, das ist sicher.
fett!

Am Anfang muss man erstmal reinkommen in deinen Stil, der so dicht am Charakter ist, stellenweise so wirkt, als hättest du die Gedanken des Prota ungefiltert aus seinem Schädel niedergeschrieben, aber nach einem Absatz wurde ich vom Sound eingesogen, und dann habe ich einfach immer weitergelesen und weitergelesen.
super

Der Prota ist dir wirklich grandios gelungen, sehr facettenreich, einfach nur menschlich. Arme Sau, Verliebter, Träumer, Künstler - so viel, mit dem sich verschiedenste Leser identifizieren können. Der Andrej ist einfach sympatisch und man will, dass er bekommt, was er sich ersehnt.
Das hast du wirklich ausgezeichnet gemacht, zigga, da gibt's nichts. Spannend und intensiv von Anfang bis Ende.
ich freue mich, dass das geklappt hat bei dir.

Und du hast das echt drauf, diese Stories über Russen, kriminelle und verträumte. Erinnert mich an deine Gaspistolen-Geschichte, da gibt's ein paar Parallelen, wenn ich mich richtig erinnere.
Ja. Das ist so eine 12.0-Version von der Gaspistolen-Geschichte ... Ich habe da die Grundkonstellation geliebt, aber irgendwie war ich nie ganz zu 100% zufrieden mit der Geschichte, deswegen habe ich sie jetzt noch mal komplett neu aufgerollt. Ich finde sie jetzt irgendwie besser, organischer, näher dran und auch origineller. Sie kann mehr packen, emotional gesehen - ist zumindest mein Eindruck. Aber ja, es gibt noch 2, 3 gleiche Szenen, obwohl es ja eigentlich eine eigenständige, neue Geschichte mit neuen Figuren und neuem Plot ist.

So eine richtige zigga-Story eben. Und man merkt, du fühlst dich wohl darin.
Ja, ich mags schon, wohlfühlen, ich weiß nicht, ob das der richtige Ausdruck für diese Art von Geschichte ist! :D

Was wäre ein uneingeschränktes Lob bei den wk-lern ohne Peanuts:
Das gibts immer :p Aber deswegen poste ich ja meine Sachen hier. Kritik!

Als ich Angelika das erste Mal gesehen habe, hatte ich das Gefühl, aufzuwachen.
Ein bisschen viel haben, zumal du im Satz davor auch noch zwei Mal hätte drin hast. Vielleicht klingt das etwas besser: Als ich Angelika das erste Mal sah, hatte ...
Du hast recht

das Blut gesehen habe – Blut an der Wand, Blut auf dem Teppichboden, Blut an der Haustüre.
So habe ich Angelika kennengelernt.
Den letzten Satz würde ich hier rausnehmen
Ja ... ich überlege es mir mal

Mehmet’s Späti
Ist der falsche Apostroph hier Absicht?
Ist Absicht! Ich habe noch nie gesehen, dass solche Läden den Genitiv richtig benutzen würden bei ihrem Namen. Ja, rein optisch schaut das so schicker aus, da kann ich sie schon verstehen ... also das muss so falsch geschrieben sein in dieser Story, finde ich

dumpfe Klatschen, fast wie der Knall eines Peitschenhiebes oder wie man sich als Kind den Schuss einer Pistole vorstellt, bloß mit Watte in den Ohren.
Also das kann ich mir jetzt nicht genau vorstellen. Ich würde hier auch nur einen Vergleich nehmen, also Pistole oder Peitsche. Dann wäre das Bild klarer, präziser.
Du hast wieder recht.

Dann hast du manchmal Apostrophe beim Imperativ. Hier zum Beispiel:
»Würg’ mich!«
Ist natürlich kein Fehler, aber den kann man auch weglassen.

Meinst du: Wie der Typ in diesem Haus tickt?
Nein, "ticken" ist ein Synonym zu "dealen". Da sind jetzt schon mehrere drübergestolpert. Prot fragt sich hier, wieso der Deutsche dealt, er kann es ja schlecht wegen dem Geld machen, das ihm dringend fehlt

War das nicht vorgestern? Gestern Nacht war er doch bei dem Deutschen zuhause, oder?
Mann, gut aufgepasst!! :D Zehntausendmal drübergelesen, also ich, und habs nie bemerkt. Chapeau!

Das war's auch schon. Ganz großes Kino, zigga, Hut ab. Und obwohl diese Geschichte recht lang war, habe ich das kaum bemerkt, so gefesselt war ich vom Klang und der Atmo und der Spannung. Ganz ehrlich, davon würde ich auch 200, 300 Seiten weglesen. Meinen Respekt.
Supergeil, danke dir, und ich freue mich wie ein Schnitzel. 200 Seiten ... ja, das ist so die Richtung, auf die ich Bock habe, mal eine längere Erzählung, mit der ich richtig zufrieden bin ... kommt schon irgendwann, hoffe ich. Haut ja nicht jeder einen 600seitigen Epos raus, so wie du! :D

Danke dir vielmals, gibberish, fürs Lesen, Kommentieren und Vorschlägesagen. Ich werde da definitiv noch mal fein drüberarbeiten, und deine Vorschläge mit einbauen.

Hallo Peeperkorn,

Mann, was für ein Kommentar! Das ist eine sehr feine und kluge Analyse, vielen Dank dir, v.a. auch für die zahlreichen Verbesserungsvorschläge. Ist wirklich sehr, sehr viel Input, ich muss das erst mal sacken lassen, einige Dinge habe ich schon vor ein paar Tagen umgesetzt, bei anderen muss ich noch überlegen, wie ich das anstelle. Ist wirklich sehr, sehr viel, dafür bin ich dir auch sehr dankbar, ich hoffe, das ist okay, wenn ich sage: Ich habe jeden Vorschlag aufmerksam durchgelesen, mir meine Notizen gemacht und bei meiner Überarbeitung wird da auf jeden Fall einiges von dir mit einfließen. Gerade Streichungsvorschläge deinerseits, wenn ich etwas "überladen" formuliert habe, da habe ich bereits gekürzt. Manchmal ist weniger wirklich mehr, und der Satz zündet dann besser. Floskeln, da sind noch die letzten Nachwehen von floskelartigen Beschreibungen drinnen, die werden auch getilgt.

Zur Gesamtkritik:

Ich nenne nochmal meine drei Vorbehalte:

Der Grund, weshalb Angelika bei Andrej bleibt, bleibt unklar – bis zum Ende. Das könntest du vorher mal leise ansprechen.

Hmm ... ja, mal sehen, wie und ob das geht. Ich könnte sie verheiratet oder verlobt machen. Weißt du, bei Russen ist das oftmals so, die ticken in Sachen Beziehungen auch anders als Deutsche ... also obwohl die beiden relativ jung sind, wenn sie bereits zusammenwohnen und jeder seine Arbeit hat, klar kommt es da vor, dass sich solche noch mal trennen ... aber oft bleiben sie zusammen, weil es sich halt gehört, weil man eben zusammen ist. Ich weiß gerade auch schlecht, wie ich das beschreiben soll. Eine Beziehung bedeutet da sehr viel, mit jemandem zusammensein auch. Da kennen sich die Eltern, alles ist viel enger und auch konservativer als bei den liberalen Deutschen, wo es fast ganz natürlich ist, sich mit 22, 23 noch mal zu trennen, und wieso auch nicht mit 27, 28 noch mal, war halt nicht der Richtige, ist schon okay. Ja, gerade auch Typen wie Michail, ich denke, Angelika wird wissen, wie er durchdrehen kann, wenn sie ihn verlassen will, und zu was er im Stande sein könnte.

Dass Michail einen allein in den Wald schickt, um einen Deal abzuwickeln, erscheint mir weiterhin unplausibel.
Finde ich ehrlich gesagt nicht. Das ist ja nicht wie in einem Hollywood-Drogen-Film, wo dann die italienische Mafia eine Übergabe macht etc. Die Kids dealen untereinander. Andrej ist ja praktisch ein billiger Postbote für Michail, weil er einfach nur abkassieren will, und er vertraut ihm, und je mehr er da involvieren würde, desto unsicherer wäre es auch für Michail gegenüber seinen "Leuten", die er da losschickt ... so sehe ich das zumindest. Ein Deal geht oft so zustande, dass einer kommt und was bringt, auch, wenn da 2, 3 Leute auf ihn warten. Also ich will jetzt nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber das läuft schon so ab. Allermeistens passiert da auch nichts, niemand will Stress mit einer anderen Gruppe oder Individuen, wo man weiß, da brockt man sich nur Ärger ein. Aber eben nicht immer, es gibt Irre, die, wenn sie glauben, sie seien in der stärkeren Position, dann schon mal abziehen können. So wie das hier passiert ist

Die Aufdeckung durch Michail kommt mir zu schnell.
Ja, das sehe ich auch als einen Schwachpunkt. Es kommt einen Tick zu schnell, wobei das vom Organischen her noch geht, finde ich. Ist natürlich auch ein Perspektivenproblem. Ich habe mir vorgestellt, dass Michail der Gedanke, dass Andrej ihn abgezockt haben könnte, weiter in ihm gekreist hat, deswegen hat er sich nach dem neuen Urteil erkundigt, und dann ist die Paranoia durchgebrannt was Angelika angeht, und dann hat eines zum anderen geführt ... aber ja, ist ein Kritikpunkt, sehe ich auch so, ich bin nicht perfekt! :D

Insgesamt ein wirklich guter Text, zigga. Hab ich mit Spannung gelesen. Ich denke der Schlüssel ist, dass du nicht nur auf der Handlungsebene erzählst, sondern auch die Sehnsüchte, Wünsche, Bedürfnisse Andrejs immer mitschwingen lässt, das macht die Sache wirklich besonders. Ich finde, der Text stellt gegenüber der Sache mit den Gaspistolen, der ja auch schon sehr gut war, einen Fortschritt dar.
Super. Danke auch dir fürs Lesen, Kommentieren, die viele Vorschläge, das wird den Text noch mal auf Hochglanz polieren. Merci!


Gruß
zigga

 

Hallo zigga

ich hoffe, das ist okay, wenn ich sage: Ich habe jeden Vorschlag aufmerksam durchgelesen, mir meine Notizen gemacht und bei meiner Überarbeitung wird da auf jeden Fall einiges von dir mit einfließen.

Ja, klar.

Ein Deal geht oft so zustande, dass einer kommt und was bringt, auch, wenn da 2, 3 Leute auf ihn warten. Also ich will jetzt nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber das läuft schon so ab. Allermeistens passiert da auch nichts, niemand will Stress mit einer anderen Gruppe oder Individuen, wo man weiß, da brockt man sich nur Ärger ein. Aber eben nicht immer, es gibt Irre, die, wenn sie glauben, sie seien in der stärkeren Position, dann schon mal abziehen können. So wie das hier passiert ist

Wieder was gelernt. :D

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Haha maria.meerhaba,

das mit dem Ende tut mir jetzt aber echt leid. (nicht :D) Nein Spaß. Also weißt du, für mich war das echt nie ein offenes Ende. Ich hasse offene Enden nämlich auch und für mich ist eine gute Geschichte eine, die zum Schluss alles schön zusammenführt und mich mit einem befriedigenden Gefühl zurücklässt.
Ich muss für meine Erklärung evtl. ein bisschen ausholen: Das ist der erste Teil einer Episodengeschichte, die ich eigentlich schreiben wollte. In der nächsten Story sollte der Ich-Erzähler der Cousin vom erschlagenen Deutschen sein, und dort kommt dann auch ganz klar raus, was mit Andrej und Michail im Wald passiert ist. Das ist jetzt unschön, dass ich den Gedanken an die Episodensache gekickt habe, also dass ich das ins Forum lade, weil es jetzt tatsächlich wie ein offenes Ende aussehen kann (und für viele auch aussieht).
Aber für mich war das eigentlich (abgesehen von der Episoden-Sache) nie ein offenes Ende, weil ich mir beim Schreiben immer sicher war, dass ich hier eine Szene schreibe, in der Andrej erschossen wird. ER IST TOT!! :D Ich dachte mir nur beim Schreiben: Wie will ich, ohne die Perspektive zu brechen (also auch kein rangehängter Zeitungsartikel oder ähnliches ganz zum Schluss) beschreiben, wie jemand stirbt? Wenn Andrej in Kapitel 17 sterben würde, dann sähe das alles für ihn genau so aus, wie ich es hier dem Leser gezeigt habe, finde ich. Er sieht Michail vor sich stehen, mit der Knarre, dann hat er diese Gedanken, und - nimm mal an, ich, zigga, habe kein Bock auf ein offenes Ende - dann läuft der Tod Andrejs doch genau so ab, oder? Er hat diesen Gedankenstrom, liegt auf dem Waldboden, Michail mit der Knarre über ihn - und wenn man die Perspektive nicht bricht und man nicht an ein Paradies oder ein weißes Licht oder wasauchimmer glaubt, dann müsste der Gedankenstrom doch einfach plötzlich abbrechen, und Ende (also, wenn er erschossen wird und sofort tot ist), oder?
Ich will das gerade nicht rechtfertigen, aber weil ich offene Enden genauso hasse wie du und ich hier beim Schreiben eigentlich echt nie daran gedacht habe, dass ich gerade dabei sein könnte, so ein super kunstvolles offenes Ende zu schreiben, ärgert mich das gerade schon (also ich ärger mich über mich selbst), dass man das ja echt durchaus als offenes Ende lesen kann. Ich wollte auf jeden Fall was Geschlossenes, ich werde das irgendwie hinbiegen, mal sehen wie. :D

haha, ich hätte fast ziggs geschrieben, du weißt schon, die eine Figur aus dem Spiel LoL
sorry, ich bin echt kein Zocker, kenne ich nicht! :D

Ich bin neugierig ziggs, bist du auch einer mit Migrationshintergrund oder befasst du dich gerade mit den ganzen Tschuschen (ich darf das, bin ja zur Hälfte auch eine)? Ist reine Neugierde, denn das hier machst du richtig gut, so wie die Geschichte mit Noah. Du blickst in die Seelen der Ausländer der Unterschicht und bringst sie gekonnt aufs Blatt. Keine Ahnung, ob du Erfahrung mit denen hast, live gesehen hast, oder du dich einfach am Spektrum des Internets bedienst.
Also ich bin Deutscher mit einem so unbedeutendem Migrationsanteil, dass das gar nicht ins Gewicht fällt. Aber ich hatte immer viele Freunde und Bekannte mit "Migrationshintergrund", die Welt und "Szene" ist mir jetzt nicht fremd. Aber es geht mir nicht primär darum, irgendetwas mit Migrationshintergrund zu schreiben. Das ist mir eigentlich egal. Wenn mir ein guter Plot und gute Figuren mit einem Deutschen, Österreicher oder Dänen einfallen würde, dann hätte ich genauso Bock drauf. Ich finde halt, dass so ein Andrej oder Noah einfach ein schönes Konfliktpotential haben, und sie interessieren auch, sind spannend. Darum gehts mir.

Ja, manch einer wird sicher darüber meckern, dass das schon wieder so eine lowlife Geschichte aus dem Ghetto ist, aber das ist total egal.
Sehe ich auch so. Mittlerweile finde ich sogar, wenn man mal ein Jahr extrem viel Output über ein bestimmtes Thema hat, und dann 4, 5 Geschichte schreibt, die in der Prämisse ähnlich sind, dann ist das absolut nicht falsch. Schlechtestensfalls hat man 5 ähnliche Geschichten, von denen man sich irgendwann mal die beste herauspicken und was mit anstellen kann.

Ich kann die Geschichte nur loben, du hast da vieles richtig gemacht.
Kapitel 1 bis Kapitel 16: Gern gelesen, tolle Geschichte, Spannungsbogen super gemacht, die Figuren toll, nichts wirklich zum Meckern. Empfehlenswert.
Freut mich auf jeden Fall, dass dir die Geschichte sogar besser als den deutschen Noah gefallen hat! Wirklich. Ja, das Ende. Ach Mann! :D Wie gesagt, für mich war es eigentlich kein offenes Ende, für mich war es ein stringentes Erzählen aus der Ich-Perspektive einer Person heraus, die zum Schluss erschossen wird. Aber ja, man kann es anders lesen, ohne den Kontext der "Episodengeschichte". Ich werde mir etwas überlegen.

Die Geschichte hat mich beeindruckt, das sagt meine Wut darüber.
Super!

Und ja, das erste Kapitel, da muss ich auch noch drübergehen. Ich habe übrigens die Vergangenheit absichtlich mit Hilfsverb ausgestattet, weil sich das für mein Empfinden damals authentischer angefühlt hat (würde ein Typ wie Andrej wirklich "»Podaschditye«, sagte ich, dann zog ich mir die Kopfhörer runter und bückte mich." sagen? Aber ja ... es ist nicht ganz 100%, da werde ich auch noch drüberarbeiten, danke für den Hinweis.)

Hab ich irgendwas vergessen?! :D

Danke dir fürs Lesen, Kommentieren, alles, du weißt schon, Meryem, merci.


zigga

 

So maria.meerhaba,

weil ich den ganzen Tag darüber nachgrübeln musste, dass ich ja eigentlich gar kein offenes Ende wollte, habe ich es jetzt umgeschrieben. Dürfte jetzt alles klarer sein, was passiert. Danke für den Arschtritt. :D

Gruß
zigga

 

Hi zigga,

das ist ein krass guter Text. Du kriechst tief in deine Figur rein, ich sehe den vor mir, nervös, unsicher, voller Emotion, ich spüre, was er spürt, nehme wahr, was er wahrnimmt. Und ich verstehe sein Leben, insofern er es selbst versteht und das obwohl ich seine Welt nicht kenne. Das hat dann was voyeuristisches, erlaubt einen Blick in den Dreck, in die Verletzungen, in all das, was ihn bewegt.

Ich finde nicht viel, was ich kritisieren kann. Der Text ist ausgewogen, sprachlich harmonisch, hat Zug und – er ist konsequent, weicht nicht aus, schreckt nicht dort zurück, wo es weh tut. Trotz der Länge bin ich drin geblieben, die Intensität bleib gleich hoch in jedem Moment. Der stärkste Text, den ich von dir gelesen habe, absolut. Die Dialoge sind klasse, natürlich, alles fein.

Ein paar stilistische, bzw. plot-technische Kleinigkeiten will ich dennoch anmerken. Der Text ist atemlos, schnell, passiert in kurzer Zeit ziemlich viel. Ob man nicht einen Ausgleich braucht, ob es gut wäre, paar langsamere Passagen reinzubringen. Wie bei einem klassischen Musikstück, einen langsamen Mittelteil. Warum rammeln er Angelika wie ein Karnickel, warum ist da nicht mehr Zärtlichkeit, spürbare Sehnsucht. Das hat ja was manisches, auf dem die Gewichtung liegt, das Depressive, Stille fällt dagegen zurück. Ist nur so ein Gedanke.

Manchmal habe ich das Gefühl, so richtig aufzuwachen, ich kann das nicht anders beschreiben – dann fühle ich mich für zehn, zwanzig Sekunden so, als hätte ich mein ganzes Leben über geschlafen, als hätte ich die ganze Zeit in einem großen, verfickten Tagtraum gelebt.
super Anfang, super for-shadowing, aber hältst du das, was du da andeutest, wacht er wirklich auf? Überhaupt: das habe ich bei einem anderen Text schon gesagt: bisschen oft wiederholtes for-shadowing, dennoch gut gemacht.
Kaum höre ich den Knall, wirft es mich schon auf den Rücken, der Himmel über mir; oh Gott, mein Kopf, er tut so –
Mir ist so kalt, so kalt, und Angelika, –
am Ende ist ihm nur kalt, wacht er auf?
Wie gesagt, zigga, weiter so, das ist der richtige Weg, und wenn du jetzt noch den einen oder anderen Charakter einbauen würdest, der nicht aus Szene stammt, der „normaler“ ist, dann wäre eine neue Stufe erreicht. Das war’s erst mal, ist halt ein saulanger Text, vielleicht schaffe ich es noch tiefer in den Text reinzugehen, irgendwann. :Pfeif:

Liebe Grüße
Isegrims

 

Peace Isegrims!

Größten Dank fürs Lesen, Kommentieren, Gedankenmachen, ist ja, wie du schon bemerkt hast, echt ein arschlanger Text. Aber da hatte ich Bock drauf, und ich freue mich über jeden Leser, der da durchgekommen ist! :)

das ist ein krass guter Text. Du kriechst tief in deine Figur rein, ich sehe den vor mir, nervös, unsicher, voller Emotion, ich spüre, was er spürt, nehme wahr, was er wahrnimmt. Und ich verstehe sein Leben, insofern er es selbst versteht und das obwohl ich seine Welt nicht kenne. Das hat dann was voyeuristisches, erlaubt einen Blick in den Dreck, in die Verletzungen, in all das, was ihn bewegt.
Das freut mich sehr, super, merci!

Ich finde nicht viel, was ich kritisieren kann. Der Text ist ausgewogen, sprachlich harmonisch, hat Zug und – er ist konsequent, weicht nicht aus, schreckt nicht dort zurück, wo es weh tut. Trotz der Länge bin ich drin geblieben, die Intensität bleib gleich hoch in jedem Moment. Der stärkste Text, den ich von dir gelesen habe, absolut. Die Dialoge sind klasse, natürlich, alles fein.
Krass, das freut mich natürlich noch mehr. Bester Text, ja, gut möglich, ich mag die Geschichte jedenfalls selbst sehr gerne!

in paar stilistische, bzw. plot-technische Kleinigkeiten will ich dennoch anmerken. Der Text ist atemlos, schnell, passiert in kurzer Zeit ziemlich viel. Ob man nicht einen Ausgleich braucht, ob es gut wäre, paar langsamere Passagen reinzubringen. Wie bei einem klassischen Musikstück, einen langsamen Mittelteil. Warum rammeln er Angelika wie ein Karnickel, warum ist da nicht mehr Zärtlichkeit, spürbare Sehnsucht. Das hat ja was manisches, auf dem die Gewichtung liegt, das Depressive, Stille fällt dagegen zurück. Ist nur so ein Gedanke.
Ja, das ist ein Gedanke wert. Ich bewundere das selbst immer wieder, wenn ich Erzählungen/Romane lese, in denen mir das richtig auffällt, wie toll komponiert da alles ist: wechselnde Geschwindigkeiten, Auf und Abs, "langsamere" und "schnellere" Passagen - wie ein gutes Album eben. Hier drücke ich klar auf die Tube, es gibt auch ein paar langsamere Szenen, wie bspw. Peeperkorn es einen guten Einstieg mit der Bett-Szenen mit Angelika fand, gerade, weil die Szene wohl eine der ruhigeren und intimeren Szenen im Text ist. Ja ... muss ich mal drüber nachdenken. Ich bastel eh so permanent an allen möglichen (älteren) Texten von mir herum, an dem hier werde ich sicherlich auch noch eine Weile rumdoktern und ausprobieren. Groß einfügen oder weglassen ist halt schwierig, wenn man einmal als Autor das Gefühl hatte, der Text ist rund, und die Leser mögen ihn. Aber so Kleinigkeiten ... ich werde es im Hinterkopf behalten, wenn ich drübergehe, danke für die Einschätzung!

Manchmal habe ich das Gefühl, so richtig aufzuwachen, ich kann das nicht anders beschreiben – dann fühle ich mich für zehn, zwanzig Sekunden so, als hätte ich mein ganzes Leben über geschlafen, als hätte ich die ganze Zeit in einem großen, verfickten Tagtraum gelebt.
super Anfang, super for-shadowing, aber hältst du das, was du da andeutest, wacht er wirklich auf? Überhaupt: das habe ich bei einem anderen Text schon gesagt: bisschen oft wiederholtes for-shadowing, dennoch gut gemacht.
Zitat Zitat von zigga Beitrag anzeigen
Kaum höre ich den Knall, wirft es mich schon auf den Rücken, der Himmel über mir; oh Gott, mein Kopf, er tut so –
Mir ist so kalt, so kalt, und Angelika, –
am Ende ist ihm nur kalt, wacht er auf?

Mhm, also ich hab das anders gemeint ... ist nicht so 100% ausgedrückt, was ich genau meine, der Prot meint ja selbst, er kann es schwer beschreiben, und mir geht es leider genauso! :D Also ich meinte nicht, dass Andrej im Text selbst aufwacht oder dass er am Ende der Geschichte "aufgewacht" sein wird ... ich persönlich habe bloß manchmal so ein komisches Gefühl in manchen Momenten, da habe ich plötzlich das Gefühl, dass alles auf einmal sehr real ist, und dass ich in irgendeiner Art und Weise in diesen kurzen Momenten "aufwache", und ich mir denke, krass, soundso bist du, dort wohnst du, und dann kommen mir die letzten Wochen, Monate, Jahre, in denen man funktioniert und Alltag hat und alles, da kommt mir das kurz so vor, als ob ich eben wie ein Tagträumer in diesem "Traum" funktioniere ... ja :D Hört sich vllt bisschen zu spacey an. Ich meinte kurzum, Andrej hat kurz dieses Gefühl, aufzuwachen, als er Angelika das erste Mal sieht. Weiter hat der Satz eig für mich keine Bedeutung, und er stellt auch keinen Bezug zum (möglichen) Ende dar, kann gut sein, dass ich das nicht ganz korrekt wiedergegeben habe im Text.

Wie gesagt, @zigga, weiter so, das ist der richtige Weg, und wenn du jetzt noch den einen oder anderen Charakter einbauen würdest, der nicht aus Szene stammt, der „normaler“ ist, dann wäre eine neue Stufe erreicht. Das war’s erst mal, ist halt ein saulanger Text, vielleicht schaffe ich es noch tiefer in den Text reinzugehen, irgendwann.
Super, wie gesagt, hab mich sehr gefreut, Isegrims, toll, dass du bis zum Ende durchgehalten hast und dir das Teil so gut gefällt. Freut mich wirklich. Und ja, Alltäglicheres, das hast du mir glaube ich schon mal unter Rauschen oder so geschrieben, dass du dir das wünschst oder halt auch gut finden würdest :D Da geht die Reise auf jeden Fall auch noch hin ... ich finde im Moment diese Themen spannend, und ich glaube, es wäre falsch, diesen Output kleinhalten zu wollen, weil man zwanghaft über verschiedene Themen schreiben will ... Wenn die richtige Zeit gekommen ist, dann hab ich bestimmt auch gute Ideen zu alltäglicheren Geschichten!

Also guten Abend dir noch,
Gruß,
zigga

 

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