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Gespräch mit dem Blinden

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08.08.2014
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Gespräch mit dem Blinden

Die Leute strömen in den Zug. Tragen all den Matsch und Dreck an ihren Schuhsohlen herein. Drängeln, keuchen, stampfen, schmatzen und ächzen. Unter ihnen ein blinder Mann. Von schmaler Statur, ein paar graue Haare am Kopf. Ich starre auf den schmutzigen Boden. Mein Herzschlag verschnellert sich. Ich kralle mich an meinem Sitz fest, blicke mich hilflos um. Versuche Halt in diesen leeren und müden Gesichtern, in der Alltagsmonotonie zu finden, doch es gelingt mir nicht. Ich falle und falle immer tiefer, verheddere mich in diesem Gestrüpp aus finsteren Ahnungen, flüsternden Stimmen und dröhnenden Geräuschen.

Wie er dort selbstgefällig herumsteht. Im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht eine Sekunde lang den Boden, auf welchem seine lachhafte Existenz fußt, hinterfragend. Woraus ist dieser verdammte Boden nur gemacht? Und wie kann es sein, dass all die Menschen so problemlos ihren Platz darauf finden, das Laufen auf diesem Boden erlernen? Ungefragt und ohne jede Vorwarnung wirst du auf diesem Boden geboren, und ehe du dich versiehst, bist du gezwungen, Geld zu verdienen, um deine Miete zu zahlen, Steuererklärungen auszufüllen, dich jeden Tag aus dem Bett zu quälen. Und das alles sollst du als selbstverständlich erachten, obwohl du mit jedem Tag, der dir ungewollt aus deinen müden Händen entgleitet, das Leben weniger begreifst und dir alles zunehmend unbewältigbarer erscheint. Dennoch versuchst du, dich anzupassen, versuchst all diesen Erwartungen und Forderungen gerecht zu werden, verlierst dabei so Vieles, was dir wichtig ist, was dich einst ausmachte. Du wirst langweilig, stumpfsinnig, alt und grau, blind und taub, stopfst dich selbst in Schubladen, verlernst das Sehen, bist nicht länger fähig, die unbestreitbare, in den kleinen Dingen liegende, und gewiss nie fortgegangene Schönheit des Lebens zu erkennen.

„Sehr geehrte Fahrgäste! Wir ersuchen Sie, älteren oder behinderten Personen, sowie Personen mit Kleinkindern, die Sitzplätze zu überlassen.“

Ich male mir aus, wie es wohl wäre, ein solch hervorragender und stets abrufbereiter Mustermensch zu sein. Wie es wäre, dem Blinden tatsächlich meinen Sitzplatz anzubieten, hier und jetzt, ihm seine Rolle des wehrlosen Behinderten rhetorisch enzuprügeln. Toleranz würden sie das wohl nennen, würden mir beifällige Blicke zuwerfen, und sich in ihren Plastik-Idealen bestätigt fühlen. Es ist derselbe eingebildete Pöbel, der Plattitüden wie Irren ist menschlich oder Niemand ist vollkommen in die Welt setzt, der immerzu bemüht ist, sich durch seine vermeintlichen Wohltaten von dem restlichen Menschenpack abzuheben.

Und sie beobachten mich. Tausend rachsüchtige Augen. Ich kann es spüren, wie sie jeden meiner Schritte inspizieren, gespannt den nächsten Fehltritt erwarten. Mein Blick fällt unwillkürlich auf den Stock des Blinden, dann auf das gelbe Abzeichen, das er in Form eines Ansteckers auf seiner dunkelblauen Jacke trägt, und mir wird augenblicklich mulmig zumute.

Er wird kommen, ich weiß, dass er herkommen wird. Fordernd und in autoritärer Erscheinung wird er sich vor mir aufbauen, wird sein Elend auf plakative Weise zur Schau stellen.

Er wird Bescheid wissen, wird alles wissen. Und während er mich zermalmt, werde ich bloß weiter in Ratlosigkeit und Selbstmitleid versinken, unverständliche Halbsätze vor mich hermurmelnd.
Wie gerne ich mich von alldem distanzieren würde, von diesem langen und dürren, unbeholfenen Körper, von meinen zerkauten Fingernägeln, meinem ängstlichen Gestottere und Gestammele. Doch ich stecke in mir, in diesem kleinkarierten und neurotischen Ich fest.

Sie wollen, dass ich ihm meinen Sitzplatz überlasse, erwarten, dass ich diesen ganzen Wahnsinn, einfach so, ohne weitere Einwände hinnehme. Ich solle meine Rolle als vollwertiger, lebensfähiger und gutherziger Mensch doch endlich annehmen, solle einfach mal zufrieden sein, mit dem was ich bin! Doch so einfach kann es nicht sein, und so einfach war es auch nie.

Ich blicke die Leute um mich skeptisch an, sehe Frauen mit schönen Gesichtern und hochgesteckten Haaren, sehe ein lachendes Kind, das sich in die Arme seiner Mutter fallen lässt, und spüre wie mein Blut gefriert. Alles bewegt sich, alles bewegt und dreht sich ständig, und mit jedem Moment, der verstreicht, wird das Hämmern und Dröhnen in meinem Schädel lauter und stärker.

Plötzlich sehe ich dich vor mir, wie du mich anschreist, in Tränen ausbrichst, mir die Türe vor der Nase zuknallst, während ich bloß wie gelähmt dastehe, nicht weiß, wie mir geschieht. Und ich lege meine Hände auf mein Gesicht, schließe die Augen, versuche mir einzureden, dass dies nicht mein Leben ist, sondern das eines anderen.
Was könnte ich schon sagen, das von Bestand wäre, dir Trost spendet? Wer bin ich, dass ich die Hölle in dir, deinen Schmerz und deine Angst begreife? Ich werde immer ich sein, dieses abgestumpfte und am Zahnfleisch daherkriechende, die Hände verzweifelt nach Rettung ausstreckende Ich.

Und die Leute lärmen und trampeln, unentwegt und rücksichtslos. Stickige Luft und schmatzende Schuhe. Die Türen öffnen sich erneut. Der unerträgliche Lärm dieser Welt. Leute steigen aus und ein.
Dann erhebt sich eine Frau von ihrem Sitz. Sie dreht sich in Richtung des Blinden und sagt im zuversichtlichen Ton: „Bitte, setzen Sie sich doch!“.
Schlagartig wiederhole ich die Phrase im Kopf, nehme sie auseinander, inspiziere jede Silbe, male mir aus, inwieweit die Worte der Frau, mit ihren Gesichtskonturen, ihrem täglichen Tun, und ihrer inneren Gestalt übereinstimmen.

Und dann ist da dieses Lächeln, dieses selbstzufriedene Lächeln in ihrem Gesicht, in dem Moment, als der Blinde sich für diese freundliche Geste bedankt, und weiter ausführt, es sei auf die meisten Leute in dieser Stadt ja überhaupt kein Verlass mehr, und den Menschen von heute mangle es einfach grundlegend an festen Wertevorstellungen.

Er denkt, er habe mich demaskiert. Sein Urteil über mich steht längst fest. Warum tut er mir das an? Und warum müssen die Menschen nur immer so verdammt erbarmungslos sein, wenn es um ihre Werte geht?

„Ich hoffe, Sie fühlen sich angesprochen.“, sagt er dann in erdrückender Beiläufigkeit, gestikuliert dabei in meine Richtung.

Und in mir staut sich alles auf, mein Atem stockt, ich verschlucke mich an meinen eigenen, unausgesprochenen Worten. Mein Inneres, mein tiefstes, verzweifeltes, ungeheuerliches und sich selbst immerzu zersetzendes und herabstufendes Inneres scheint sich nun gänzlich nach außen zu kehren:

„Ja, Sie haben ja auch leicht reden! Sie wissen ja nicht, wie es sich anfühlt, ein Aussätziger zu sein, keinen Platz auf der Welt zu finden. Jeden Morgen in diesem dunklen Zimmer aufzuwachen, sich vor lauter Angst nicht rühren zu können, die Fenster sind geschlossen, die Gardinen zugezogen. Nicht zu wissen, wo oben, wo unten ist, jeder Schritt führt unaufhaltsam ins Ungewisse. Jeden Tag in diesen Zug zu steigen, immer wieder die gleichen, verzerrten Gesichter, diese nichts ahnenden, verächtlich teilnahmslosen Lügenfratzen erblicken zu müssen, und sich die ganze Zeit über zu fragen: Wer seid ihr? Was macht ihr hier? Und wer zum Teufel bin ich überhaupt?. Von all dem wissen Sie nichts. Dennoch laufen Sie hier mit selbstherrlicher Miene herum, inszenieren sich als ein, vom Leben zermürbter und zerfressener Mann, als einer, der am Rande der Gesellschaft steht. Doch das kaufe ich Ihnen nicht ab, keiner hier nimmt Ihnen das ab.“

„Also entschuldigen Sie mal! Was denn bitte abnehmen? Glauben Sie etwa, dass ich, oder dass irgendjemand anderer in diesem Zug, gegen diese Dinge gefeit ist? Dagegen, ins Ungewisse zu treten, sich für andere verbiegen und verdrehen zu müssen? Schauen Sie mir doch nur mal ins Gesicht! Strahle ich etwa Zufriedenheit aus? Sehe ich wie jemand aus, der man gerne sein möchte?“

„Sie verstehen es einfach nicht, oder? Niemand interessiert sich für Ihre Tiefschläge oder Ihre Ambitionen, Ihr ganzes austauschbares und lächerliches Menschendasein! Genau wie ich, wie jeder andere hier, werden Sie irgendwann nicht mehr sein, das alles hier wird dann keine Rolle mehr spielen. Nur um dieser Erkenntnis, dieser unumgänglichen Wahrheit zu entfliehen, erfinden sie Normen, Titel und Ämter, werden zum Ehemann oder zum Juristen, schließen Bausparverträge ab, informieren und bilden sich, gehen zur Wahl. Doch wer soll man werden, und wo kann man schon hingehen, wenn man längst den Bezug zu all diesen Dingen verloren hat, sich einfach nirgends mehr zugehörig fühlt?“

„Aber glauben Sie denn, mir ist es nie so gegangen? Wenn Sie bloß wüssten, wie viele ruhelose, kalte Nächte schon hinter mir liegen, wie oft ich mich damals in den Schlaf geweint habe, mir einredete, dass nichts in diesem Leben von Bestand ist, dass es nichts anzuklagen oder zu verurteilen gibt! Doch mit der Zeit lernt man nun mal dazu, über sich selbst, über das Wesen des Menschen. Und der Mensch vergleicht, der Mensch wertet nun mal, unentwegt und wie es ihm gerade passt. Doch warum erzähle ich Ihnen das überhaupt! Sie schämen sich doch ein Mensch zu sein, ist es nicht so? Dieses Gefühl der Scham lässt Sie so schwitzen, lässt Sie gebückt und ängstlich dahocken, krankhaft vor sich hin flüstern, komische Grimassen verziehen. Doch mit alldem bereiten Sie den Leuten hier Unwohlsein, das merken Sie anscheinend gar nicht, richtig?“

Ich mustere den Blinden, verliere mich in seinen verächtlichen Worten, als der Zug endlich anhält und die Türe sich öffnet. In gehetztem Tempo, und mit aufgerissenen Augen drängle ich mich nach draußen, jede Bewegung meines Körpers erfolgt wie automatisiert. Ich stolpere über meine plumpen, ungelenken Menschenbeine, und falle, immer wieder falle ich. Und alles entgleitet mir, alles.

 

Hej Orange,

ich verstehe nicht recht, worauf Du mit dem Text hinaus willst. Der Erzähler wirkt auf mich leicht neurotisch und dramatisiert entsprechend die ganze Situation. Trotz der vielen angedeuteten und ausdrücklichen Emotionen fällt es mir schwer da etwas Anderes herauszulesen.

Mein spontaner Eindruck ist, dass Du als Autor Dich ganz gut in die Emotionen des Erzählers einfühlen kannst, aber die erzählerische Seite, das Gespür für die Geschichte dabei verschütt geht.

Ich würde Dir raten, für Dich eine Art Thema zu formulieren. Das muss nicht in der Geschichte benannt werden, aber wenn Du es für Dich formulierst, kann es Dir helfen, den Text zu entrümpeln und Dein Anliegen damit deutlicher zu machen.

Wenn Du Lust zum Basteln hast, könntest Du Deine Formulierungen ein wenig auf ihre Wirkung hin abklopfen.
Wenn Du z.B. beschreibst, wie das Herz gegen die Brust (eher die Rippen) "gepresst und geschleudert" wird, muss ich an eine Waschmaschine denken.

Nur grob rausgesucht:

ihm meine Rolle des Vorzeigebürgers rhetorisch einzuprügeln.
Ich verstehe nicht, wie das gemeint ist. Muss er/sie nicht eher sich die Rolle aufzwängen?

Ich höre ihr Geflüster, ihre undeutlichen und gedämpften Stimmen.
Die der anderen Fahrgäste?

Er hat mich bereits fixiert,
Wie könnte er, blind wie er ist?

Ich glaub, Dir ist gleich zu Beginn ein Flüchtigkeitsfehler entgangen:

Dann betritt der Blinde den Zug

Gruß
Ane

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Ane,

vielen Dank fürs Lesen und für dein Feedback! :)

Dass das Erzählerische hier ein wenig zu kurz gekommen ist - eben zugunsten dieser emotionalen/abstrakten Komponente - ist eine Kritik, die ich mir zu Herzen nehme.

Werde mir wohl einige der Formulierungen nochmal genauer ansehen...

Ein zentrales Thema des Textes lautet für mich: Was bedeutet es Teil vom Leben und vom Zwang in einer Gesellschaft zu sein? Hierbei geht es mir nicht um etwas Allgemeines, was die ganze Gesellschaft betrifft, sondern eher um sehr individuelle Gedanken und Gefühle.

Der Prot. in der Geschichte fühlt sich als Aussätziger unter anderen Menschen, hat Probleme, sich selbst und seine Stärken und Schwächen zu akzeptieren. Er möchte sich den Normen und Erwartungen seiner Mitmenschen entziehen, gleichzeitig ist er sich darüber bewusst, dass diese in gewisser Hinsicht notwendig sind, um miteineander zu leben. Und das gilt für das alltägliche Leben, für Beziehungen, das Arbeitsleben, usw.

Es ging mir auch darum, wie schwer es sein kann, sich an eine Gesellschaft anzupassen, in der immerzu Höchstleistungen und normgerechtes Verhalten eingefordert wird. Menschen, die auch nur im Entferntesten von dieser Norm abweichen, weil sie beispielsweise psychische Probleme, Angstzustände, Depressionen etc. haben, bekommen schnell Probleme in verschiedenen Bereichen und nur wenig Akzeptanz von ihrer Umwelt zu spüren.

Wie gesagt, hierbei ging es mir jedoch nicht um gesellschaftliche Missstände oder Ähnliches, sondern lediglich um persönliche Empfindungen in meinem eigenen Leben, die ich versucht habe, anhand dieser (natürlich abwegigen und irgendwie absurden) Situation in der Geschichte darzustellen.

Ich würde Dir raten, für Dich eine Art Thema zu formulieren. Das muss nicht in der Geschichte benannt werden, aber wenn Du es für Dich formulierst, kann es Dir helfen, den Text zu entrümpeln und Dein Anliegen damit deutlicher zu machen.

Auch diesen Tipp nehme ich mir zu Herzen, danke dir.
Kann gut sein, dass ich im Laufe der Geschichte thematisch ein bisschen abgedriftet bin und dann auch andere Themen in den Topf hineingeworfen habe, so dass es letztendlich einfach zu viel für eine einzelne Geschichte war.

LG, Markus

 

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