Was ist neu

Die Frau vom Fluss

Mitglied
Beitritt
05.10.2016
Beiträge
264
Zuletzt bearbeitet:

Die Frau vom Fluss

Das Wasser kam ruhig, fast gemächlich daher, wie ein alter Bekannter, den man unvermutet trifft und nach dem man sich verwundert umdreht, weil man nicht damit gerechnet hat, ihn an einem ungewohnten Ort zu sehen. Es kam auf die Ortschaft zu und hielt sich nicht an Abgrenzungen, an Straßenmarkierungen, an Wegweiser. Auf breiter Front kroch es der Siedlung entgegen, füllte Keller, flutete Hausgänge, hob mit sanfter Gewalt Heizölkessel in die Höhe, dass die Rohrleitungen abrissen und sich der giftige Inhalt in die schlammige Flut mischte. Unter verschlossenen Türen hindurch suchte es sich in leisen Wirbeln seinen Weg, um dann unnachgiebig Zimmer für Zimmer zu überschwemmen und Böden, Teppiche, Schränke, Klaviere und Bücher zu durchtränken. Nach drei Tagen zog es sich wie ein erschöpftes, weidwund geschossenes Tier, das mit seiner Kralle durch die Landschaft gefahren war, in das Flussbett zurück und gab den Blick frei auf ein heilloses Chaos aus Gerümpel, das auf den Straßen und Wiesen, die das Dorf umgaben, verteilt lag. In schlierigen Pfützen spiegelte sich die Sonne in schillernden Regenbogenfarben, und mit den sommerlichen Temperaturen stieg allmählich ein stinkender Dampf aus Öl und Fäulnis zwischen den Häusern auf. Hinter der letzten Hofstelle der Ansiedlung, die an die Dammwiesen und Auwälder grenzte, fand man die Leiche einer Frau mit dem Gesicht im Schlamm liegend, die Hände in den Boden gekrallt, als hätte sie sich eingraben wollen. Die Mannschaft der Spurensicherung war vor Ort und untersuchte die aufgeweichte Erde. Der Kriminalbeamte warf einen routinierten Blick auf den umgedrehten Leichnam und meinte trocken: “Ich denke, dass wir Fremdeinwirkung ausschließen können. Das scheint eine klare Sache zu sein.“

Gerne hätte sie den Geburtstag unter den Obstbäumen hinter dem Haus gefeiert, den Blick auf den nahen Damm, die Wiesen und das ferne Gebirge. Aber es hatte zwei Wochen ununterbrochen geregnet. Kleine Bäche und Rinnsale, die in den Fluss mündeten, schwollen zu beträchtlichen Strömen an und ließen den Pegel bedrohlich bis an die Kante des Damms steigen. „Schön, dass wenigstens der Herr Bürgermeister kommt, in diesen gefährlichen Zeiten“, begrüßte sie einen der wenigen Gäste, obwohl sie im Grunde froh war, nicht mehr Leute aus dem Dorf bewirten zu müssen.
„Gefährlich könnte es werden“, antwortete er, reckte dabei den Zeigefinger in die Höhe und folgte ihr durch den Hausgang in die Küche, wo ihre Tochter Angela den Kaffeetisch gedeckt hatte. „Die Deiche sind aufgeweicht, das weißt du, die Wache geht jetzt Tag und Nacht. Wenn irgendwo ein Riss, nur ein ganz kleiner entdeckt wird, ist sofort Evakuierung. Sofort Alarm. Danke dir, Angela. Schön, dass du wenigstens da bist.“ Er hielt ihr die Kaffeetasse auf dem Unterteller entgegen, der in seiner zittrigen Hand klapperte.
„Wenn Mama siebzig wird, wie kann ich da nicht da sein?“, antwortete sie. Mit kurzen Schlucken schlürfte er an der Tasse und sagte: „Natürlich, entschuldige. Ich bin eben besorgt, besorgt, um das Dorf, den Ort, deine Mutter.“
„Um mich mach dir mal keine Gedanken, Bürgermeister“, warf sie jetzt ein. „Es wird nichts sein. Ich kenne doch den Fluss, es wird nichts geschehen“. Sie strich die Tischdecke glatt und richtete den Blick aus dem Fenster auf den Damm. „Wir sitzen hier unter dem Wasserspiegel, und das Grundwasser steht schon zwischen den Obstbäumen. Aber es wird gut, du wirst sehen.“
„Ja, du und dein Fluss“, winkte er ab. Ja, sie und ihr Fluss. Jeder wusste doch, dachte er, dass die Zeichen am Ufer von ihr stammten: Zweige, die in Kreisen gelegt waren, Steinpyramiden, Muscheln, in den Sand zu geheimnisvollen Mustern gesteckt. Und jeder wusste, dass sie oft vor Sonnenaufgang barfuß durch das taunasse Gras am Wasser entlangging, manchmal nur in ein Nachthemd gekleidet, und die morgendlichen Fischer aus dem Dorf mit ihrer geisterhaften Erscheinung erschreckte. ‚Frau vom Fluss‘ nannte man sie mit einer Mischung aus Respekt und Misstrauen.
In Gedanken griff der Bürgermeister nach der halbvollen Tasse und stieß sie um. Die Tischdecke färbte sich dunkelbraun und ein Rinnsal von Kaffee tropfte auf seine Hose. „Herrgott“, rief er, „wenn das mal kein Omen ist!“ Angela kam gleich herbei, tupfte ihn mit dem Geschirrtuch ab und ihre Mutter klopfte ihm beruhigend auf den Arm: „Nur nicht nervös werden, Bürgermeister. Kaffee ist Kaffee und Wasser ist Wasser.“
„Wie du meinst. Ich muss jetzt sowieso weiter“, sagte er hastig, stand auf und ging zur Tür. „Vielen Dank für den Kaffee und hoffen wir das Beste“, rief er ihr noch zu, hielt dabei die geballten Fäuste hoch und drückte die Daumen zusammen. „Und noch schöne Grüße von der Leni soll ich sagen.“
„Von der Leni“, rief sie lächelnd zurück, aber das hörte er schon nicht mehr. Versonnen blieb sie in der Haustür stehen.

So lange war das her. Ein Kind war die Leni damals noch. Und sie selbst war dreißig Jahre alt, eine Geächtete im Dorf, bei der die Bewohner die Straßenseite wechselten und den Kopf wegdrehten, wenn sie ihr begegneten. Vor der sie gerade nicht ausspuckten. Vor ihr, bei der alle Männer abblitzten, und die sich dann ein italienisches Bankert anhängen ließ. Beim Tanzen zeigte sie doch den Burschen vom Dorf die kalte Schulter und dann fällt sie auf den Itaker herein, der jedem Mädchen schöne Augen machte, dass man im ganzen Dorf wusste, worauf er aus war, auf ein schnelles Abenteuer und dann schnell aus dem Staub. Das kennt man doch. Das weiß man doch. Das riecht man doch gegen den Wind, was so einer will. Und von dem, ja, von dem lässt sie sich ein Kind machen. Recht geschieht es ihr, sagten die Leute damals, als hätten wir im Dorf nicht anständige Burschen. Zu schön ist sie sich, zu besonders. Und jetzt sitzt sie da mit ihrem Bankert, dem italienischen.
Und dann kam der Sommertag, an dem sie mit der kleinen Angela am Strand spazieren ging und einen Schrei aus der Flussmitte hörte. Und da lässt sie die Angela einfach stehen und springt, ohne zu überlegen in den Fluss und schwimmt auf das Mädchen zu, auf die Leni, die in einem Strudel zu ertrinken droht. Sie packt die Leni und schreit sie an: „Halt dich an mir fest. Und wenn ich sag: Luft anhalten, dann hältst du sie an.“ Und die Leni schlägt um sich und plärrt. Und sie flüstert ihr ganz ruhig ins Ohr: „Halt still, wehr dich nicht. Wir lassen uns jetzt runterziehen auf den Grund. Und jetzt halt die Luft an.“
Und dann verschwinden beide aus Angelas Augen, die vom Ufer aus zusieht, gemeinsam mit den Leuten, die herbeigerannt kommen. Vier, fünfmal drehen sie sich kopfüber im Strudel, werden durcheinandergewirbelt wie in einem Tornado, einem Tornado aus Wasser und dann spürt sie den Grund und fasst in den Sand. Der Wasserkreisel ist jetzt ganz klein und sie kann mit den Füßen festen Halt finden und stößt sich mit aller Macht seitlich vom Strudel weg. Sie taucht mit der Leni im Arm aus dem Wasser auf, ringt nach Atem, schreit und lässt sich hinuntertreiben zu der Sandbank, wo das Wasser ganz flach ist, und trägt die bewusstlose Leni auf beiden Händen durch die Leute hindurch, die zur Sandbank gelaufen sind und eine schweigende Gasse bilden, weil sie gar nicht fassen können, was da gerade passiert. „Ja, helft ihr doch!“, schreit die Bruckbäuerin in die Stille hinein. Als wären sie aus der Winterstarre aufgetaut, stürzen jetzt alle auf die beiden zu und wärmen sie.
Seitdem war nie mehr von einem Bankert die Rede, niemand traute sich jemals mehr, sie schief anzusehen. Und bis auf ihre alten Tage nickte sie, wenn sie die Bruckbäuerin in der Kirche oder im Laden sah, anerkennend mit dem Kopf, weil sie ihren Ruf nie vergaß, ihr ‚Ja, helft ihr doch‘, das die Kluft zwischen ihr und den Dorfleuten verringert hatte. Verringert, aber keineswegs getilgt. Ihre Nähe suchte sie von da an nicht, aber mit Lenis Rettung war auch ihre Angst verschwunden. Sie fürchtete sich vor nichts mehr und schon gar nicht vor dem Wasser, vor dem Fluss, den sie ohnehin schon immer als ihren Verbündeten empfand.

So stand sie also in der Haustür, dachte an die Leni und schaute dem Bürgermeister nach, wie er hastig in seinen Wagen stieg und mit durchdrehenden Reifen aus dem geschotterten Hof hinausfuhr, dass die Steine flogen. Sie schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging langsam in die Küche, wo Angela mit dem Geschirr beschäftigt war und Ordnung machte. „Mama, ich bin dann fertig hier. Ich glaub, ich fahr jetzt dann allmählich. Meine Sachen hab ich schon gepackt.“ Sie zeigte auf die Reisetasche, die im Flur stand.
„Ja, ich dank dir recht schön für Deine Hilfe. Es war ja zum Glück nicht viel Aufwand.“ Sie strich ihr über die Wange und Angela legte die Hand auf die ihrige und sagte: „Hat dir aber eh gepasst, oder? Bist ja doch nie eine von denen geworden.“ Mit dem Kopf zeigte sie in Richtung Dorf und fügte dann noch hinzu: „Hättest vielleicht doch mit mir in die Stadt ziehen sollen. Aber ich weiß schon, was dich hier gehalten hat.“
„Ja, das weißt du doch“, entgegnete sie, nahm die Hand ihrer Tochter zwischen ihre Hände und sagte: „Ist doch noch alles gut geworden, alles gut. Und sag deinem Mann einen schönen Gruß. Ist er schon ein Guter?“
„Der Beste, den man sich denken kann, Mama. Pass auf dich auf.“
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und ging durch die noch offen stehende Tür, die ebenerdig auf den Hof hinausführte, zu ihrem Wagen. Im selben Moment läutete das Telefon in der Küche. Sie sah ihre Mutter noch kurz winken und dann schnell im Haus verschwinden, startete den Motor und fuhr davon.

Sie nahm den Hörer ab. Es war der Bürgermeister.
„Jetzt ist es so weit. Ein Riss im Damm, oberhalb der Ortschaft. Alles wird evakuiert, in einer Stunde muss das Dorf leer sein.“
„Ein Riss muss nichts heißen, Bürgermeister. Es hat aufgehört zu regnen und der Pegel fällt bald. Da wird der Druck auf den Damm weniger.“
„Da hilft dir jetzt deine Flussweisheit gar nichts mehr. Ein Riss, der Damm bricht wahrscheinlich, da ist jetzt Gefahr im Verzug, verstehst du. Du bist die letzte, die ich anrufe. Pack das Wichtigste zusammen. In einer Stunde kontrolliert die Polizei, ob alle weg sind.“
Grußlos beendete er seinen Anruf.
Sie stand kurz da, schaute aus dem Fenster und ging langsam aus dem Haus. Holte Bretter aus der Scheune, stellte sie gegen die Terrassentür, die von der Küche aus zum Obstgarten hinausging. Schichtete sie übereinander, riss Plastikplanen entzwei und stopfte sie in die Lücken. In Gummistiefeln watete sie zwischen den Apfelbäumen herum, die durch das heraufdrängende Grundwasser in großen Pfützen standen. Mit der Schaufel in der Hand. Stach hier und dort in den Boden, als könnte sie mit einem notdürftigen Graben einen Ablauf schaffen. Aber der Boden war viel zu schwer und dicke Schlammklumpen blieben an der Schaufel hängen. Schließlich mit der Harke. Schlug in den weichen Boden, schwer keuchend, weil sie die Spitze bis zum Schaft im Matsch versenkte und nur mit größter Anstrengung herausziehen konnte. Versuchte mit dem Fuß die Harke auszuhebeln aus dem Erdreich. Da zerbrach der Stiel.
„Ach, das ist doch alles ein Schmarrn“, sagte sie, warf das abgebrochene Holz in eine Pfütze und ging zurück zum Haus. Sie zog die Stiefel aus, an denen zentimeterdick das Erdreich klebte, betrat den Flur und setzte sich an den Küchentisch. „Bürgermeister, jetzt hast du mich ganz schön erschreckt“, sagte sie und lachte. Ihre Gesichtszüge lösten sich von der Anstrengung und es war für sie jetzt völlig klar, dass sie im Haus bleiben würde. Keine Evakuierung. Nicht mit ihr.

In der Zwischenzeit, während sie ganz ruhig in der Küche saß und durch die offene Haustür in das Dorf, das friedlich im Dämmerlicht dalag, hinausschaute, klingelten die Beamten des Bundesgrenzschutz an jedem Haus, um die Bewohner zum Verlassen des Ortes aufzufordern. Mit ernsten Gesichtern erklärten sie die Lage und auf besorgte Fragen antworteten sie ruhig und besonnen. Die Leute packten das Nötigste zusammen und zogen wie Flüchtlinge mit Bündeln unter dem Arm vorläufig zu Verwandten in der Umgebung, oder in die Notunterkünfte, die kurzfristig bereitgestellt worden waren.
Schon von weitem sah sie das Blaulicht der Polizisten leuchten und wartete ab, bis sie der Straße, die auf ihr Anwesen einbog, nahe kamen. Licht und Bewegungsmelder hatte sie vorher abgeschaltet und war hinausgegangen. Dort kauerte sie sich an das Mauereck und spähte in den dunklen Phasen, die das blinkende Blaulicht bot, in den Hof. Die Polizisten näherten sich und läuteten an der Haustür, klopften, riefen ihren Namen. Gingen zurück, sahen die Fenster hoch und klingelten erneut. Sie aber blieb versteckt, schnell atmend, den Kopf an die Mauer gepresst, den Griff der Schaufel mit ihren schwieligen Händen krampfhaft umklammert. Nein, sie würde nicht gehen.

Die Nacht war hereingebrochen und das Dorf menschenleer. Sie stand auf dem Balkon, der vom Dorf abgewandt war und von dem aus sie die Dammwiesen im Blick hatte und den hochstehenden Fluss, der silbrig im Licht des Halbmonds dahinströmte. Zwischen den Bäumen des Auwaldes blitzten die Lichter der Dammwächter auf, die jetzt dort oben ihr Leben riskierten und mit Taschenlampen das Erdreich untersuchten.
Wie Irrlichter kamen sie ihr vor, wie Geisterlichter der Frauen, die in das Wasser gegangen waren. Die sich vor Zeiten in den Fluss gelegt hatten samt ihrer Ungeborenen. Ihre Seelen, so sagte man früher, leuchteten in der Nacht auf dem Damm. Und als solche wäre sie selbst auch fast geendet. Ja, auch sie war so dagestanden, mit den Knöcheln schon im Wasser mit ihrem unübersehbaren Bauch. Wollte sich einreihen in die Prozession der Verzweifelten, die man aufgedunsen aus den Gittern des stromabwärts liegenden Stauwerks fischte. Stand da an dem Platz, an dem sie ihm so nahe war, dem Angelo, wie sie niemals jemand mehr nahe war. Wo sie ihre Hände in den feinen Strandkies grub vor Glückseligkeit, einer Glückseligkeit, die sie weder vorher, noch nachher je mehr gespürt hatte.
Diese eine Nacht, das wurde ihr klar, war es ja auch gewesen, die sie an diesem Ort hielt. „Ritorno“, flüsterte er ihr ins Ohr. Und so wartete sie auf sein ‚ritorno‘ und entschied sich für das Leben. Sie stieg heraus aus dem Fluss, formte die Hände zu einer hohlen Schüssel und schöpfte Wasser, mit dem sie ihren Kopf, die Füße und ihren Bauch übergoss wie die Pilger am Fluss Ganges. Dann ging sie zurück zum Haus, um die Irrlichter für immer hinter sich zu lassen.
Und war geblieben, so wie sie auch jetzt nicht wegkonnte, während alle Bewohner aus ihren Häusern geflüchtet waren. Als einsame Frau vom Fluss stand sie auf dem Balkon und schaute auf die hohen Strandweiden, von denen ihr gerade das Geschrei aufgeschreckter Krähen, die wie schwarze Schatten in den Mondhimmel flatterten, entgegenhallte.

Flussabwärts hatte der Regen den Damm bis in seinen Kern hinein aufgeweicht und weil sich der Fluss dort in einer Linkskurve in die Landschaft bog, lehnte er sich hier schon immer stärker an den steilen Hang, der dort besonders befestigt war. Wäre man auf der Dammkrone gestanden, hätte man spüren können, wie das Wasser hier wuchtiger gegen den Rand drückte, wie ein Rammbock, der unbarmherzig gegen eine Tür schlägt, die am Ende krachend zu Bruch geht. Aber hier hätte es nicht gekracht. Geschnalzt vielleicht. Feucht geschnalzt, als ein Teil des Damms sich wie ein herausgebrochenes Kuchenstück links und rechts ablöste und im Ganzen nach hinten geschoben wurde. Aber es war niemand da und so hörte niemand, wie es klang, und es sah niemand, wie das Wasser zwischen den klaffenden Lücken hindurchgriff, um danach das herausgetrennte Teil mit kräftigen Armen zu umschließen und es dann in einem riesigen Schwall, der sich auf das freie Feld ergoss, aufzulösen. Nach beiden Seiten verteilte sich sofort eine Brühe aus Flusswasser und Schlamm auf den Feldern und durch den erheblichen Druck kroch diese trübe Brühe entgegengesetzt zur Fließrichtung des Stroms landaufwärts wie ein Schwarm aus dunklem Ungeziefer, der langsam aber unaufhaltsam der Siedlung näherkam.

Vom Balkon aus hielt sie es zuerst für eine Spiegelung auf dem Feld, für eine Reflektion des Mondscheins in den großen Pfützen, die das Grundwasser in den Senken der Wiesen bildete. Aber die Spiegelfläche bewegte sich stetig voran, auf ihr Haus zu. Ihre Blicke wechselten zwischen dem Fluss, der entlang der Dammkante nach unten strömte und der sich nähernden Flutwelle. Sie stieß einen Schrei aus, dessen Echo aus dem Auenwald zurückschlug, und die Lichter der Taschenlampen kreuzten aufgeregt zwischen den Ästen hin und her, fuhren den Damm entlang, trafen schließlich auf die sich ausbreitende Wasserfläche, um dann in einem noch wilderen Tanz dem Dorf entgegen zu blinken. Wenig später durchdrang Sirenengeheul die Nacht. Sie stürzte die Treppe hinunter, aus der Haustüre hinaus, ergriff die Schaufel, die sie vorher an die Wand gelehnt hatte und stürmte dem Wasser entgegen, das jetzt im Begriff war, ihren Obstgarten zu fluten. Mit der Schaufel über dem Kopf rannte sie darauf zu und drosch mit aller Kraft mit der flachen Seite auf das Wasser ein, dass es ihr ins Gesicht spritzte. „Das ist nicht dein Platz“, brüllte sie ihm entgegen, „Das ist nicht dein Platz, geh zurück“, und stürzte sich in die Welle, die ihr bis zu den Knien reichte, warf die Schaufel in die schwarze Flut und hämmerte mit den Fäusten darauf ein, als könnte sie ihrem Fluss damit irgendetwas anhaben. Als könnte sie ihm heimzahlen, was er ihr mit seinem Verrat, ja, so empfand sie es, antat. Dass er sie so im Stich ließ.

Aber der Fluss gehorchte nur den Gesetzen von Kraft und Gegenkraft und eine davon hatte den Kampf verloren. Eine simple Rechnung, die einfach nachzuvollziehen war. Wasser gegen Damm und das Wasser hatte gesiegt. Dem Fluss war es egal, ob an den Ufern Kreuze errichtet wurden, ihre Zeichen, die sie mit Sorgfalt am Ufer hinterließ, waren ihm egal, es war ihm auch egal, dass der Pfarrer noch am Vortag den Damm mit Weihwasser gesegnet hatte und ihn damit mit noch ein paar Tropfen mehr tränkte, als er es vertrug. Es war ihm auch vollkommen gleichgültig, ob Liebende, Trauernde oder aus irgendwelchen Gründen Verzweifelte an seinem Ufer Trost fanden, die Vergänglichkeit des Lebens in seinen Wellen im Blick. Hätte er sprechen können, hätte er das egal vielleicht in die Welt posaunt, den Überdruss vielleicht, von den Menschen als besonderes Zeichen ihres Lebens gedeutet zu werden. Ich bin ein Fluss, Wasser, das in einem Bett fließt. Und ihr seid kümmerliche Kreaturen, die sich ewig fragen, wieso und warum. Vielleicht hätte er das auch nicht gesagt, weil ohnehin alles so geschieht, wie es geschieht, ohne einen erkennbaren Sinn, ohne Plan, ohne, dass auch nur ein Funke vorhersehbar wäre.

Sie schlug weiter auf ihn ein, bis ihre Arme schwer wurden, beschimpfte ihn, verfluchte ihn, bis am Ende nur noch Schreie herauskamen, die in die Nacht hinausgellten. Das Wasser stieg immer weiter, und darum watete sie zurück in das Haus, in dem das Erdgeschoss, aus dem ihr schwimmender Hausrat entgegenkam, schon überflutet war. Sie stürzte die Treppe hinauf, nahm alles, was sie greifen konnte und warf es vom Balkon aus in die dunkle Welle, die unter ihr dem Dorf entgegenfloss. Stühle, Kleider, Schachteln mit alten Fotografien, Ordner mit Steuerabrechnungen, Tischdecken, das Bettzeug, alles warf sie ins Wasser, wie in das unersättliche Maul eines gefräßigen Fisches, der alles verschlingt, was ihm in den Weg kommt, der sich nach dem gewaltigen Mahl zur Seite dreht und ihr mit seinem glasigen Fischauge einen verächtlichen Blick zuwirft, bevor er in die finsteren Tiefen hinabtaucht mit ihren Dingen im Bauch, die sie nicht mehr haben wollte, die er ruhig versenken sollte im untersten Grund, um dort zu verrecken an Plastik, Papier und Druckerschwärze.

Zuletzt riss sie aus der unteren Schublade der Kommode eine Schachtel, griff hinein und nahm im Finstern tastend einen Brief heraus mit einer italienischen Briefmarke und dem Absender: Angelo Menotti, Via Alessandro de Santis 5, Trapani, Sicilia, Italia. Lange hatte sie den Brief nicht mehr in Händen gehalten. Sie zog ihn langsam aus dem Umschlag und strich sanft über das vergilbte Papier, auf das Wasser aus ihren Haaren tropfte. „Ritorno“, sagte sie leise zu sich, noch keuchend, aber ihr Atem beruhigte sich allmählich. „Ritorno presto a te.“ Mit dem Brief, der im leichten Wind, der gerade aufkam, in ihrer Hand flatterte, ging sie auf den Balkon hinaus. Unter ihr strömte das Wasser langsam gegen das Haus. Außer einem leisen Glucksen der Strudel, die sich an den Gebäudekanten bildeten, hörte man nichts. Die Sirenen waren verstummt. „Du warst doch alles, was ich hatte“, sagte sie in die Dunkelheit hinein und, immer noch mit dem Brief in der Hand, fasste sie das Geländer, stieg darüber und schaute eine Weile auf den weiten See, den man im Mondlicht erahnen konnte, und in dem ihr Haus wie eine Arche zu schwimmen schien. „Jetzt nimm mich endlich, gehören tu ich dir doch schon längst“, flüstert sie noch, löst die Hände vom Geländer und ließ sich fallen.

 

Hallo :)

Deine Kurzgeschichte ist insgesamt sehr gelungen. Und auch im Detail betrachtet, gefällt sie mir sehr gut, gerade weil diese Geschichte sehr gut formuliert ist.

Mir gefällt auch sehr, dass sich die Figuren alleine aufgrund ihrer Aussagen charakterisieren lassen und es keiner zu ausführlichen Beschreibungen bedarf. Auch das Genre, das du gewählt hast finde ich sehr gut, gerade weil sie sich nicht eindeutig einem Genre zuordnen lässt, ist deine Geschichte sehr speziell und erhält einen eigenen, in gewisser Weise alternativen Charakter.

Ich finde auch gut, dass die Protagonistin sich bis zum Schluss treu bleibt. Ihre Verbindung zu jenem Fluss wird gerade im letzten Abschnitt veranschaulicht. Auch diese "Sturheit", die "ältere Menschen" allzu oft besitzen, wird sprachlich geschickt verdeutlicht.

Es tut mir leid, falls diese "Kritik" nicht kritisch genug ausgefallen ist, hoffe jedoch, dass sie dich animiert, dein Talent zum Schreiben noch weiter auszubauen :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Es wird nichts sein. Ich kenne doch den Fluss, es wird nichts geschehen[.]“[...]

„[…]
Es war Hochflut; als sie auf den Deich hinaufkamen, schlug der Widerschein der Sonne von dem weiten Wasser ihr in die Augen, ein Wirbelwind trieb die Wellen strudelnd in die Höhe, und neue kamen heran und schlugen klatschend gegen den Strand; da klammerte sie ihre Händchen angstvoll um die Faust ihres Vaters, die den Zügel führte, dass der Schimmel mit einem Satz zur Seite fuhr. [...]“ heißt es in nüchternem bürgerlichen Realismus bei Theodor Storm,

lieber rieger,

und da ist dann das zu finden, was mich bei aller Wortgewandtheit in dieser Geschichte stört, diese übermäßigen Vergleiche, wenn vom Wasser gesagt wird, es

hielt sich nicht an Abgrenzungen, an Straßenmarkierungen, an Wegweiser.
Es käme wie
auf leisen Pfoten, füllte geräuschlos die Keller, flutete Hausgänge, hob mit sanfter Gewalt Heizölkessel in die Höhe, dass die Rohrleitungen abrissen und sich der giftige Inhalt in die schlammige Flut mischte.
Selbst wenn das Wasser „geräuschlos“ aus der Senke im Keller käme (was ich bezweifel), spätestens wenn es – was auch immer – flutet rauscht es zumindest und zuvor hat der „Heizölkessel“ seine poltrige Geräuschkulisse zur Orchestrierung angestimmt und zugefügt ... und Höhepunkt für mich
Nach drei Tagen zog es sich wie ein erschöpftes, weidwund geschossenes Tier, das mit seiner Kralle durch die Landschaft gefahren war,

Das ist kühn gedacht, schön formuliert und vermenschlicht, was wahrscheinlich zuvor eben diese Menschen mit dem Korsett der Eindämmung und Kanalisierung dem jeweiligen Flussgott (gäbe es denn einen) angetan haben und nun zur Quittung bekommen in beschleunigter Fließgeschwindigkeit und nicht zu erwartenden Gewaltausbrüchen usw.

Dass es auch andere Vergleiche gibt, die hinken, zeigt sich hier, wenn es heißt

Wie ein Pfeil zischt sie mit der Leni im Arm aus dem Wasser und schreit laut auf,
da wäre ein Delpin trotz aller Kühnheit des Bildes näher dran ...

Es ist natürlich raffiniert, diesen Naturfrevel mit dem gesellschaftlichen der unbotmäßigen Geburt eines Kindes zu verquicken, dessen gesellschaftliche Brisanz aber mit dem „Zahn der Zeit“ und Handeln der vordem gebrandmarkten Person – einem buchstäblichen Engel dem Namen nach – dahinschmilzt, wie der Wert eines Hauses trotz 2 %iger Afa ja auch nur formal, keineswegs tatsächlich sinkt, sondern mit dem Grundstück eher steigt, sofern man es nicht zur Schrottmobilie verkommen lässt.

Ich weiß, der Vergleich ist so unpassend, aber auch nur wie die Vergleiche mit dem Wasser, dessen Kraft und Widerspenstigkeit, die den doch gutmeinenden menschlichen Gesetzen zuwiderläuft.

Paar Tritivialitäten noch (wie im Eingangsszitat, wo der Abschlusspunkt wohl ausreißen wollte!)

Und da lässt sie die Angela einfach stehen und springt, ohne zu überlegen[,] in den Fluss und schwimmt auf das Mädchen zu, auf die Leni, die in einem Strudel zu ertrinken droht.
Ohne erstes Komma wäre der Einschub übrigens durchgegangen ...

Ihre Blicke wechselten zwischen dem Fluss, der entlang der Dammkante nach unten strömte[,] und der sich nähernden Flutwelle.

Die gute Idee ertrinkt gleich mit in den Fluten der falschen Bilder ... und allein Du kannst sie retten!,

meint der

Friedel

 

Hola rieger,

rieger: schrieb:
Unter verschlossenen Türen hindurch suchte es sich in leisen Wirbeln seinen Weg, ...
Genau wie der Text! Haargenau, weil der sich diese Unaufgeregtheit ebenfalls leisten kann, denn der ist stark wie das Wasser. Zieht gut rein – ein Autor wie Du kriegt das hin:). Neunzehn Jahre Niederrhein-Erfahrung machen mich zum interessierten Leser Deines Textes, denn vor Erhöhung der Deiche hatten wir auch so dann und wann ‚Land unter’.

Beim Besuch des Bürgermeisters fehlte mir die rechtzeitige Präsenz der Mutter. Der B’meister gratuliert ihr nicht? Und sie wird nur beiläufig erwähnt:

Angela kam gleich herbei, tupfte ihn mit dem Geschirrtuch ab und ihre Mutter klopfte ihm beruhigend auf den Arm: ...
Aber ihr zu Ehren findet doch die Kaffeetafel statt? Die schien mir übrigens ziemlich karg – kein Kuchen, keine Torte:shy: ... Des B’meisters schneller Abgang, überhaupt die ganze Kaffee-Szene stolpert ein bisschen überhastet für mein Leseempfinden.

Die geächtete Leni geht durchs Dorf, die Leute gehen ihr aus dem Weg, und:

Vor der sie gerade nicht ausspuckten.
Das verstehe ich nicht. Hättest Du geschrieben: ‚Die Leute spuckten vor ihr aus’, wär’s für mich einfacher.
Und jetzt sitzt sie da mit ihrem Bankert, dem italienischen.
Klasse, ich muss an unser Mitglied oisisaus und seine guten Texte denken.

Bei der Szene am Fluss musste ich erst einmal herausfinden, wer die ‚sie’ ist.

Ein Kind war die Leni damals noch und sie selbst dreißig Jahre alt.
Und dann kam der Sommertag, an dem sie mit der kleinen Angela am Strand (Ufer?) spazieren ging

Jetzt sind sie im Strudel, im Wassertornado –... dann spürt sie den Grund und fasst mit der Hand in den nassen Sand.
Was soll der nasse Sand unter Wasser?
Der Wasserkreisel ist jetzt ganz klein und sie kann mit den Füßen festen Halt finden und stößt sich mit aller Macht seitlich vom Strudel weg.
Glück gehabt, aber wenn es der Autor so will ...
Wie ein Pfeil zischt sie mit der Leni im Arm aus dem Wasser ...
Wie eine Rakete, vermute ich:shy:? Aber ich bin der Leser, der immer amüsiert Deine Geschichten gelesen und gewisse Unstimmigkeiten wegen Deines mir sympathischen Schreibstils ignoriert hat, kein Problem.
... und schreit laut auf, ringt nach Atem ...
Umgekehrt, s.v.p.
Diese (zu) kurzen Sätze sind Geschmackssache:
Mit der Schaufel in der Hand.
Schließlich mit der Harke.

Holte Bretter aus der Scheune, stellte sie gegen die Terrassentür, die von der Küche aus zum Obstgarten hinausging. Schichtete sie übereinander, riss Plastikplanen entzwei und stopfte sie in die Lücken. In Gummistiefeln watete sie zwischen den Apfelbäumen herum, die durch das heraufdrängende Grundwasser in großen Pfützen standen. Mit der Schaufel in der Hand. Stach hier und dort in den Boden, als könnte sie mit einem notdürftigen Graben einen Ablauf schaffen. Aber der Boden war viel zu schwer und dicke Schlammklumpen blieben an der Schaufel hängen. Schließlich mit der Harke. Schlug in den weichen Boden, schwer keuchend, weil sie die Spitze bis zum Schaft im Matsch versenkte und nur mit größter Anstrengung herausziehen konnte. Versuchte mit dem Fuß die Harke auszuhebeln aus dem Erdreich. Da zerbrach der Stiel.
Die Verbündete des Flusses, eine, die die Problematik kennt, verhält sich so konfus?
Zu Beginn der Geschichte wird eindringlich geschildert, wie fies Wasser sein kann – und sie als Eingeweihte eiert dann kopflos durch den Sumpfgarten? Aber das ist wohl der aufkommende Wahnsinn.
Die Polizisten nährten sich ...
Wäre man auf der Krone gestanden, ...
Süddeutsche Einfärbung.
... dass der Pfarrer noch am Vortag den Damm mit Weihwasser gesegnet hatte und ihn damit mit noch ein paar Tropfen mehr tränkte, als er es vertrug.
Super!
Eine Erholung mitten in diesem gigantischen Ablauf, mir fliegen die Brocken nur so um die Ohren – Du mutest Deinen Lesern schon ordentlich was zu, mein Lieber.
Ich für meinen Teil bin platt, leider noch nicht am Ende. Solch einer Wucht von Text bin ich selten begegnet. Ich kann den Autoren bewundern oder ihn bitten, etwas maßzuhalten – denn eigentlich lese ich sehr gern. Wenn Du verstehst, was ich meine;).

Lieber rieger, dieser Text hat viel mit einem Menü zu tun, das zu viele Gänge beinhaltet. Irgendwann lechze ich nach Entspannung, doch die gewährst Du mir nicht. Am Ende angekommen, bin ich froh, es geschafft zu haben. Trotzdem will ich Deine Schreibkunst loben und preisen, die imponiert mir. Bei Deinen Geschichten habe ich oft das Gefühl, Literatur zu lesen – und das ist, wie ich meine, kein schlechtes Kompliment.

José

 

Hej rieger,

Ein tolle, kompakte Geschichte habe ich gelesen. Gute Protagonisten, schlüssige Szenen und Begegebenheiten. Der Ton deiner Erzählung liegt mir. Er ist unaufgeregt und spiegelt lediglich wider, was ist oder sein könnte. Wenig wertend und im Einklang, hier mit dem Leben an und für sich. Ich bin ja Fan von solchen Geschichten über Frauen, die unventionell und speziell daherkommen. Da hast du mir eine hübsche Lehrstunde verpasst, mit deiner Frau vom Fluss. Danke dafür.

Lediglich der Titel liest sich seltsam mit all den "f's". Und Folgendes ist mir aufgefallen:

Das Wasser kam ruhig, fast gemächlich daher, wie ein alter Bekannter, den man unvermutet trifft, nach dem man sich umdreht und sich verwundert die Augen reibt, weil man nicht damit gerechnet hat, ihn an einem ungewohnten Ort zu sehen.

Der erste Satz ist schon cool, nur könnte ich auf das überzogene Augenreiben verzichten. :D

Auf breiter Front kroch es der Siedlung entgegen, fast hätte man sagen können, auf leisen Pfoten, f

Das erzeugt schon ein eigenartiges Bild; Wasser mit Pfoten und geräuscharme Überschwemmung.

Wenn Mama siebzig wird, wie kann ich da nicht da sein?“, antwortete sie.

Vermutlich meinst du janicht da sein. :hmm:

Ach, das ist doch alles ein Schmarrn“, sagte sie, warf das abgebrochene Holz in eine Pfütze und ging bedächtig zurück zum Haus

Ich würde sie nicht bedächtiggehen lassen. Ich weiß schon, sie soll Ruhe bewahren, nur bedächtig klingt nicht lebendig genug. Aber so sehe ich sie. ;)

Sie stieg heraus aus dem Fluss, formte die Hände zu einer hohlen Schüssel und schöpfte Wasser, mit dem sie ihren Kopf, die Füße und ihren Bauch übergoss wie die Pilger am Fluss Ganges. Dann ging sie zurück zum Haus, um die Irrlichter für immer hinter sich zu lassen.

Das ist ein schönes Bild, nur sollte sie dafür weiter im Fluss stehen, oder?

Aber es war niemand da und so hörte niemand, wie es klang, und es sah niemand, wie das Wasser zwischen den klaffenden Lücken hindurchgriff

Das ist eine schöne Methode: was wäre wenn zu zeigen.

Vielleicht hätte er das auch nicht gesagt, weil ohnehin alles so geschieht, wie es geschieht, ohne einen erkennbaren Sinn, ohne Plan, ohne, dass auch nur ein Funke vorhersehbar wäre.

Aber glauben möchte man, dass alles Sinn macht. Irgendwann. Vielleicht.

Du warst doch alles, was ich hatte“, sagte sie in die Dunkelheit hinein und, immer noch mit dem Brief in der Hand, fasste sie das Geländer, stieg darüber und schaute eine Weile auf den weiten See, den man im Mondlicht erahnen konnte, und in dem ihr Haus wie eine Arche zu schwimmen schien. „Jetzt nimm mich endlich, gehören tu ich dir doch schon längst“, flüstert sie noch, löst die Hände vom Geländer und ließ sich fallen.

Was für eine konsequente Dramatik. Da du das Ende ja anfangs bereits gezeigt hattest, war ich vorbereitet, hatte aber gehofft, ich Dummi, dass es sich um einen Bluff gehandelt und somit um eine andere Frau, haben könnte.

Es war mir ein großes, trauriges Vergnügen. Freundlicher Gruß, Kanji

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo johanna23,
Deine unkritische Kritik nehme ich sehr gern an und es freut mich, dass Du da so viele Sachen siehst, die aus Deiner Sicht gelungen sind. Vielleicht möchte ich die Flussfrau nicht stur nennen. Obwohl, aus der Perspektive des Bürgermeisters erscheint sie ganz sicher so. Aber ihre vermeintliche Sturheit wäre für mich eher eine Sicherheit, die sich für sie selbst aus der langen Geschichte, die sie mit dem Fluss verbindet, genährt hat. Aber sicher, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung: da klafft oft eine große Lücke. Stur also aus einer bestimmten Ecke her gesehen.
Vielen Dank nochmal für Deine Lesezeit, den Kommentar und herzliche Grüße
rieger


Lieber Friedrichard,
schön, Deinen vertrackten und kundigen Kommentar zu lesen! Ich habe etliche Dinge geändert, die Du vorgeschlagen hast und die auch in den zwei späteren Kommentaren zur Sprache kamen. Ja, in den Vergleichen schießt der Text doch ein wenig übers Ziel hinaus, da habe ich den Pfeil, die Geräuschlosigkeit und die Pfoten gestrichen. Und einiges andere dazu. Was ich gelassen habe, war die Nichtberücksichtigung der Abgernzungen und Wegweiser. Ich habe mit Betroffenen aus einem Überschwemmungsgebiet gesprochen. Mich hat da eben diese Aussage, die da gemacht wurde, dass sich das Wasser nicht an Straßenführungen hält, was man als regelkonformer Autofahrer voraussetzt, beeindruckt. Die Konfrontation von anarchischem Überfluten und disziplinierter Bewegung im alltäglichen Leben fand ich da interessant.
Klar, der Schimmelreiter ist der Überreiter wenn es ums literarische Wasser geht. Ich hoffe, ich konnte aus Deiner Sicht das Ganze halbwegs aus der Flut retten, wenigstens so, dass es Luft bekommt.
Herzlich
rieger


Servus josefelipe,
ja, da hast Du die süddeutschte Provenienz treffsicher entlarft und das trifft vielleicht auch den Kern Deiner Kritik. Ein Hang zum Barocken möglicherweise, zum Dauerdramatischen, wie es in den Kirchen und Schlössern zwischen Alpen und Fränkischer Alb zu finden ist bei den Asams, den Zimmermanns, bei Neumann und Fischer. Gut, da stelle ich mich in eine bei weitem zu prominente Reihe barocker Artisten. Aber eine Lust am Krachledernen wird uns ja allenthalben bescheinigt. Da finde ich Deinen Vergleich mit dem üppigen, für Dich zu üppigen Mahl sehr treffend und auch für mich eine gute Anregung, dass man in einem Text auch einmal innehalten darf, dass es nicht ein Dauerfeuer geben muss, sondern Oasen zum Ausschnaufen, wie Bankerl, auf die man sich zum Genuss der schönen Aussicht nach einem anstrengenden Bergaufstieg setzt. Was für ein fast kitschiger Verlgeich, der aber wieder ganz gut zur bayerischen Jodelkulisse passt.
Sehr gerne habe ich etliche Anmerkungen von Dir gleich im Text umgesetzt. Klar, Sand unter Wasser ist von Haus aus nass, sowie einige andere Dinge, die Du richtig anmerkst.
Freut mich, dass Dir das Lesen Freude gemacht hat, auch wenns ein wenig im Magen liegt. Wir in Bayern nehmen dazu dann immer ein kleines Schnapserl, einen Obstler vielleicht, der angeblich zu fettes Essen verdauen hilft. Aber das ist nur ein Vorwand, glaube ich. Schadet aber auch nicht.
Sehr herzliche Grüße und bestes 2017!
rieger


Hallo Kanji,
auch Dir herzlichen Dank fürs Lesen und Kommentieren! Ich hab gleich etliche Sachen umgesetzt, die Du angemerkt hast und die mir auch nicht stimmig schienen (Augenreiben, Pfoten, Pfeil ...). Ja, die Alliteration im Titel ist ein wenig seltsam. Ich lass sie jetzt mal so stehen, weil man den Titel ja auch nicht selbst ändern kann. Ich wollte aber eben im Titel schon die Beleuchtung auf die Hauptfigur lenken, mir schwebte auch "Im Wasser" vor, aber eben, ich dachte, sie solle auch schon im Titel genannt sein. Da könnte man aber noch mehr sprachlich kniffeln.
Ja, ob es Sinn macht, ja, das ist ja eine grundsätzliche Frage. Mich hat vor dem Hintergrund der Frage der Gedanke umgetrieben, inwiefern eben Zeichen, die man in die Natur projeziert, diesen Sinn nur in eine Richtung vom Menschen aus in die Natur transportieren. Dass also die Zeichen lediglich Bestärkungen der Selbstwahrnehmung sind und man sich dazu entsprechend metaphorische Naturphänomene aussucht (Fluss, Wind, Berg, Baum). Oder ob eben umgekehrt, wie in der Religion, oder weiter gefasst, in jeder spirituellen Vorstellung, es eine Wechselbeziehung gibt zwischen unbelebter Natur und Mensch. In der Ausführung in der Geschichte hat mich dann aber der besondere Kontrast gereizt, es so darzustellen, dass es ein Ungleichgewicht zwischen menschlicher Wahnehmung und sozusagen natureller Gleichgültigkeit gibt.
Mir wars ein Vergnügen, Deinen Kommentar zu lesen!
Herzlich
rieger

 

Hej rieger noch mal,

ich habe deine Gedanken in Bezug auf die Natur sehr gut nachempfinden können - du hast sie passend benannt. Nicht nur den Fluss, gerade die verschiedensten Baumarten.

Dass also die Zeichen lediglich Bestärkungen der Selbstwahrnehmung sind und man sich dazu entsprechend metaphorische Naturphänomene aussucht (Fluss, Wind, Berg, Baum).

Das Thema ist sehr spannend und wenn man es feinstofflich betrachtet ist doch eh alles in allem, oder? Aber das führt jetzt zu weit. ;) Wenn man es so betrachtet, dann war es nicht nur eine Verzweiflungstat der Flussfrau ins Wasser zu gehen, sondern vielleicht notwendig und gar nicht tragisch. :hmm:

Auf jeden Fall werde ich unter diesem Aspekt deine Geschichte erneut lesen.

Lieber Gruß, Kanji

 

Hallo Kanji,
unbedingt! Ja, so, wie Du es da beschreibst, kann man das auf jeden Fall sehen. Dass sich die Flussfrau im pantheistischen Sinn eingebunden und verbunden sieht mit dem Element. Dann hat der Schluss tatsächlich die Note von "Coming home", von einer Auflösung oder eher einer Vermählung mit dem Fluss. Auch wenn sie sich zunächst verraten fühlt durch die Überschwemmung. In einem alten Indianersong heißt es ja: "The river is flowing ... back to the sea. Mother earth carry me, a child I will always be, mother earth carry me back to the sea." Das trifft diese Schlussstimmung recht gut, finde ich. Passend bei der Gelegenheit, wenngleich mit anderer Vorgeschichte, das letzte Lied aus der Schönen Müllerin von Schubert: Des Baches Wiegenlied. Da singt der Bach dem Müllersgesellen auch ein Lied vor und schwärmt ihm vor, wie schön das jetzt ist, wenn er sich gleich reinlegt: Gute Ruh, gute Ruh, schließ die Augen zu. Wandrer, du müder, du bist hier zu Haus. Eben: Coming home.
Vielen Dank für Deine bereichernde Assoziation!
rieger

 

Sorry rieger, noch mal kurz. :D

„Das Wesen der Natur besteht in der Tatsache der unmittelbaren Erfahrung, in der Subjekt und Objekt noch nicht gespalten sind.“ Nishida Kitarō (1870-1945), der Impulsgeber der modernen japanischen Philosophie, sah seine große Aufgabe darin die abendländische Subjekt-Objekt-Spaltung philosophisch zu überwinden. „Wenn wir eine Blume angeschaut haben, sind wir die Blume geworden.“

Das war mir noch ein Bedürfnis, weil ich mich so verstanden fühlte von dir.

Ein schönes Wochenende, Kanji

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo rieger,

ich weiß nicht, warum ich beim Einstieg in deinen Text an den Anfang von Büchners "Lenz" denken musste. Vielleicht ist es deine eindrucksvolle Beschreibung des Flusses, des Wassers, das mit seiner Urgewalt schließlich die Prota zu sich nimmt. Bei Büchner ist es das "Gebirg".

Du gibst der Sprache breiten Raum, scheust dich nicht, üppige Metaphern, gewagte Vergleiche und Satzgebilde zu formulieren, ohne dich allzusehr um die derzeit gültige minimalistische Stilistik zu scheren. Ellipsen wird man hier kaum finden.
Mir gefällt dein Stil, weil du über sprachliche Kompetenz verfügst, und, verdammt noch mal, warum soll man sie dann nicht benutzen?

Vom Plot selbst war ich nicht so überzeugt. Ich wusste jetzt nicht genau, ob das Thema "Außenseiter" im Zentrum stehen sollte, so ein sozialkritischer Ansatz, oder doch eher ein Psychgramm einer ungewöhnlichen Frau, die ganz gut ohne Gesellschaft zurechtkommt. Dein Titel deutet für mich eher auf die zweite Intention, dafür passt er sehr gut.

Die anderen Personen sind mir etwas zu blass, sowohl der Bürgermeister als auch die Tochter. Sie erscheinen mir eher als Statisten ohne notwendige Funktion für die Handlung. Ich hätte mir eine kompliziertere Beziehung zwischen Mutter und Tochter gewünscht, zum Beispiel, warum da nicht nochmals ein besorgter Anruf kommt.

Lieber Rieger, ich lese deine Texte sehr gern. Diesmal war es die Geschichte einer Frau, die ihr Schicksal an einen Fluss kettet. Hat was Archetypisches.

Freundliche Grüße
wieselmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber rieger,

dein Text ist ein Lesegenuss. Es gefällt mir, mich auf deine vacettenreichen Formulierungen einzulassen und sie zu genießen.

Ein bisschen anders geht es mir mit der inhaltlichen Seite deines Textes. Da frage ich mich: Was genau willst du mir nun eigentlich erzählen? Was ist das Zentrale deiner Geschichte?

Ich liste mal ihre verschiedenen Handlungsaspekte auf
· Der Fluss als Naturgewalt
· Die ‚Frau am Fluss’ und ihr Verhältnis zum Fluss
· Die ‚Frau am Fluss’ und ihre Liebesgeschichte
· Die ‚Frau am Fluss’ und die Rettung Lenis
· Das Verhalten der Dorfbewohner zur ‚Frau am Fluss’

Besonders der Beschreibung des Flusses gibst du viel Raum in deiner Geschichte. (Ich wurde an den Anfang von Weisenborns ‚Zwei Männer’ erinnert):

Das Wasser kam ruhig, fast gemächlich daher, wie ein alter Bekannter, den man unvermutet trifft und nach dem man sich verwundert umdreht, weil man nicht damit gerechnet hat, ihn an einem ungewohnten Ort zu sehen. Es kam auf die Ortschaft zu und hielt sich nicht an Abgrenzungen, an Straßenmarkierungen, an Wegweiser. Auf breiter Front kroch es der Siedlung entgegen, füllte Keller, flutete Hausgänge, hob mit sanfter Gewalt Heizölkessel in die Höhe, dass die Rohrleitungen abrissen und sich der giftige Inhalt in die schlammige Flut mischte.

Eine sehr schöne Beschreibung. Eventuell würde ich den gekennzeichneten Teil aber rausnehmen. Ich habe das Gefühl, dass das Bild der Ruhe durch den Vergleich mit dem ‚unvermuteten Eintreffen’ beschädigt wird. 'Unvermutet' empfinde ich als etwas plötzlich Auftretendes, also nichts Ruhiges, Gemächliches.

Auch mit einer anderen Stelle kann ich mich nicht so recht anfreunden:

Nach drei Tagen zog es sich wie ein erschöpftes, weidwund geschossenes Tier, das mit seiner Kralle durch die Landschaft gefahren war, …

Du minderst mE das Bild des 'weidwunden Tieres', wenn du gleich darauf von seinen Krallen sprichst. Unglücklich ist auch, dass du kurz danach noch einmal von ‚krallen’ (nun als Tätigkeit) sprichst:

…fand man die Leiche einer Frau mit dem Gesicht im Schlamm liegend, die Hände in den Boden gekrallt, als hätte sie sich eingraben wollen.

Übrigens würde ich es an dieser Stelle mit diesem starken Bild bewenden lassen. Die folgenden Alltäglichkeiten (Spurensicherung, Arbeit der Kriminalbeamten) überlagern es und schwächen seine Wirkung. (Auch hier natürlich nur für mein Empfinden.)

Noch etwas zur Frau (einen Namen gibst du ihr ja nicht) und ihrer Beziehung zum Fluss:

Ja, sie und ihr Fluss. Jeder wusste doch, dachte er, dass die Zeichen am Ufer von ihr stammten: Zweige, die in Kreisen gelegt waren, Steinpyramiden, Muscheln, in den Sand zu geheimnisvollen Mustern gesteckt. ... ‚Frau vom Fluss‘ nannte man sie mit einer Mischung aus Respekt und Misstrauen.

Ihr Verhältnis zum Fluss ändert sich im Verlaufe der Geschichte:

Ihre Nähe suchte sie von da an nicht, aber mit Lenis Rettung war auch ihre Angst verschwunden. Sie fürchtete sich vor nichts mehr und schon gar nicht vor dem Wasser, vor dem Fluss, den sie ohnehin schon immer als ihren Verbündeten empfand.
Später dann aber behandelt sie den Fluss wie ihren Feind:

„Das ist nicht dein Platz“, brüllte sie ihm entgegen, „Das ist nicht dein Platz, geh zurück“, und stürzte sich in die Welle, die ihr bis zu den Knien reichte, warf die Schaufel in die schwarze Flut und hämmerte mit den Fäusten darauf ein,

Und zum Schluss ergibt sie sich ihm:

Jetzt nimm mich endlich, gehören tu ich dir doch schon längst“

Diese Veränderungen erschließen sich mir nicht logisch. Möglicherweise habe ich auch etwas überlesen.

Mit dieser Stelle hatte ich ein Problem der zeitlichen Zuordnung:

… Die sich vor Zeiten in den Fluss gelegt hatten samt ihrer Ungeborenen. … Und als solche wäre sie selbst auch fast geendet. Ja, auch sie war so dagestanden, mit den Knöcheln schon im Wasser mit ihrem unübersehbaren Bauch.Stand da an dem Platz, an dem sie ihm so nahe war, dem Angelo, wie sie niemals jemand mehr nahe war. … Diese eine Nacht, das wurde ihr klar, war es ja auch gewesen, die sie an diesem Ort hielt. „Ritorno“, flüsterte er ihr ins Ohr. Und so wartete sie auf sein ‚ritorno‘ und entschied sich für das Leben. Sie stieg heraus aus dem Fluss, …
Nach dem anfänglichen PQP verwendest du als einzige Zeitform das Präteritum, bewegst dich aber, wenn ich es denn recht verstehe, auf zwei Zeitebenen. Und deshalb müsste mMn eine Vorzeitigkeit angedeutet werden:

… Stand da an dem Platz, an dem sie ihm so nahe gewesen war, dem Angelo, wie sie (später) niemals jemand mehr nahe gewesen war.

Unsicher bin ich mir auch bei der Bewertung der Leni-Episode für den gesamten Handlungszusammenhang. Welche Bedeutung hat sie in deiner Handlung? Sie gibt dir als Autor die Möglichkeit, die Vorgeschichte zu erzählen. Aber welchen Stellenwert hat sie für das Verständnis der gegenwärtigen Situation? Die Frau verliert ihre Angst vor dem Fluss, aber hatte sie das nicht schon, als sie sich schwanger an Angelo und sein ‚Ritorno’ erinnerte?
So schön formuliert diese Leni-Handlung auch ist, sie lenkt mich in dieser recht starken Darstellung und Gewichtung von der Haupthandlung ab.

Lieber rieger, ich bin beeindruckt von deinem schönen Erzählstil, den eindrucksvollen Beschreibungen und der Atmosphäre, die dein Text vermittelt. Allerdings habe ich das Gefühl, dass du dich bei der Gewichtung dessen, was zentral bzw. was nebensächlich ist, ein wenig verzettelst; dass du Elemente in deinen Text aufnimmst, die in ihrer Summe auf mich wie ein Zuviel wirken.
Das ändert aber nichts daran, dass ich deine Geschichte sehr gerne gelesen habe.

Liebe Grüße
barnhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Servus rieger,

ist eine starke Geschichte. Ich finde deine Sprache auch sehr ausgereift und sehr angenehm, mir sind da keine Schnitzer aufgefallen. Auch deine Dialoge finde ich sehr organisch und echt, ich hab dir das alles abgekauft ... ich weiß nicht, ob du in der Nähe von Dämmen wohnst oder gut recherchiert hast, aber wie du das beschreibst, wie die Dämme langsam brechen, wie das Wasser langsam kommt, ich hatte das sehr gut vor Augen und es kam mir sehr authentisch vor.

Aber der Fluss gehorchte nur den Gesetzen von Kraft und Gegenkraft und eine davon hatte den Kampf verloren. Eine simple Rechnung, die einfach nachzuvollziehen war. Wasser gegen Damm und das Wasser hatte gesiegt. Dem Fluss war es egal, ob an den Ufern Kreuze errichtet wurden, ihre Zeichen, die sie mit Sorgfalt am Ufer hinterließ, waren ihm egal, es war ihm auch egal, dass der Pfarrer noch am Vortag den Damm mit Weihwasser gesegnet hatte und ihn damit mit noch ein paar Tropfen mehr tränkte, als er es vertrug. Es war ihm auch vollkommen gleichgültig, ob Liebende, Trauernde oder aus irgendwelchen Gründen Verzweifelte an seinem Ufer Trost fanden, die Vergänglichkeit des Lebens in seinen Wellen im Blick. Hätte er sprechen können, hätte er das egal vielleicht in die Welt posaunt, den Überdruss vielleicht, von den Menschen als besonderes Zeichen ihres Lebens gedeutet zu werden. Ich bin ein Fluss, Wasser, das in einem Bett fließt. Und ihr seid kümmerliche Kreaturen, die sich ewig fragen, wieso und warum. Vielleicht hätte er das auch nicht gesagt, weil ohnehin alles so geschieht, wie es geschieht, ohne einen erkennbaren Sinn, ohne Plan, ohne, dass auch nur ein Funke vorhersehbar wäre.

Mit den letzten Absätzen bin ich mir nicht so sicher. Z.B. den Absatz hier. Braucht es ihn wirklich? Ist dem Leser nicht klar, dass der Fluss den Gesetzen von Kraft und Gegenkraft gehorcht, und dass es egal ist, ob dort irgendwelche schamanischen Zeichen liegen? Da sagst du dem Leser etwas, was er ohnehin schon weiß, und das ist immer einen Schritt davon entfernt, dass man es als "zäh" wahrnimmt.
Auch der "Freitod" (sei jetzt dahingestellt, ob es einer ist oder nicht) deiner Protagonistin - ich konnte ihn nicht zu 100% "nachempfinden" oder "verstehen". Ich kann ihre Motivation bis zu dem Punkt absolut nachvollziehen, wieso sie nicht gehen will, als der Bürgermeister und die Polizei sie auffordert. Bis dahin passt alles für mich, vom Motivationsverständnis her. Aber wieso akzeptiert sie dann den Tod einfach so? Sie packt dann alte Briefe von ihrem Italiener hervor, und ich als Leser erfahre vom Erzähler, dass da ein tiefer Schmerz in ihr sitzt ... aber das ist für mich nicht zu 100% greifbar.
Mir hätte es gut gefallen, wenn du zuvor im Text noch stärker auf ihre Außenseiterrolle eingegangen wärst. Nachdem sie Nele aus dem Fluss gerettet hat, wird sie zwar nicht mehr schief angesehen im Dorf, aber sie muss einsam werden. Du reißt das schon an, sie ist wunderlich, sie treibt schamanische, unbegreifliche Riten, ist für die anderen gruselig. Das würde ich noch mehr ausbauen. Sie muss auf einer Art sehr einsam sein, und das würde ich dem Leser zeigen und spürbar machen. Seitdem sie Nele gerettet hat, wird sie zwar nicht mehr geächtet, aber extrem gemeidet. Deswegen begann sie, mit dem Fluss zu "kommunizieren", ihn als ihren einzigen Freund wahrzunehmen. Wenn du das noch mehr ausbaust und greifbarer machst, dann verstehe ich als Leser auch zum Ende hin sehr gut, wieso es ihr so ... ja, "leicht" (ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort) fällt, sich dem Fluss hinzugeben, ihren Tod zu akzeptieren. Er war ihr einziger "Freund", ihr einziger Bezugspunkt. Und nun lässt er sie im Stich - das bricht sie endgültig.

Also das sind gerade meine Gedanken zum Text. Wie gesagt, ich finde ihn sehr stark, ich finde deine Sprache sehr ausgereift und gut, bloß diesen einen Punkt, die "Motivation" oder das "Verständnis", wieso sie so einfach sich zum Schluss dem Fluss und dem Wasser "hingibt", das würde ich noch ausbauen, wäre das mein Text. So bleibt ein Gefühl in mir als Leser zurück: Wieso hat sie nicht geschrien, als sie gemerkt hat, dass das Wasser schon überall ist? Wieso hat sie nicht auf Biegen und Brechen versucht, Hilfe zu holen oder ist auf das Dach geklettert? Aber das ist bloß mein persönlicher Eindruck vom Text, kann gut sein, dass das andere auch anders sehen, und sie die Motivation besser nachvollziehen können.

Hat mir echt gut gefallen, gerade auch, wie du deine Figuren zeichnest - mir kommt keine schablonenhaft vor.

Viele Grüße
zigga

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Kanji,
unbedingt. Das trifft es genau. Besten Dank!
rieger

Hallo wieselmaus,
besten Dank für Zeit und Kommentar. Ja, der Sprachminimalismus. Ich bin da wohl stark im Fahrwasser weitschweifiger Erzähler. Von daher ist Deine Erinnerung an Büchners Anfang wahrscheinlich nicht verkehrt. Ich hoffe, dass es nicht durchgehend so ist, in diesem Fall soll es ja nicht antiquiert wirken, sondern, wie Du so schön sagst, der Archetypik des Sujets irgendwie entsprechen. Ja, das war vielleicht die Intuition, diesem elementaren Erleben "Wasser" eine Stärke in der Sprache entgegen zusetzen. Das ginge wahrscheinlich auch mit weniger Aufwand, mit gläserner Sprache, die beim Leser Bilder durch Auslassung evoziert, aber so ist es halt mal geworden. An anderer Stelle im Forum geht es gerade um die andere Richtung. Wie sehr man einen Text reduzieren kann, dass er noch narrativ erscheint. Aber, wie zu josefelipe schon gesagt, da ist vielleicht auch eine barocke Darstellungslust dabei, die regional bedingt ist. Freut mich aber, dass Dir der Stil gefallen hat.
Deine Kritik zur Handlungsgewichtung trifft sich ein wenig mit barnhelm. Eine nicht ganz klare Richtung wird da angesprochen. Kann ich nicht von der Hand weisen. Mir ging es speziell um die Hauptfigur, deswegen die stiefmütterliche Behandlung von Angela und Bürgermeister. Aber sicher, ein besorgter Anruf liegt im Bereich des Wahrscheinlichen. Da hast Du Recht.
Besten Dank jedenfalls und herzlich
rieger

Liebe barnhelm,
besten Dank für die detaillierte Textkritik und den Kommentar! Einiges davon möchte ich umsetzen. Das wird aber noch ein, zwei Tage dauern.
Sehr interessant finde ich, dass sich Deine Wahrnehmung mit der josefelipes deckt. Das Gefühl, übersättigt zu werden mit Handlung, ein zu üppiges Menü war das Bild. Intendiert war von mir, das Bild einer besonderen Frau zu zeichnen und ihre Handlung aus den Rückblenden verständlich zu machen. Gut, da fällt die Verunsicherung durch den Bürgermeister heraus. Erst wird sie als Fels in der Brandung dargestellt, dann ist sie unsicher. Aber ich dachte mir, dass die emotionale Bindung an den Fluss eben auch über die starken Bilder verankert werden müsste. Das erscheint für Dich in der Summe zu ungenau auf einen Kern gerichtet, was für mich eine gute Motivation ist, Relationen in der Planung und Skizzierung von Geschichten genau unter die Lupe zu nehmen.
Besten Dank für den konstruktiven Kommentar!
Herzlich
rieger

Servus zigga,
ich übernehme gerne die vertraute süddeutsche Anrede und freue mich, dass Du den Text insgesamt gelungen findest. Tatsächlich wollte ich die zitierte Passage streichen aus den gleichen Gründen, die Du anführst. Interessanterweise ist in einem oberen Kommentar die Stelle als angenehmes Innehalten in der Aktion wahrgenommen worden, gerade sehe ich im letzten, dass sie dort positiv aufgenommen wird. Aber Lesarten sind wohl immer unterschiedlich, differieren je nach Vorliebe, vielleicht sogar nach Tageszeit und nach momentaner Stimmung des Lesers. Jedenfalls kann ich Deinen Einwand gut nachvollziehen, weil es sich deckt mit meinen Überlegungen.
Ja, der Schluss, das habe ich mir, wie vorher schon mit Kanji besprochen, fast als Vermählung vorgestellt. Dass sie am Ende diese Einheit mit dem Element auch körperlich vollzieht, ganz ohne Angst, eher mit dem Gefühl, jetzt nach Hause zu kommen. Im Sinn von Yin und Yang, als finales Aufheben der Trennung. Ich wollte sie nicht panisch wirken lassen. Vorher schon erbost, weil das Wasser sie mit der Überschwemmung quasi betrogen hat, aber dann eben zu ihrer alten Einheit kommen lassend. Vielleicht ist es aus dem Blick verständlicher.
Ja, man könnte die Außenseiterposition noch stärker betonen. Ich denke mal drüber nach, was ein wenig dauern kann, weil jetzt definitv das Jahr wieder beginnt.
Besten Dank für Deine Zeit!
Herzlich
rieger

Hallo Bea Milana,
ja, der Punkt passt gut. Ich mache das in einer Sammelaktion demnächst mit den anderen Vorschlägen, die gemacht wurden und die plausibel erscheinen.
Ein Guter. Da dachte ich mir, sie hatte ja keinen Mann, die Tochter lebt in der Stadt. Sie erlebt den Mann der Tochter ja nicht so oft und ob gut oder schlecht stellt sich ja meistens im Alltag heraus. Auf Besuch kann man sich ja auch mal verstellen. Aber, dass das beim Lesen etwas verstört, kann schon sein.
Wow, das klingt nach einem krassen und dramatischen Erlebnis. Im Süden der Republik ist man ja vor solch brachialen Wasserattacken gefeit. Da richten aber Flüsse auch oft enorme Schäden an.
Besten Dank für Deine Besprechung und schön, dass Dir der Text so gut gefallen hat!
Herzlich
rieger

 

Hallo rieger,

deine Geschichte berührt mich sehr. Der Kniff mit dem vorgezogenen Ende steigert die Dramatik. Natürlich dachte ich: O nein, lass sie davonkommen!
Aber das wäre wohl nicht im Sinne der namenlosen Protagonistin gewesen. Auch diese flapsig-kühle Aussage des Polizisten beim Auffinden der Leiche und die nachgestellte Vorgeschichte, die zeigt, dass eben ein Mensch mit seiner Persönlichkeit hinter der Anonymität des Augenblicks steht, hat mir sehr gut gefallen.
Meine Lieblingsstelle:

Nach drei Tagen zog es sich wie ein erschöpftes, weidwund geschossenes Tier, das mit seiner Kralle durch die Landschaft gefahren war, in das Flussbett zurück
Sehr gerne gelesen, vielen Dank und lieben Gruß Damaris

 

Hallo Damaris,
das freut mich sehr, dass Du die alte Geschichte hervorgeholt hast und noch mehr freuts mich, dass sie Dir gefallen hat. Und dann finde ich auch schön, dass Dir gerade der Satz gefällt, der vielleicht manchen in der Metaphorik übertrieben erscheint. Was Du ansprichst zu namenlos ist tatsächlich eine Überlegung gewesen, dass die Frau eben nur als Frau vom Fluss benannt wird, dadurch vielleicht archetypisch wirkt und aber auch, wie Du sagst, anonym bleibt.
Also, echt schön! Danke!
rieger

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom