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Dünnes Eis
Die Eisfläche zog sie magisch an; als sie um die Straßenecke bogen, nach einem Einkauf in der winterlichen Stadt. Am Ende des Urlaubs, auf den sie sich bereits das ganze Jahr über gefreut hatten und in dem sie die Vorweihnachtszeit in der fremden Stadt genossen.
Die Lichter der Hochhäuser brachen sich auf der matt glänzenden Oberfläche. Grün, gelb, rot, blau und lila wie die zu einem Zopf gedrehten Zuckerstangen des Verkäufers, der Kindern lautstark seine klebrige Ware anbot, aber vergebens gegen die Umgebungsgeräusche ankämpfte. Sein Rufen verhallte genauso wie die "Hotdog"-Rufe des Mannes mit der weißen Schirmmütze vor seinem kinderwagengroßen Handkarren mit großen Speichenrädern, unter dessen Silber glänzenden, bauchigen Abdeckhauben dampfende Würste und kross gebratene Zwiebelstreifen auf hungrige Münder warteten.
In Fetzen drang der Lärm der Stadt an die Eislauffläche, die die Größe eines Fußballplatzes hatte und von alten Bäumen umstanden war. Kahle, knorrige Äste, die ihre Blätter abgeworfen hatten. Zwecklos, sich bereits heute dem Frühling entgegen zu recken, er würde noch auf sich warten lassen.
Sie schnürten die Schuhe, gaben ihre prall gefüllten Einkaufstaschen ab und betraten die glatte Fläche wie Dutzende Gleichgesinnter, die ebenfalls den Zauber des Eislaufs erleben wollten: Leicht vor sich hin gleiten, Bewegungen ohne großen Kraftaufwand. Die Schlittschuhe, - feucht und klamm im Inneren -, die sie am Rand der Eisfläche gegen eine geringe Mietgebühr für eine Stunde geliehen hatten und die sie noch wie Fremdkörper an ihren Beinen empfanden, gaben die Richtung vor, als sie die ersten gleitenden Schritte wagten. Fast schien es, als steuerten die Schuhe ihre Bewegungen, gaben die Richtung vor, in der sie liefen.
Plötzlich ging sein Blick auf die Eisfläche unter seinen Schlittschuhen. Er stellte sich vor, dass es vom Bodengrund her gesehen wie eine dicke Milchglasscheibe wirken würde, durch die sich nur Umrisse, Schemen, gelegentliche Farbkleckse erkennen ließen. Könnte man etwas sehen, etwas hören, wenn man unter die Eisoberfläche rutschte? Bewegungen wie Schatten. Sonnenlicht abgedämpft wie hinter einem Tuch. Gedämpftes Grundrauschen ohne jegliche Nuance. Glucksen und Blubbern das anzeigte, dass die Bestandteile der Eisplatte fließendes Wasser, Sauerstoff und Kälte wären.
Er war sich sicher: Ganz am Ende des Eisfeldes musste es eine Stelle geben, eine Sollbruchstelle, die jeder See zu haben schien; dünn wie die oberste Schicht eines kalt gewordenen Puddings in einer rechteckigen Terrine. Als Gefahrenstelle nur von demjenigen wahrgenommen, der das Terrain kannte. Davon zu erzählen wusste, dass dies in jedem Jahr so war. An diesem Ort, an exakt derselben Stelle. Jahr für Jahr, immer wieder. Vielleicht verursacht durch eine Strömung am Ende des Feldes. Wenn man umsichtig war, durch ein rot-weißes Flatterband abgesperrt. Durch das Wort "Warning" eine gleichzeitig abschreckende wie auch magnetisierende Wirkung entfaltend.
Plötzlich sah er es vor sich.
Zuerst nur eine kleine Pfütze Wasser, die sich auf dem Eis an einer Stelle bildete, die im hinteren Teil des Platzes lag. Dann: Eismuster wie Spinnweben, die sich zu einem Punkt hin sammelten, einem dunklen Loch, sich von Sekunde zu Sekunde vergrößernd, einbrechende, schnell versinkende Eisschollen.
Der unglückliche Eisläufer, zur falschen Sekunde am falschen Platz, wie man das immer so lapidar daher sagt. Ungläubiges Entsetzen, und die Gewissheit, dass niemand, einmal unter die Eisfläche gerutscht, die undurchdringliche Schicht mit den Fingernägeln von unten aufkratzen konnte, mochte man noch so stark sein. Mochte der Überlebenswille noch so mächtig sein, die Willensleistung sich dem Nachlassen der körperlichen Kräfte entgegenstemmen. Aufkommende Eiseskälte, Lähmung. Dahin treiben im Milchglasdunkel. Absinken ins eisige Grab.
Ihren Blick sah er nicht. Es war, als spürte er ihn als fragendes Erhaschen seiner Gedanken und Gefühle. Fürsorge und Liebe gepaart mit einem Hauch Neugier und Humor.
Er spürte, wie ihre Hand an seinem Ärmel zupfte und nach seiner tastete.
Nein, das hier war nicht die Mosel oberhalb der Staustufe, kurz vor der Mündung in den Rhein. Tief und dunkel und mit ihrer Eisschicht ein fast vergessenes Schauspiel im Winter des Jahres 83/84. Einer unvergesslichen Episode aus den Anfangsjahren ihrer Liebe.
Als sie beide, die Hände ineinander verkrampft, die zugefrorene Mosel überquerten. Die Angst vor dem Einbrechen wie ein tief hängender, dunkler Schatten drohend über ihnen schwebte. Sie sich aber vor dem Betreten der Eisfläche geschworen hatten, dieses Abenteuer gemeinsam anzugehen und es zu bestehen. Ja, sie waren sich sicher: Nur gemeinsam würden Sie es bestehen können!
Letztlich gelang ihnen die Überquerung im Strom der Menschen, die dies ebenfalls gewagt hatten und sie lagen sich am gegenüberliegenden Ufer überglücklich in den Armen Betrachteten das bestandene Abenteuer als weiteren Beweis ihrer wachsenden, unzertrennbaren Liebe.
"Dies hier", und sie machte mit ihrem Arm eine weite Bewegung, "dies hier ist nicht die Mosel. Kein zugefrorener Fluss, tief und schwarz. Es ist nur eine künstlich angelegte Eislauffläche mitten im Herzen New York Citys. 10 Zentimeter tief und fest wie eine verschalte Betonfläche".
Er spürte den Ruck durch seinen Körper gehen, die albtraumhaften Eingebungen vom Einbrechen und Versinken in endloses, schwarzes Tief, zerplatzten wie zu prall gefüllte Luftballons. Der Duft von Popcorn und heißen, alkoholischen Getränken zog in seine Nase. Er fühlte, wie die Lähmung in seinem Körper zurückging, Wärme ihn durchflutet. Übermut!
"Auf geht's, weiter!" rief er ihr zu und streckte ihr seine Hand entgegen. Wie damals. Im Winter auf der Mosel.