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Die Erscheinung - eine Weihnachtsgeschichte

Beitritt
05.03.2013
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Die Erscheinung - eine Weihnachtsgeschichte

Was ist die Adventszeit?
Adventszeit, das ist Glühwein,
Adventszeit, das ist Kerzenlicht,
Adventszeit, das ist der Duft nach Mhhh aus der Küche.

Adventszeit, das ist Dunkelheit,
Adventszeit, das ist der Krampus
Adventszeit, das ist die wilde Jagd.

Wann ist die Adventszeit?
Wenn man etwas erwartet.
Wann erwartet man etwas?
Immer
Wo erwartet man etwas?
Überall.
Wer erwartet etwas?
Alle.
Was also ist die Adventszeit?
Die Adventszeit, das ist das Leben!

Wütend hieb Lado Pinzer, erfolgloser Kunstmaler, mit einem Kerzenständer aus Messing auf das Radiogerät ein, als zum ersten Adventssonntag das Lied „Nun jauchzet, all ihr Frommen“ daraus ertönte. Seine Wut verschaffte sich Luft, sonst hätte sie ihn erstickt. Seit dem Herzinfarkt seiner Frau durchwühlten Seelenschmerzen seine Glieder. Immer wieder starrte er auf die Vision, die er verscheuchen wollte: Vier Totengräber senken den Sarg mit dem Leichnam seiner Frau ins Grab. Gesehen hatte er das nicht. Er war nicht auf der Beerdigung.
Sein Körper wollte den Tod seiner Frau rückgängig machen. Er bäumte sich gegen das dumpfe Geräusch des Sarges auf, der auf den Boden der Totengrube aufsetzt. Kontaktversuche seiner Kindern, Nachbarn und Verwandten hatte er unterbunden: Das Telefon nahm er nicht ab, die Tür öffnete er nicht. Einsam wandelte er durch die Tage, fühllos, als wäre er von einer dicken Eisschicht umgeben. Eines Tages durchstieß er den Eispanzer mit dem Küchenmesser: Die schrecklichen Schmerzen brachten das Eis zum Schmelzen, er fühlte wieder innere Lebendigkeit. Bald betäubte die Kälte sein Leiden.
Eine Woche vor Weihnachten fühlte er sich in besonderer Weise gequält. Wer seinen Partner überlebt, existiert im Niemandsland zwischen Himmel und Erde.
Das ist die Hölle!
Die Kinder hatten ihn zum Weihnachtsabend eingeladen. Er hatte abgesagt. Sein Gewissen plagte ihn. War er nicht durch sein Verhalten an ihrem frühen Tod mit fünfundfünfzig Jahren schuldig? Hatte er nicht nur der Kunst gelebt und die Verstorbene vernachlässigt? Ein Herzinfarkt könne auch seelische Ursachen haben, meinten die beiden Töchter und die beiden Söhne.
Frau ins Grab gebracht.
Im Beruf gescheitert.
Leben verpfuscht.
Noch drei Tage bis zum Weihnachtsabend. Er blieb im Bett und wollte über sich nachdenken. Lebensbilanz: Sechzig war er geworden. Berühmter Künstler? Galerien in New York, Paris, Berlin?
Denkste: Kleinstgalerien von Direktorenfrauen in Dörfern und Vorstädten waren seine Ausstellungsorte. Sein Bauernhaus, fünfzehn Minuten von der Bushaltestelle zur nächsten Stadt entfernt, hatte er von einem kleinen Erbe billig gekauft. Den Lebensunterhalt verdiente er mit Malstunden und Antiquitätenhandel.
Fazit: »Lebenskünstler«, zu mehr hatte es nicht gereicht.
Wie hatte es seine Frau geschafft, vier Kinder großzuziehen?
Er wusste es nicht. Sein Leben hatte sich in einer anderen Welt abgespielt.
In welcher?
Er zuckte die Schultern und wusste es auch nicht mehr.
Zwei Tage bis zum Weihnachtsabend. Er stieg in den Speicher und holte die fünfundachtzig Krippenfiguren und den Krippenberg herunter. Die Figuren stellte er so auf, wie seine Frau sie jedes Jahr platziert hatte.
„Bist du wahnsinnig? Warum machst du das?“, warf er sich während des Aufbaus der Krippe vor.
Wollte er diesen religiösen Firlefanz nicht schon oft anzünden? Jetzt war doch die Gelegenheit dazu!
Er wunderte sich über sich, als er am nächsten Tag in den Wald ging und mit einem Christbaum nach Hause kam, den er dann auch noch schmückte. Die Buntheit der Kugeln und das Glitzern des Lamettas verursachtem ihm bisher immer künstlerisches Bauchgrimmen. Heute betrachtete er zufrieden sein Werk. Nicht, dass er seine Frau übertroffen hätte, aber dafür, dass er Weihnachtskitsch verachtete, war ihm das Baumschmücken gut gelungen, lobte er sich.
Nun noch Heiliger Abend, siebzehn Uhr: draußen tiefe Dunkelheit um den Einödhof herum. Kerzen am Baum anzünden - echte! Beleuchtung Krippe einschalten. Restliche Beleuchtung ausmachen.
Und nun? Es drängten sich Verse auf die Lippen, die er als Kind hatte aufsagen müssen. Er begann aus der Heiligen Nacht von Ludwig Thoma zu zitieren: »Und ko ma koa Bettstatt ...«
Es läutete Sturm, einmal, zweimal, dreimal.
Lado rührte sich nicht, gefangen saß er in der Erinnerung an vergangene Christabende.
Pochen an die Tür, Frauenschreie: »Hallo, ist hier jemand. Ich sehe doch Licht!«
Lado verließ die Vergangenheit und ging wütend zur Tür. Draußen stand eine Dame, im wahrsten Sinne des Wortes: hochgewachsen, festliches Goldhaar, edle Gesichtszüge mit Mona-Lisa- Lächeln. Sie strahlte Herzenswärme aus und Selbstbewusstsein. Ganz das Gegenteil von seiner Frau.
»Was wollen Sie!«
»Sie?! Na, du bist komisch.«
»Wer sind Sie?«
»Das fragst du? Wir kennen uns schon so lange und dann fragst du, wer ich bin!«
»Ich kenne Sie nicht!«
»Das war dein größter Fehler im Leben! Du kennst mich, hast mich aber immer übersehen.«
»Was wollen Sie?«
»Stell dich nicht so an, dummer Junge. Machen wir einfach, was zu tun ist!«
Sie stürmte an ihm vorbei ins Wohnzimmer, legte ihren Pelzmantel ab und warf ihn über ein Sofa. Sie stellte sich vor den Christbaum und begann: »A Wiagn passat freili …«
Nach einer kurzen Zeit der Verblüffung fiel Lado ein und sie sagten beide das Gedicht auf, als hätten sie es tagelang geübt. Anschließend sangen sie die üblichen Lieder, bis die Wachskerzen niedergebrannt waren.
Dann eilte die Dame in ihrem langhellblauen Ballkleid in die Küche und hantierte dort herum, als lebte sie schon seit Jahren hier.
Das Abendessen verlief wie in einem Zauber: Während er den Eindruck hatte, dass dieses Fest wie die früheren ablief, war ihm bewusst, dass er mit dieser Frau eine Art Kennenlern-Kommunikation führte. Wo geboren, studiert, gelebt? Gemeinsame Bekannte, Reisen nach. Die Fremde wurde ihm langsam vertrauter. Nach Mitternacht fing die Frau an, von ihrer Liebe zu ihm, von dem Verlangen, bei ihm, dem weltberühmten Maler, zu sein. Sie schilderte, was sie alles für ihn machen würde, sie wolle endlich zu ihm kommen. Sie entfesselte ein Wortpandämonium der Liebe einer Frau zu einem Mann.
Atemlos hörte er ihr zu: »Ich kenne Sie doch gar nicht«, beteuerte er der Dame, leistete aber keinen Widerstand, als sie ihn ins Schlafzimmer führte.
Wie ein weihnachtlicher Liebesakt auszusehen hat, war Lado nicht klar. Aber was er mit dieser unbekannten Besucherin viele Stunden erlebt hatte, das fiel sicher nicht darunter.
So um elf Uhr am ersten Weihnachtstag weckten lautes Reden und Rufen den Maler.
»Da bist du, du Faulpelz. Fröhliche Weihnachten, Papi!«, rief seine jüngste Tochter und küsste ihn. Die anderen Kinder und ihre Partner drängten ins Schlafzimmer. Sie begrüßten und küssten ihn ebenfalls.
Noch trunken von der nächtlichen Besucherin fragte Lado: »Wo ist sie?«
»Wir sollen dich von ihr schön grüßen. Die Krise ist überstanden. Mutti wird in einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen. Freust du dich nicht?«
»Aber sie ist doch schon tot«, wandte er ein.
»Aber Papi«, erklärte die ältere Tochter, »wir waren doch gestern bei ihr. Sie lebt! Was hast du nur?«
»Ihr habt keine fremde Frau im Haus gesehen?«
»Zu viel Rotwein gestern Abend getrunken?«, mokierte sich der Älteste. »Jetzt zieh dich an, wir fahren zum Mittagessen zum Schlemmerhof.«
Beim Anziehen entdeckte Lado unter einem Kopfkissen einen Ohrring. War er es oder war er es nicht? So einen hatte er doch seiner Frau zur Hochzeit geschenkt! Wie kam diese nächtliche Besucherin zu dem Schmuckstück?
Nach dem Weihnachtsessen besuchten sie seine Frau im Krankenhaus.
Als er kurze Zeit mit ihr allein war, fragte er sie: „Wo hast du den anderen Ohrring?“ Erschrocken tastete die Kranke die Ohren ab. „Da fehlt ja einer!“, rief sie entsetzt aus.
„Was fehlt?“, wollte die Tochter wissen, die gerade das Zimmer betrat.
„Ein Ohrring, das Hochzeitsgeschenk von Vati!“ Unsicher starrte der Maler auf seine Frau.
„Du hattest gestern doch noch beide an!“, beteuerte die Tochter. „Wir hatten doch darüber gesprochen, dass sie schön sind wie am ersten Tag!“
„Richtig, gestern waren beide da!“, bestätigte die Mutter. Eine Suche nach dem verlorenen Ohrring brachte kein Ergebnis.
Eine innere Stimme warnte den Mann, seinen gefundenen Ohrring, der vielleicht der Gesuchte war, hervorzukramen und zu zeigen. Peinliche Fragen waren zu erwarten! „Hast du am Weihnachtsabend deine kranke Frau betrogen?“ Etwas stimmte nicht.
Man hatte den Vater zum Einödhof zurückgefahren und sich verabschiedet, als ihn ein plötzlicher Gestaltungsdrang ins Atelier eilen ließ. In die Mitte einer riesigen Leinwand malte er in vielfacher Vergrößerung die Umrisse des Ohrrings, zerriss Familienfotos und klebte Teile wahllos auf die Leinwand. Dann zerfetzte er mehrere Geschichtsbücher und verteilte die Ausrisse über die gesamte Fläche. Er färbte die Fetzen so ein, dass die Elemente fließend ineinander übergingen, ohne dass die Erkennbarkeit des Einzelstücks gemildert wurde.
Die Babyfotos der Töchter fanden Platz neben dem brennenden Reichstag, aus Farbwolken schimmerten die Gesichter berühmter Männer von Christus bis Christo, schattenhaft erkannte man Szenen wichtiger politischer Ereignisse wie den Fall der Mauer. Dazwischen blinkten, elektronisch gesteuert, berühmte Sinnsprüche auf: Ich liebe doch alle Menschen! Und durchsetzt war dieses Sammelsurium von dem Porträt seiner Frau, das im Hintergrund ganz zart und verschwommen in der Tropfenform des Ohrrings zu entdecken war.
An Silvester kam seine Frau nach Hause und fand einen veränderten Mann vor. Er begegnete ihr liebevoll, hilfsbereit und fürsorglich, litt er doch darunter, dass er sie so lange für tot gehalten hatte. Und dann erst wegen der Weihnachtsnacht.
Die Familie und die Nachbarn begrüßten die Frau mit einem Willkommensfest. Große Bewunderung zollten sie dem Bild des Malers, das er seiner Frau schenkte: „Ein Meisterwerk!«
Als sie um Mitternacht auf das neue Jahr anstießen, sagte Lado zu seiner Frau: „Merkwürdig war das mit dem Ohrring.“
»Ach«, antwortete sie,«man muss nicht alles wissen.«

 

Hallo Stefanie,

ich bin ganz neu hier und deine Geschichte ist nun die erste, die ich gelesen habe und kommentiere.
Willkommen hier, ich bin zwar nicht neu hier, war aber längere Zeit abgängig.
Ich habe auch noch nicht viele Kurzgeschichten geschrieben, doch ich finde, dass das Tempo ein wichtiges Kriterium ist. Ich verstehe sofort worum es geht (obwohl mir das Gedicht leider nicht gefällt), und ich habe ein Bild von diesem Mann vor Augen, das ist gut!
Ich gehe davon aus, dass du Tempo mit Spannung verbindest. Das treibt den Leser vor sich her, er möchte das Ende wissen. Dass der Mann bildhaft vor deinen Augen steht, das freut mich. Aber in meinem Text sind Stolpersteine eingebaut. Nichts im Leben verläuft gradlinig.
Aber ich fände es wichtig zu erfahren, warum er nun gedacht hat, dass seine Frau tot sei.
Hier wird es nun absichtlich kompliziert. Könnte er durch die Diagnose bei seiner Frau nicht so geschockt sein, dass er das vorweggenommene Ende seiner Frau aus lauter Angst davor für wahr hält? Er überspringt sozusagen die Sterbephase. So, wie viele Menschen den worst case bedenken. Da Literatur auch ein wenig übertreiben darf, scheint mir diese Dissoziation auf ein Trauma durchaus nachvollziehbar.
Die Kinder haben sich auch nicht gewundert, dass er das dachte?
So wie manche Kinder die Merkwürdigkeiten der Eltern fraglos tolerieren. Sie mussten sich auch um die Mutter kümmern-
Und ich finde es komisch, dass er nicht verwirrter über die Fremde in seinem Haus und seinem Bett war (das kam zu kurz, finde ich)
Die fremde Frau ist natürlich geheimnisvoll. Ist sie wirklich? Ist es seine Frau, die Weihnachten mit ihm verbringen wollte? Da gibt es noch andere Möglichkeiten. Sie ist eine Erscheinung, eine Epiphanie. Wenn du hier die Geburt Christi mit der Erscheinung der fremden oder ja bekannten Frau koppelst und mit dem Bild, das er nun malen kann, verbindest, könntest du vielleicht den weihnachtlichen Gedanken herauskristallisieren, dass der Mann das „Licht“ (auch eine weihnachtliche Metapher) gesehen hat. Und wenn du den Begriff Epiphanie weiter durchforschen würdest, so zeigt sich, dass die Erscheinung eines Gottes, auch wenn sie eine Göttin ist, durchaus weihnachtlich ist. Deshalb habe ich mir das Bett erspart-
und sah die Fremde denn nun aus wie seine Frau? Dass sich die Geschichte nicht auflöst finde ich okay, aber mir fehlt der Gedankengang, die Überlegungen des Mannes dazu.
Die sollte sich der Leser machen. Übrigens sind meine Gedanken auch nur die eines Lesers, nicht des Schreibers. Man kann und soll andere Gedanken dazu entwickeln.
Aber vielleicht denke ich zu kompliziert.
Nun ja das wären auf jeden Fall meine Anmerkungen und ich hoffe sie sind dir dienlich.
Ich hoffe, meine Anmerkungen sind dir dienlich und bedanke mich für deine Kommentare.
Fröhlichst
Wilhelm Berliner

 

Hallo Wilhelm Berliner,

Das ist die Hölle?
Ich würde eher schreiben Die Hölle? oder Ist das die Hölle? Bei deiner Wortstellung kam ich ins Stocken.

Kerzen am Baum anzünden - [es sind] echte!
es sind würde ich streichen.

Beleuchtung Krippe einschalten. Restliche Elektrobeleuchtung ausmachen.
Finde ich recht umständlich Rest ausschalten würde vielleicht genügen.

Merkwürdig war das mit dem Ohrring
Der Ohrring ist ja wohl immer noch "verschwunden" - also impliziert er mit dieser Aussage dóch, dass er den Besuch seiner Frau akzeptiert.Dann kann ich ihren Schlusssatz so verstehen, dass sie ihm nicht erzählen will, wieso bzw. in welcher Gestalt sie bei ihm war.

Gerne gelesen vom Jobär

 

Hallo Jobär,
vielen Dank für die stilistischen Hinweise, sind eingearbeitet.

Der Ohrring ist ja wohl immer noch "verschwunden" - also impliziert er mit dieser Aussage dóch, dass er den Besuch seiner Frau akzeptiert.Dann kann ich ihren Schlusssatz so verstehen, dass sie ihm nicht erzählen will, wieso bzw. in welcher Gestalt sie bei ihm war.
Eine gute Interpretation ist das. Bei beiden ereignet sich eine Wandlung. Und sie sehen einander anders. Sie wird gesund, er malt ein Meisterwerk. Und sie ergeben sich in das Schicksal des Menschen, nicht alles wissen zu können. Geheimnisse werden ja um die Weihnachtszeit viele gemacht.
Vielen Dank für diene Hinweise.
Fröhlichst
Wilhelm Berliner

 

Wann ist die Adventszeit?
Wenn man etwas erwartet.

Hallo Wilhelm,

schön, dass Du mal wieder vorbeischaust und dann gleich mit einer geradezu „abenteuerlichen“ Geschichte. Während des Lesens –

Er bäumte sich gegen das dumpfe Geräusch des Sarges auf, der auf den Boden der Totengrube aufsetzt. Seinen Kindern, Nachbarn und Verwandten hatte er jeden Kontakt mit ihm verboten. Einsam ...
- kam mir der Einfall, Gottfried Kellers – brotloser Künstler (gar gelernter Kunstmaler!) wie unser notorisch erfolgloser Held (oder besser: Antiheld Lado P.) - Gedanken eines lebendig Begrabenen zu zitieren, das aber weit über ein herkömmliches Gedicht hinausgeht (und länger als Deine geheimnisvolle Erzählung) und den Rahmen sprengte. Also greif ich stattdessen auf die Nähe des Advents („Ankunft“) zum Abenteuer zurück, denn wer außer uns beiden und einer handvoll Leuten, weiß denn schon, dass das Wort „Abenteuer“ im Advent seinen Ursprung findet, wie die Brüder Grimm in ihrem Wörterbuch sofort klarstellen „mittelhochdeutsch ābentiure, āventiure < altfranzösisch aventure, über das Vulgärlateinische zu lateinisch advenire, Advent“ (wörterbuchnetz, grimmsches wörterbuch, Stichwort „abenteuer“, und sie liefern gleich alle Irrungen und Wirrungen mit, indem sie fortfahren „abenteuer, n. früher f., aus dem romanischen adventura, aventura, aventure, woher es schon die mhd. dichter entlehnten und häufig in verschiednen bedeutungen verwandten, … ; nicht zu schreiben abentheuer, noch weniger abendtheuer, obgleich manche dabei an abend und theuer (tiure), andere gar an affe und eben (affenteuer, ebenteuer), ohne dafür einen grund zu wissen, gedacht haben werden; einige bezogen ebenteuer, ebentheuer vielleicht auf eventus. das nnl. Avontuur … offenbar bezug auf avond. Weiblich gebraucht taucht es noch hin und wieder im 16. 17. jh. vor: seiner abenthür. … ; die wigoleisisch abenteur.…“ usw., bis zur Bedeutung
„Mit diesem abenteuer nun verknüpft sich stets die vorstellung eines ungewöhnlichen, seltsamen, unsichern ereignisses oder wagnisses, nicht nur eines schweren, ungeheuern, unglücklichen, sondern auch artigen und erwünschten“ (ebd.), was mir glatt auf Deine Geschichte mit der lieben Frau Aventiure anwenden lässt.

Und es ist wahrhaftig

Wer seinen Partner überlebt, existiert im Niemandsland zwischen Himmel und Erde.
Das ist die Hölle!
Erleben zu müssen, wie alle um einen herum wegsterben ...

Die Krux, dass mit der Industrialisierung und der Individualisierung die Strukturen der Großfamilie zerschlagen wurden zunächst zur Kleinfamilie (Eltern + Kinder) und heute zum evtl. Alleinerziehenden hinab zum Singledasein. Dabei weiß doch jeder, dass der Mensch nicht gern allein sei … Da wird man wunderlich … Zumindest für Außenstehende, manchmal auch sich selbst

Er wunderte sich über sich, als er am nächsten Tag in den Wald ging und mit einem Christbaum nach Hause kam, den er dann auch noch schmückte.

Triviales

In dem Vers

Adventszeit, das ist der Duft nach Mhhh aus der Küche.
Taucht eine Lautmalerei im „mhhh“ auf, wie ich sie eigentlich nur bei jungen Leuten bisher gefunden habe und mir vordem nur in der Umkehrung als „hm“, vokalloses, stumpfes mit angehauchtem, geradezu stummen h [hm]. Ich wüsste nichts mit dem dreifachen Dehnungs-h anzufangen, außer es zöge halt ein unbetontes [m:] nach sich.

Nicht auszuschließen, dass ich nochmals vorbeischau, aber gerade kommt ein kleiner Wicht gerade in Opahausen an, der die volle Aufmerksamkeit des Graurückens erfordert.

Bis bald und ein schönes Wochenende ausm Pott vom

Friedel

 

Lieber Friedel,
ja, das Ankommen ist schon immer ein Abenteuer gewesen, und man stelle sich nur vor, wie die Ankunft eines Übernatürlichen erst für Aufregung gesorgt haben muss, auf beiden Seiten. Die Menschen erkennen plötzlich einen Jenseitsmenschen und fallen auf die Knie, andere fressen nur Lebkuchen, um leben zu können, leben aber flach wie ein Fladenbrot. Und der Ankommende meint, er sei etwas ganz Besonderes, der geheimnisvolle Fremde.
Ankunft, Licht, Leben, Abenteuer, Erscheinung, Epiphanie - den Mut muss man haben, selber anzukommen und jemanden ankommen zu lassen, der plötzich wie ein Gespenst vor der Tür steht. Machthochdietür. Gar solche anzulocken gebraucht es Tapferkeit, denn wer weiß schon, was so Dahergelaufene von einem wollen. Ihrkinderleinkommet. Und dann noch im richtigen Leben anzukommen, ja mei, do hört sich ois aaf. Das sind/ist eben die oder das Weihnachtswunder. Manche adornisieren etwas vom falschen und richtigen Leben. Bei den vielen Leben, die wir haben, kommt man halt manchmal durcheinander. Aber Weihnachten und eine kluge Frau richten das schon wieder.
Dank sei dir für die richtigen Worte im richtigen Text.
Mit fröhlichem Waldlergruß
Wilhelm Berliner

 

„Ain künigin von Arragon, was schon und zart,
da für ich kniet, zu willen raicht ich ir den bart,
mit hendlein weiss bant si darein ain ringlin zart
lieplich und sprach: ›non maiplus dis ligaides.‹
Von iren handen ward ich in die oren mein
gestochen durch mit ainem messin nädelein,
nach ir gewonheit sloss si mir zwen ring dorein, ...“
Oswald von Wolkenstein:
Es fügt sich, do ich was von zehen jaren alt​

Beim Anziehen entdeckte Lado unter einem Kopfkissen einen Ohrring. War er es oder war er es nicht? So einen hatte er doch seiner Frau zur Hochzeit geschenkt! Wie kam diese nächtliche Besucherin zu dem Schmuckstück?

Kann ich die Erscheinung der Fremden noch als den Besuch der Muse deuten, von der Lado mehr als geküsst wird,

lieber Wilhelm,

so bleibt das Geheimnis der Ohrringe.

Ring und Kreis, im Idealfall ohne Anfang und Ende (was natürlich jedem, der zeichnet oder malt oder Ringe herstellt, ein müdes Lächeln „abringen“ wird, weiß doch der Handwerker, wo seine Kunst beginnt und wo sie folglich auch endet). Gleichwohl weiß er auch um die Symbolik.

Der Ring der Zeit/des Jahres durch eine in sich zurücklaufende Reihenfolge der Jahreszeiten ergibt die Vorstellung von Ewigkeit nebst der Verkettung von festen Abläufen, die auch im Immerwiederkehrenden lange weilen können – wie eben auch im richtigen Leben die magische Wirkung des Rings in Einheit und Geschlossenheit, Treue und Verlässlichkeit hineininterpretiert wird, denn dem ein Nasenring verpasst wird oder an die Kette gelegt wird, wird's anders sehen.

Möglich, dass die Symbolik des Ohrrings in der Kunst des Gehörsinns selbst schon liegt. Ist der Gesichtssinn immer auf Licht/Helligkeit angewiesen, so hören wir i. d. R. nachts so gut wie am Tag und damit auch Aufmerksamkeit gegenüber dem Anderen erst über den ganzen Tag hinweg ermöglicht.

Gehörig/gehören, aber auch gehorchen kommen vom Verb „hören“.

Am Rande sei erwähnt, dass der ahd. hring auch als „Ring der Versammlung“ im ital. und frz. entlehnt wurde und die Symbolik des Ringtausches bei Verlobung und Trauung erst mit dem Katholizismus eingeführt wurde bei den Völkern germanistischer Zunge.

Hier hab ich schon beim ersten Mal gestockt

Seinen Kindern, Nachbarn und Verwandten hatte er jeden Kontakt mit ihm verboten.
Hm, "mit ihm verboten" würd ich so auf den vorher erwähnten Sarg beziehn. Oder meint er den Kontakt zu/mit seiner Person, sich selbst halt?

Als sie um Mitternacht auf das neue Jahr anstießen, sagte Lado zu seiner Frau: „Merkwürdig war das mit dem Ohrring.“
»Ach«, antwortete sie,«man muss nicht alles wissen.«

Gruß

Friedel

 

War nicht oft in der Künstlerschaft die Muse als hehre Ausrede für niedere Gelüste zu finden?
Lieber Friedel.
wir haben da also einen eingebildeten Witwer, der die Fürsorge für seine kranke Fra schwänzt, war sowieso immer 'ne Null. Zerfließt in Selbstmitleid usw.
Da überwältigt ihn so mirnichtsdirnichts weihnachtliches Rühren und der Geist der Frau führt ihn auf den rechten christlichen Weg. Wer in Bayern am Weihnachtsabend Thoma zitiert, kann nur gut sein.
Aber wer kommt nun vor draußen rein?

Fremden noch als den Besuch der Muse deuten, von der Lado mehr als geküsst wird,
Kann sein, aber da gibt es doch auch andere Möglichkeiten. Die pure Einbildung, eine Geistererscheinung, eine Wahnvorstellung. Oder die Frau ist dem Krankenhaus entfleucht und kommt als Überraschungsgast. Er kennt sie nicht? Sieht er sie mit anderen Augen?
Und nun erst die Ohrringe? Alles gut angemerkt. Zwei Ohren, zwei Ohrringe , eine Person, und nun am Schluss?
Das Unglaubliche geschieht an Weihnachten. Gerade das, was jedem gewohnten Sinn widerspricht, wird durch das unglaubwürdige Wunder der unbefleckten Empfängnis und der Erscheinung Gottes als Mensch als Prüfung der Glaubensstärle des Menschen inszeniert.
Wie schön die Frau sagt, man muss nicht alles wissen, sonst kann man nicht glauben.
In diesem Sinne fröhliche Weihnachten
Wilhelm

 

Wer in Bayern am Weihnachtsabend Thoma zitiert, kann nur gut sein.

Luja, sag ich und frohlocke, auf dass der Dienstmann Alois rechtzeitig der bairischen Landesregierung Weisheiten und die frohe Botschaft überbringe. Möge er nicht im Wirthaus versacken!

War nicht oft in der Künstlerschaft die Muse als hehre Ausrede für niedere Gelüste zu finden?
Claro este,

lieber Wilhelm,

alles, was Du sagst ist richtig, und ich will auch gar nicht alles wissen. Und "glauben" heißt allemal nicht wissen und zeigt darum auch, dass man jemandem vertraut, der da Wissenslücken auffüllt, im Extremfall als Gottvertrauen. Die alten Bedeutungen des ahd. gilouben/mhd. gelouben hatten nicht umsonst die Nähe der Dreiheit (Liebe, Glaube, Hoffnung) im Korintherbrief im "für lieb halten", wohlgemerkt, nicht lieben!, so eine Art Pivotelement zwischen Liebe und Hoffnung halt. Der Duden fügt der alten Bedeutung noch "gutheißen" hinzu - womit wir in die Nähe des post truth/postfaktischen sind. Es ist anstrengend, a) sein Gehirn anzuschalten und b) es dann auch noch gebrauchen zu müssen, um nicht alles zu glauben, was man so liest, hört und sieht - nicht nur in den modernen Medien.

Immer ein Vergnügen, ein wenig mit Dear zu parlieren, findet der

Friedel,
der auch eine frohe Weihnacht wünscht!

 

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