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Im Kühlhaus

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31.07.2001
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Im Kühlhaus

Die Worte waren: Sandbank, blau, Kühlhaus, betören, Klappmesser

Es war so verdammt kalt. Fleischmassen hingen an Haken und schaukelten leicht, wenn sie dagegen stieß. Das Licht einer einzigen Neonröhre spiegelte sich kalt an den Fliesen der Wände. Kaltes Licht, kaltes Fleisch und kalte Luft. Was am schlimmsten war, konnte Angelina für den Moment nicht sagen. Sie war noch dabei, die Situation zu verarbeiten.

Es konnte nicht mehr als fünf Minuten her sein, da die schwere Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war und sie den Riegel hatte einrasten hören. Ein gedämpftes Geräusch. Klar, war ihr erster verstörter Gedanke gewesen, zwanzig Zentimeter Stahl tun ihr Bestes, um diese kleine Welt möglichst sich selbst zu überlassen. Sie hatte aber schnell gelernt, dass in dem ganzen Kühlhaus zumindest die Schalldynamik eine ganz eigene, ihr gänzlich unbekannte war. Jedes Geräusch klang so, als wären ihre Ohren ganz tief drinnen mit kleinen Wattebäuschen verstopft. Das Quietschen der Ketten, an denen die Fleischhaken hingen, das leise Tappen ihrer nackten Sohlen auf dem kalten Betonfußboden, alles schien irgendwie ermattet, übermüdet. So, als wären die Schallwellen zu träge, um in angemessener Geschwindigkeit die Sinneszellen in ihrem Ohr zu erregen. Oder als würden sie zwischen dem Fleisch verloren gehen.
Während Angelina die Arme um ihre Schultern schlang, durchmaß sie ihr neues Reich. Zwanzig Schritte in der Länge, zwölf in der Breite. Vielleicht ein, zwei weniger, wenn man bedachte, dass sie ab und zu den aufgehängten Tierresten hatte ausweichen müssen.
Was Du hast, ist, was du draus machst dachte sie und lächelte. Ihr Vater hatte das früher oft zu ihr gesagt, wenn sie sich wieder mal beschwert hatte, dass ihr Zimmer zu klein, ihre Kleidung nicht teuer genug oder das Fernsehprogramm zu langweilig sei. Mach es nicht kleiner, als es für dich sein kann. Das stimmte sicherlich.
Eher bereitete ihre Kleidung Probleme. Tatsächlich waren Slip und T-Shirt ziemlich ungünstig, wenn sie ihre Lage betrachtete. Aber das war noch kein Grund, um in Panik zu geraten. Angelina empfand so etwas wie grimmigen Stolz, weil sie nicht durchgedreht hatte, als die Tür hinter ihr zuschlug. Das war wahrscheinlich genau das, was man
wer?
erwartet hatte, aber so schnell war sie nicht zu kriegen. Dass die ganze Situation wirklich gefährlich werden konnte, damit rechnete sie nicht, noch nicht. Eines der vielen kleinen Spiele, die das Leben für einen bereithielt.
Und dabei mitspielen, das kann ich. Wenn auch nicht die Regeln aufstellen, aber mitspielen werde ich. Und das konnte sie tatsächlich.
Hatte sie bis jetzt jedenfalls immer gekonnt.
Klar, die ganzen Fleischstücke, ekelerregend, die Kälte, die durch ihre Fußsohlen drang, sich unter den dünnen Stoff ihres Hemdes schlich und still ihren Körper umgarnte, so, dass sich ihre Haare und Brustwarzen aufrichteten - das alles war natürlich unerfreulich, aber es könnte viel schlimmer sein. Solange Leben, solange Hoffnung; auch das hatte ihr Vater mehr als einmal aus seinem unerschöpflichen Schatz an Weisheiten herausgekramt und jetzt ließ sich etwas damit anfangen.
Zwischen zwei Schweinehälften blieb sie stehen und dachte an den Mann, durch den sie in diesem Moment ihre Ruhe gewann.

Sie hatten an der Küste gelebt. Ihre Mutter war früh verstorben, ein hässlicher kleiner Unfall, nichts anderes als eines der Spielchen, die das Leben für sie alle bereithielt. Leider hatte ihre Familie an jenem Tag einen Einsatz gewagt, von dem sie noch nicht einmal gewusst hatte, dass er eventuell auch verloren gehen könnte.
Es war nicht mehr als ein gemeinsamer Ausflug ins Watt. Dort zu wandern war über die Jahre so etwas wie eine Tradition geworden und für Angelina läutete dieser Tag immer den Sommer ein.
Zwanzig Minuten mit dem Auto, ein kleiner Ferienort am Strand, die Weite des Meeresbodens vor ihnen. Angelina war damals neun Jahre, elf Monate und genau siebzehn Tage alt gewesen und seit über einem Monat mit nichts anderem beschäftigt, als die Tage zu zählen, bis sie die magische zweistellige Zahl erreichen würde. Für ihren zehnten Geburtstag hatten ihre Eltern ihr etwas ganz besonderes versprochen – nicht einfach irgendeine Feier, bei der eine Meute johlender Kinder dumme Spiele spielten, nein: Es sollte etwas ganz Großes werden und Angelina hatte das unbestimmte Gefühl gehabt, dass es etwas mit dem neueröffneten Vergnügungspark unten in Frankreich zu tun hatte. Allein dieses Wort versprühte schon einen ganz eigenen Zauber, jedes Mal, wenn sie es hörte. Frankreich. Es klang wie Urlaub, Sonne, wie Micky Maus, Minnie und Pluto und schnurrbärtige Männer mit kecken Malerhüten auf dem Kopf.
Natürlich war es nicht dazu gekommen.
Sie waren hinaus ins Watt gewandert, hatten Krebse und Muscheln gesucht, waren in den Prielen geschwommen (eigentlich nur sie und ihr Vater – ihre Mutter hatte eine Abneigung gegen freie Gewässer) und einen schönen Tag verlebt. Die Flut war für den späten Nachmittag angekündigt worden und ihr Vater hatte einen genauen Zeitplan erarbeitet, nach dem sie sich richten mussten. Leider war der aufkommende Nebel nicht eingeplant gewesen, hatte als Unbekannte die ganze Gleichung mehr oder weniger über den Haufen geworfen und Angelina erinnerte sich noch heute daran, wie die Gesichter ihrer Eltern von stressfrei auf sorgenvoll umschalteten.
Irgendwann hatte sie ihren Vater gefragt, ob er denn noch wisse, wo ihr Auto stand, ihr würde langsam kalt und sie wolle nach Hause. Ihr Vater hatte sie kurz angesehen und dann einen weiteren Schatz aus seiner Weisheitssammlung ausgegraben: „Angie, Schatz, noch ist nicht aller Tage Abend.“ Daraufhin war ihre Mutter ausgerastet, hatte hysterisch festgestellt, dass das Wasser verflucht schnell um ihre Füße flösse und aller Tage Abend nicht mehr weit entfernt sei. Das war auch das einzige Mal, dass Angelina sah, wie ihr Vater seiner Frau eine heftige Ohrfeige gab. Danach blieb ihre Mutter ruhig. Für kurze Zeit.
Dreißig Minuten erreichten sie eine Sandbank, die noch nicht ganz vom Wasser überspült war. Der Nebel war inzwischen so dick, dass man Anfang und Ende ihrer kleinen Insel nicht mehr erkennen konnte. Ihr Vater befand, dass sie hier bleiben sollten und dann begannen ihre Eltern, um Hilfe zu rufen. Vielleicht fünf Minuten riefen sie, dann fingen sie an zu schreien. Angelina hielt sich an den Beinen ihres Vaters fest, denn inzwischen konnte sie sich kaum noch halten. Das Wasser stieg und zerrte an ihr.
Vielleicht zehn Minuten später kreischten ihre Eltern nur noch.
Angelina hatte sich ganz still in in ihre eigene Welt zurückgezogen, in der Micky, Donald und all die anderen lustigen Figuren mit ihr den zehnten Geburtstag feierten. Irgendwie hatte auch sie begriffen, dass es dazu nicht mehr kommen würde.
Deswegen bekam sie auch nicht mit, dass sie recht bald völlig den Boden unter den Füßen verloren und ihre Eltern sich entscheiden mussten, in welcher Konstellation sie am längsten überleben würden. Ihr Vater war am stärksten, Mutter und Kind hingen irgendwann nur noch in seinen Armen und so wären sie alle drei ertrunken.
So hatte sie auch nicht mitbekommen, wie ihre Mutter eine Entscheidung fällte und sich mit einem letzten kräftigen Stoß abstieß. Bis heute hatte ihr Vater nie davon gesprochen, welche Worte in jenem Moment die letzten gewesen waren.
Sie bekam nicht mit, wie ihr Vater schluchzend, völlig von Sinnen durch die wabernde Nebelwand schwamm, bis er tatsächlich durch bloßen Zufall die Boje einer Fahrrinne erreichte, an die er sich mit seiner Tochter klammerte, bis sie gerettet wurden.
Sie bekam erst viel später wieder etwas von ihrer Umgebung mit, als sie sich schließlich aus der lustigen Disneywelt verabschieden musste und in einer schalen Dämmerung voller Tränen und Schmerz aufwachte.

Die Neonröhre bevorzugte nichts im Raum, nicht Gegenstand, nicht totes, nicht lebendes Gewebe.
Angelina stand still zwischen dem hängenden Fleisch und strich sich benommen über die Augen. Es war in gewisser Weise unglaublich, aber sie hatte sich tatsächlich gehen lassen, hatte die kalte Welt verlassen und war in die Vergangenheit getaucht, die sie bis dahin immer erfolgreich verdrängt hatte.
Verdrängt? fragte etwas in ihr, aber sie drückte es schnell unter die Wellen des aufgewühlten Wassers ihrer Innenwelt.
Ihre Füsse schmerzten, der kalte Boden wurde langsam zur Qual.
Sie sah sich um.
Zwischen den Fleischhälften schienen die Kacheln der Wände matt, die Ketten schimmerten. Sie ging vier vorsichtige Schritte und atmete erleichtert auf, als sie an der hinteren Wand einige Schürzen sah, die an Kleiderhaken aufgehängt waren. Diese versprachen sicher keine Wärme, aber vielleicht linderten sie die Kälte ein wenig. Sie spürte neue Zuversicht in sich aufsteigen und setzte ihren Weg fort.
Dann ging das Licht aus.
Eine kurze Zeitspanne war sie wie gelähmt; vor ihren Augen tanzten Lichtblitze, Reflexionen. Das eigentlich hellrosa Fleisch um sie herum kämpfte um Schwarz und Weiß, ohne dass sich einer der Töne durchsetzen konnte. Dunkle und helle Vierecke an den Wänden.
Nebelwand.
Gerade noch sah sie ihre eigenen Hände vor sich, nach Halt greifend. Dann war Dunkelheit überall.
Angelina strauchelte. Ein entsetzter Schrei. Sie stolperte gegen kaltes Gewebe. Wich zurück. An ihrem Rücken ein anderes Stück Fleisch. Ihre ausgestreckten Arme berührten es zu ihrer Rechten, zu ihrer Linken, hinter ihr, vor ihr. Überall. Ein wilder Tanz, Fleisch in Bewegung, lebendes und totes. Sie konnte es riechen, unzusammenhängende Erinnerungen an ihre Mutter, wie sie in der Küche am Herd stand, hackend und bratend. Sie konnte es hören, wie es die Luft durchschnitt. Es berührte sie, es schlug nach ihr, streifte ihre Haut, traf sie an der Brust, den Kopf. Überall diese grauenhafte Masse, und sie tanzend in ihrer Mitte.
Dann fiel sie.

Nebelwand.
Nebel überall. Nichts als eine weiße Masse, die alles Licht nahm. Was überblieb, war nur ein nasser, zitternder Körper, an den sie sich mit aller Macht klammerte. Ein Körper, der Leben verheißen sollte, auch wenn er selbst so kalt war.
Sie hörte eine schrille, hohe Stimme, die nah an ihrem Ohr schrie. Brüllte. Bettelte.
Ständig rutschten ihre Hände ab, während die Wellen auf sie einschlugen, darum kämpften, sie von diesem nassen Menschen fortzureißen.
Ein tiefes, dumpfes Dröhnen um sie herum. Mächtig, mit den Wellen in einem Rhythmus. Lauter, mit jedem Augenblick in diesem Chaos.
Wohin? Wohin wollte es, wohin soll ich nur, bei Gott, wohin?
Da waren keine Retter um sie, kein Scherz, keine Weisheit ihres Vaters. Da war nur das tiefe Verlangen, sich herabsinken zu lassen, nur der Drang, sich wieder jener bunten Welt zu überlassen, mit Hunden und Mäusen zu spielen, zu feiern und dieses Unglück anderen zu überlassen. Vielleicht diesen Armen, die sie daran hinderten, sich fallen zu lassen und sie nicht gehen lassen wollten; auch wenn sie sich noch eben daran geklammert hatte – die Zeiten hatten sich geändert, ganz elementar geändert, eine wirkliche Kehrtwendung erfahren.
Warum lässt du mich nicht los?
Nein, lass mich nicht los.
Und mit einem Schlag tauchte diese riesige, schwarze und dröhnende Wand in der weiß-dunklen Welt auf und kam auf sie zu. Irgendwo ein Name daran, in hellen, riesigen Lettern.
So nah. So nah. Festklammern an ihm.
Ein Schrei in der Luft. Und das gnädige Versinken.

Wieder zurück in der Wirklichkeit. Und doch spürte sie noch immer die Kälte zwischen ihren Armen.
Langsam öffnete sie ihre Augen. Das Licht war wieder angeschaltet worden.
Zwischen ihren Armen dieses dicke Stück Fleisch, das sie wie in inniger Umarmung hielt.
Nein, lass mich nicht los.
Mit einem Aufschrei schob sie sich davon fort und sprang auf. Voller Ekel wischte sie sich über die Arme. Das T-Shirt feucht, die Haut kalt. Über ihr, noch in leichter Bewegung, der leere Haken, von dem sie das Fleisch heruntergerissen hatte.
Hey, was ist los? Freu dich! Du bist wieder da. In deiner eigenen kleinen, kalten Welt voller Erinnerungen, die man extra für dich an großen Haken aufgehängt hat. Du kannst sie gar nicht...
„Hör auf!“, schrie sie und wusste im ersten Moment nicht, wen sie damit meinte. Dann sah sie zwischen ihren schwankenden Erinnerungen hindurch die Tür am anderen Ende des Raumes. Das kleine Fenster im oberen Drittel des dicken Stahls.
Der Klang ihre Füße, als sie, voller Wut, darauf zustürmte. Klatsch, klatsch.
„Mach das nicht noch einmal!“
Klatsch, klatsch! Sind das deine Füße? Was glaubst du, was deine Titten für ein Geräusch machen, wie sie da vor dir auf und ab wippen? Auch klatsch, klatsch? Oder leiser? Feiner? Wie wohl deine Stimme klingt? Schrill? Ängstlich? Wie wohl Deine...
Stumpf prallte sie gegen den Stahl. Wich nicht zurück. Ignorierte das taube Gefühl. Bekam es gar nicht mit. Ihre Fäuste trommelten gegen die Tür ihres Gefängnisses, in schneller Folge kamen die Schläge.
„Mach das noch einmal und du bist tot! Ich töte dich!“
Als ihre Kräfte erlahmten, ließ sie die Arme sinken und stand mit eingesunkenen Schultern vor der Tür. Wie hatte sie sich so gehen lassen können?
Ja, wie hast du bloß? War das nicht deine Stärke? Cool bleiben?
„Halts Maul“ flüsterte sie erschöpft. Ihre Hände pochten und in ihren Schultern spürte sie die erschöpften Muskeln. Es war tatsächlich lächerlich. Standhaft war sie die ganze Zeit gewesen. Und diese zwei, drei Momente hatten sie so außer Fassung geraten lassen. Schlimmer, hatten Momente an die Oberfläche gebracht, an die sie sich bis jetzt noch nicht einmal im Traum erinnert hatte. Die Momente an der Boje, als sie sich an ihren Vater geklammert hatte und sie beide wussten, dass ihre Mutter irgendwo in dem Nebel ertrunken war. Als das Schiff auftauchte, das sie gerettet hatte und sie mit einer Schuld hatte weiterleben lassen.
Schuld? Aha, das hatten wir heute ja noch gar nicht. Schuld woran? Gegenüber wem?
„Sei doch einfach ruhig“ Einmal mehr geflüstert. Keine Kraft mehr. Angelina lehnte sich gegen die Tür. Sie verharrte in dieser Position und suchte Ruhe.
Und fand keine Erinnerungen, sondern einen Moment, in dem tatsächlich nichts war. So entspannend.
Dann Erschrecken. Ein Schlag gegen die Tür. Ihr Zurückprallen, ein leiser Schrei, und dann drei stolpernde Schritte, wedelnde Arme, ohne Halt zu finden.
Angelina fiel rückwärts, drehte sich und kam schmerzhaft auf dem Beton auf. Sie stöhnte, krümmte sich auf dem Boden.
Und sie wollte um nichts in der Welt zur Tür blicken. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie hilflos ausgeliefert war. Um sie herum war es kalt, sie beinahe nackt, schutzlos ausgeliefert. Über ihr die leicht schwingenden Massen von Fleisch, wie stumme Richter, Mitglieder einer Jury, die über ein Urteil berieten, während sie noch nicht einmal die Anklage kannte.
Sie rollte sich zusammen, umschlang mit den Armen ihre Beine, die Augen geschlossen. Der Boden war hart, vom Aufprall schmerzten ihre Hüfte, die Ellbogen. Was wollte man von ihr?
Ja, was nur? War da nicht von Schuld die Rede? Hast du nicht an Schuld gedacht?
Nein, das habe ich nicht. Und jetzt halte endlich das verfluchte Maul. Du kannst mich.

Stille. In ihr. Um sie herum.

Irgendwann rührte sie sich wieder. Sie strich sich sanft über Arme und Beine, unbewusst, um ihre körperliche Unversehrtheit zu überprüfen. Auch war es eine tröstende Geste, die sie sich selbst schenkte. Die sie brauchte.
Ihre Haut war eiskalt. So sehr sie es sich wünschte, sie spürte die Berührung ihrer Finger kaum. Ihr Körper zitterte. Sie wusste, das ihre Lippen blau waren. Sie mussten blau sein. Wahrscheinlich schon dunkelblau.
Sie setzte sich auf und drehte den Kopf langsam zur Tür. Automatisch sah sie dabei durch die gespreizten Finger, ganz so, wie sie es getan hatte, wenn sie früher zusammen mit ihrem Vater billige Horrorfilme im Spätprogramm gesehen hatte, ohne dass ihre Mutter etwas davon wusste.
An dem Fenster klebte ein weißer Zettel.
Sie erkannte die perforierte Linie, die Löcher, um das Papier abzuheften. Die feinen Schriftzeichen auf dem weißen Hintergrund.
Wenn wir hier fertig sind, haben wir wohl eine ziemlich dicke Mappe, denkst du nicht auch? Viele Zettel mit kleinen Erinnerungen, mit kleinen Schuldgefühlen und vielleicht großen Geständnissen?
Sie ignorierte die innere Stimme und stemmte sich hoch. Dabei berührte ihre Hand einen Gegenstand, der neben ihr lag. Als sie erkannte, was es war, setzte sie sich wieder.
Auch dieses Ding wurde von der Neonleuchte weder mehr, noch minder beleuchtet, als alle anderen Sachen in dem Kühlhaus. Steril glänzte der metallener Körper in dem widerlichen Licht.
Ein Klappmesser.
Es war ein großes Messer, obwohl die Klinge noch zwischen den beiden silberfarbenen Handgriffen ruhte. In regelmäßigen Abständen waren kreisrunde Löcher eingelassen. Angelina sah es an. Ganz unbeteiligt lag es da auf dem Boden.
Ihre Hand zuckte leicht und, ohne es zu wollen, hatte sie das Messer in der Hand.
Es gab ihr sofort ein beruhigendes Gefühl. Mit geübten Fingern ließ sie die Klinge mehrmals herausspringen; das Metall tanzte geschmeidig um ihre Finger, weckte wieder etwas Gefühl in den Gliedern.
Das war eine Sache, von der ihre Mutter auch nie etwas gewusst hatte. In der Garage, die für ihren Vater der Bastelraum und für sie eine kleine Welt voller Wunder gewesen war, hatte er ihr geduldig beigebracht, wie man mit diesen Dingern umzugehen hat. Sie hatte staunend seinen ruhigen Fingern zugeschaut, seine grauen Augen beobachtet und gelernt. Es war eines dieser Vater-Tochter-Geheimnisse gewesen. Angelina hatte sich nie gefragt, warum er das getan hatte. Wahrscheinlich tat es ihm gut, von seiner Tochter bewundert zu werden. Das dachte sie in diesem Moment.
Aber du fragst dich nicht, warum dieses Messer jetzt gerade hier ist, nicht wahr? Wer hat es wohl hier hingelegt?
Jetzt nicht wichtig. Das Gefühl war gut und allein das zählte.
Das Messer tanzte zeitlos in ihrer Hand. Sie fühlte sich sicherer und sah wieder zu dem kleinen Fenster in der Tür. Was stand auf dem Zettel?
Ja, welche Nachricht schreibt jemand, der dich nachts aus deinem Bett geholt - über dich verfügt - und hier hergebracht hat? Einkaufsliste? Liebesbrief? Ich glaube nicht.
„Keiner fragt dich“ murmelte sie und erhob sich.
Langsam ging sie auf die Tür zu. Mit ihren Schritten hörte sie zugleich das Blut in ihren Schläfen pochen. Die Kälte war für den Moment vergessen. In ihrer linken Hand hielt sie das Messer.
Mit jedem Schritt verengte sich ihr Blickfeld, bis sie irgendwann durch einen Tunnel zu sehen schien, dessen Ende das weiße, perforierte Stück Papier war, das mit einem Stück Klebeband an der Scheibe befestigt war. Deutlich erkannte sie jeden Knick, wie Blitze geformt, verfolgte die hellgrauen Linien darauf, die gleichmäßige Vierecke bildeten. In geschwungenen Großbuchstaben standen Worte dort, die ihr zuerst völlig sinnlos vorkamen
schneid
Ohne Sinn
deine
Angelina konzentrierte sich und ihr Blick klärte sich; der Tunnel war verschwunden.

SCHNEID DEINE HAARE AB

Der Schock schmerzte beinahe körperlich. Die Worte schlugen ihr ins Gesicht, der Gedanke dahinter verletzte sie tief in ihrem Inneren. Sie prallte von der Tür zurück, das Messer fiel ihr aus der Hand und ihr wurde bewusst, dass diese Waffe nicht hier war, um ihr Sicherheit zu verschaffen. Sie sollte ihr schaden. Sie selbst sollte sich schaden.
„Ich“ fing Angelina an, aber ihr versagte die Stimme. Der Schutzwall aus Scherzen und Weisheiten ihres Vaters zerbrach. Da waren nur noch diese vier Worte, die ihren Kopf ausfüllten, dort wie eine Armee durchgedrehter Springteufel Chaos und Verwirrung stifteten.
Schneid deine Haare ab, komm schon, Baby, Angie, komm schon, das was du hast, ist, was du draus machst.
Vielleicht. Nur hatte sie nicht mehr das Gefühl, dass sie es war, die hier irgendetwas hatte. Da draußen war jemand, der hatte sie, und er war dabei, etwas mit ihr zu machen.
„Ich werde das nicht tun“ kam es leise aus ihr heraus. Sie sprach nicht bewusst, etwas in ihr hatte schnell diesen Riegel vorgeschoben, diese Ablehnung in ihren Kopf gepflanzt, damit sie nichts Falsches tat.
„Ich werde das nicht tun“ wiederholte sie und vernahm dieses Mal sogar ihre Worte - ohne deren Sinn richtig greifen zu können, aber sie hörten sich gut an. Es klang ganz entfernt nach dem, was sie verloren hatte, als sie den Sinn der Aufforderung verstanden hatte.
„Ich werde das nicht tun!“ rief sie und sah wieder zu der Tür. Es war ein seltsames Gefühl, aber das einzige, was ihren Feind verkörperte, war diese eiserne Tür und das kleine Fenster
sein Auge, sein Mund
darin.
Zyklop, Ungeheuer
Ja, das war er. Ein verdammtes Ungeheuer.
Die Hände auf ihre kalten Knie gestützt, beugte sie sich vor und schrie die Tür an. „Ich werde das nicht tun, du Ratte! Ich werde das verdammt nicht tun!“
Der Zettel verschwand. Sie sah die Hand nicht, es war eine fließende Bewegung. Eine neue Nachricht erschien. Beinahe sanft schmiegte sich das Blatt Papier an das Glas.

TU ES ODER DAS LICHT GEHT AUS

Nein.
Angelina sackte in sich zusammen. Ihre Muskeln versagten ganz einfach den Dienst und sie fiel auf die Knie.
Licht aus, Film ab! Eine neue Reise in die Vergangenheit. Was wohl diesmal kommt?
Nichts. Nichts würde kommen. Denn so weit würde sie nicht noch einmal gehen. Mit Grauen erinnerte sie sich an das kalte, feuchte Stück Fleisch, das sie in ihren Armen gehalten hatte. Erinnerte sich an die böse Zeit, die sie im Wasser zugebracht hatte. Und ganz weit hinten hörte sie ihren Vater betteln.
Bitte! Bitte, hier sind wir. Angie und ich. Meine kleine Messerkönigin und ihr armer alter Vater.
Sie fand keine Kraft, um die Stimme in ihrem Inneren abzustellen. Sie schloss die Augen. Ihre rechte Hand glitt suchend über den Boden und schloss sich um den Griff des Messers. Mit einer einzigen Bewegung ließ sie die Klinge zwischen den Griffen hervortanzen und führte sie zu ihrem Kopf.
Haare fielen. Und mit ihnen bittere Tränen. Angelina spürte die Schmerzen auf ihrer Kopfhaut nicht, ihre Hände arbeiteten automatisch und kurz sah man hinter dem Fenster zwei Augen aufblitzen.
Sie verschwanden, als Angelina die Hand sinken ließ. Und behände Finger schrieben einen neuen Zettel.

Um sie herum lag das Haar.
Angelina hatte die Augen wieder geöffnet, lange, nachdem sie mit ihrer Arbeit fertig war. Auf ihren Beinen, den Schultern, auf den Brüsten fand sie lange, schwarze Strähnen. Das Messer war neben ihr.
Sie sah es an und sie hasste es. Aus tiefstem Herzen hasste sie dieses metallene Ding, das wie unbeteiligt auf dem Boden lag. In aller Stille saß sie da, nicht weit von der Tür entfernt und lebte ihren Hass. Das Fleisch hing stumm hinter ihr, das Neonlicht beleuchtete den Raum, gleichmütig, unbeteiligt.
Angelina wandte den Blick von dem Messer ab und sah ihre Hand an. Auch die hasste sie. Sie sah ihre Füße, Beine, Arme an und verspürte Hass. Warum hatte sie das getan? Nur aus Angst vor der Dunkelheit?
Aus Angst vor den Erinnerungen, Angie. Sie schaukeln, ganz dicht hinter dir in der Dunkelheit und davor hast du Angst.
Das stimmte. Sie hatte Angst vor Erinnerungen. Seit dem Tag, da ihre Mutter gestorben war, hatte sie Angst vor Erinnerungen, die immer auftauchten, wenn es dunkel war, wenn sie allein war. Seitdem war sie selten in der Nacht allein gewesen. Ihr wurde klar, dass sie den Tod ihrer Mutter, den Fall des Vaters ihre ganze Jugend über nicht verwunden hatte.
Und war da nicht irgendwann von Schuld die Rede, Baby? Glaubt da vielleicht irgendwer, dass dies hier nicht ganz unverdient ist?
Verdammt, nein! Was kann ich dafür, dass es ...
... verdient ist?
Halt’s Maul! Halt das...

Sie fühlte sich einfach hilflos. Brauchte eine starke, eine schützende Hand. Jemand, der sie in seinen Armen barg. Der ihr sagte, was in ihr los war.
Und sie erinnerte sich.

„Du fühlst dich gut, Angie.“
Keuchend, wie nasser Schweiß kamen die Worte über seine Lippen.
Sie sagte nichts, presste die Lippen zusammen und genoss gleichzeitig das Gefühl.
„Du fühlst dich wie?“
Sie kämpfte, versuchte, die Worte in ihrer Kehle zu ersticken. Die Stricke um ihre Handgelenke scheuerten, ihre Oberarme schmerzten, jedes Mal, wenn der Rhythmus sie nach unten zog. Und dann presste sie die Silben heraus.
„Gut. Ich fühle mich gut.“
Brix’ Körper erbebte und er stieß zu.
Sie stöhnte. Spürte seine langen Haare auf ihrem Gesicht, biss sich darin fest. Riss seinen Kopf nach unten. Und ein Spruch ihres Vaters kam ihr in den Sinn.
Das Leben, Angie, ist ein Geben und ein Nehmen. Sieh zu, dass du beides kannst.
Auch damit hatte er recht. Wie so oft, wenn er mit einem Grinsen in seiner Schatztruhe herumgekramt hatte, um seine Weisheiten hervorzuzaubern.
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, nur Sekunden lang. Brix über ihr wand sich, kämpfte um sein Haar, errang die Vorherrschaft zurück, als ihre Köpfe unsanft aneinander stießen.
Angelina dachte an den letzten Schatz, den ihr Vater ihr geschenkt hatte.
„Angie, Schatz, noch ist nicht aller Tage Abend“ hatte er ihr an dem Tag im Watt offenbart.
Sie konnte sich noch genau daran erinnern. Das einzige Bild, das sie von diesem Tag überhaupt noch wachrufen konnte. Sein leicht verzerrtes Grinsen, das sie in dem Moment mehr abgeschreckt, als beruhigt hatte. Der Aufschrei ihrer Mutter. Dann das Geräusch, als seine Hand in ihrem Gesicht gelandet war.
Seit diesem Tag hatte ihr Vater all das verloren. Zuerst unbemerkt. Aber es war von den hohen Wellen einfach fortgespült worden. An diesem Tag. Wie ihre Mutter auf den Grund des Meeres gerissen.
Der Mann über ihr sog in schnellen Zügen die Luft in sich ein. Hielt sich an ihren wehrlosen Händen fest, genoss sichtlich das Gefühl, ihre Finger zu vereinigen, wann es ihm passte.
Auch ihr Körper spannte sich, ein leichtes Rauschen im Bauch breitete sich bis herunter zu ihren Schenkeln aus. Sie atmete ebenfalls schneller.
Und doch zog es ihre Gedanken zurück zu ihrem Vater. Die ersten Monate nach dem Unfall.
Die wenigen Male, wenn er darüber sprach, nannte er es stets einen Unfall. Angelina hatte für diesen Tag bis heute keinen Namen gefunden.
Die ersten Monate hatte er sich rührend um sie gekümmert. War im Krankenhaus an ihrer Seite gewesen, hatte sie nie alleine schlafen lassen und gegenseitig hatten sie sich nach ihren Alpträumen festgehalten. Es war eine Vater-Tochter-Zeit gewesen, die, in einem umfassenden Grau gefangen, immer danach strebte, so etwas wie Farbe zu sein.
Dann, nachdem der erste, alles überspülende Schmerz gegangen war, hatte er das Vater-Sein verloren. Sie hatte sich mehr und mehr wie in einem Gefängnis gefühlt, eingesperrt zwischen dem stillen Leiden dieses Mannes, den Augenblicken, da sie ihm Trost spenden wollte, da sie selber Trost brauchte und den immer mächtiger werdenden Tagen, in denen zwischen ihnen eine kälte aufstieg, die sie nicht verstehen konnte. Die sie auch jetzt nicht begriff.
Brix war soweit und obwohl ihre Gedanken weit weg waren, kam auch sie. Heftig zerrten ihre Arme an den Stricken und jeder Moment, in dem sie spürte, dass sie gefangen war, nicht los konnte, stärkte ihr Empfinden, machte den Moment intensiver.
Ihr Vater hatte sie nie freigelassen. Er hatte sie in einen unsichtbaren Kokon gewebt, dessen Farben von außen nach innen, von Kühle über Abneigung zu Hass schimmerten. Gefangen. Dieser Gedanke war zu kurz und sie konnte ihn nicht halten.
„Brix, hilf mir, lass mich frei.“
Oh Gott, wie gut es tut, das zu sagen!
„Ich sag dir wann, Baby, ich sag dir, wann.“
Oh Gott, wie gut es tut, das zu hören.
Es war wie im Film. Beide kamen gleichzeitig. Beide kamen heftig.
Und als er sie einige Zeit später von ihren Fesseln befreite und sie sich die geschundenen Handgelenke hielt, sagte er: „Angie, ich weiß, was dir gefehlt hat; ich kann dir sagen, was in dir los ist und was du willst.“
Sie nickte und er fuhr fort: „Du hast es gut gemacht – du kannst mich immer bitten, dich freizulassen, aber nie“ und er machte eine bedeutungsvolle Pause, „nie darfst du es verlangen.“

Verlangen. Nie verlangen.
In dem Moment hätte Brix ihr Vater sein können.
Wie konnte sie verlangen, dass er sie freiließ? War da Schuld? War da tatsächlich Schuld? Oder was sonst?
Sie zitterte, versuchte aufzustehen. Ihre Muskeln wehrten sich, zu lange der Kälte ausgesetzt. Ihre Glieder zitterten, ihre Haut fühlte nicht mehr.
Sie kämpfte und irgendwann stand sie auf den Füßen.
Die armen Füße. So kalt. So gefühllos. Was meinst du, wie lange hältst du das noch aus, Angie?
„Ich weiß nicht“ flüsterte sie. Ihr Kopf sank auf die Brust und langsam hob sie die Hände. Befühlte ihre Haare, die in kurzen Strähnen zottelig von ihrem Kopf abstanden.
„Ich weiß es nicht.“
Sie hob mühsam den Kopf und war kaum erstaunt, als sie am Fenster ein neuen Zettel kleben sah. Ein neuer Satz, eine neue Runde.
Noch ist es nicht vorbei, mein Schatz.
„Ich weiß.“ Langsam ging sie näher heran und las die zweite Aufforderung.

EIN SCHNITT – ARM ODER BEIN – SUCH ES DIR AUS

Einen Moment lang versuchte Angelina, Entsetzen in sich zu finden. Irgendwie war es doch das, was zu erwarten gewesen war.
Nirgends steht geschrieben, dass du allein mit kurzen Haaren hier rauskommst, nicht wahr? Nein.
Das Entsetzen fand sie. Wie ein kleines, schwarzes Loch lag es tief in ihr und saugte langsam, stetig, unerbittlich ihre Gedanken auf.
Jetzt war es so weit. Sie hatte darauf gewartet, auf etwas, das Schmerz bedeutete. Schmerzen, Narben
Sei froh, wenn es nur Narben bleiben
vielleicht sogar Schlimmeres.
„Nein“ hauchte sie. Die Kälte hatte nun nicht nur von ihrem Körper Besitz ergriffen, sie war tief in ihr Inneres vorgedrungen, umschlang Inseln in einem Sumpf aus Gefühlen, die sie erst langsam zu verstehen begann.
„Nein, bitte, nicht das.“ Sie war sich nicht sicher, ob ihre Worte draußen zu hören waren, fand aber keine Kraft, um sie lauter zu wiederholen.
Aber es war laut genug.

ES IST KALT, ODER?
WILLST DU NICHT RAUS?

Sie sah die geschriebene Antwort kaum; beinahe wusste sie, was kommen würde.
„Ja, ich will raus. Lass mich bitte raus. Mir ist kalt. Ich habe Angst.“
Erneut verschwand der Zettel, wurde ersetzt durch einen neuen.

EIN SCHNITT

„Nein.“
Aber sie ging wieder in die Knie, ihre Hand glitt wieder suchend über den Betonboden.
Angie, Baby, ein kleiner Schnitt und du kommst vielleicht hier raus. Was hältst du davon?
Das Messer lag schwer in ihrer Hand. Diesmal gelang es ihr nicht, es mit einer Bewegung zwischen den Fingern zu öffnen. Die Geschmeidigkeit blieb irgendwo hängen und sie musste die zweite Hand zu Hilfe nehmen, damit die Klinge aus ihrem metallenen Bett auftauchte. Sie leuchtete hell auf und zum ersten Mal hatte Angelina das Gefühl, dass das Neonlicht nicht mehr neutral war. Die Klinge schimmerte und blitzte, ein arrogantes und hässliches Etwas, das in ihrer Hand lag und nur darauf wartete, ihr wehzutun.
Leise wimmerte sie, als sie erst den einen Arm, dann den anderen vor ihre Augen hielt. Sie sah sich ihre Beine an, musste eine Entscheidung treffen. Schloss die Augen.
Die Spitze des Messer fuhr durch Haut und Muskeln eines Beines.
Im ersten Moment war es nicht schlimm; die Kälte hatte ihr Empfinden betäubt. Dann Schmerzen; kein langsames Auftauchen, kein einfaches Protestieren ihres Körpers. Das rasende Gefühl stürmte Bastionen und nahm ihr Innerstes ein, nur Bruchteile klaren Denkens. Ein langgezogener Schrei platzte aus ihr, brach den Panzer, der sie ganz weit unten beschützt hatte. Der auch irgendetwas eingeschlossen hatte. Nun kam es heraus und verlangte zu atmen. Blut floss.
Ihre Hand machte weiter.
Die Klinge schnitt weit und tief. Angelina schrie und führte einen Kampf gegen sich selbst. Die Hand, die gerne das Messer führte, der Vater in Gestalt heißen Metalls, beide führten die eine Seite; auf der anderen stand die Angelina, die sich im Dunkeln fürchtete, die Angelina, die sich in unzählige Arme geworfen hatte, nur, um nicht allein zu sein. Sie, die so verzweifelt den Vater vermisste, der stets mit einem Lächeln die Wahrheit aus der Welt herauswrang. Die Angelina, die noch jede Nacht schreiend um ihre verlorene Mutter weinte, die stets in sich eine Schuld gesucht hatte, eine Schuld, die ihren Vater gerechtfertigt hätte und die doch nie da war. Die nie da war.
Das Metall fuhr aus ihrem Körper, ihre Hand, ihre Hand zog es zurück und fasste es gleichzeitig fester als je irgendetwas. Sie schluchzte laut. Dann brüllte sie.
„Du kannst mich, Dad! Komm doch her! Komm endlich rein! Ich habe keine verfluchte Schuld, es war nicht mein Fehler!“
Sie weinte Tränen, die sich mit dem heißen Blut vermischten. In inniger Gemeinschaft liefen sie über ihr Fleisch, während sie sich hochstemmte, ihr Gewicht auf das gesunde Bein verlagerte und die Tür anschrie.
„Komm doch, du Wichser! Komm Dad, komm Brix, kommt alle! Ich hasse euch! Ich töte euch!“
Sie humpelte rückwärts in den Raum zurück, prallte gegen die toten Fleischstücke, bemerkte es nicht. Sie hatte nur eine dunkle Idee im Kopf und näherte sich einem Ziel. Nichts anderes zählte.
Das Licht ging aus.
Angelina lachte.
Sie kriegen dich nicht mehr – du hast sie soweit, Angie, du hast
Verpiss dich aus meinem Kopf, du Sau, verpiss

„Dich aus meinem Kopf!“ schrie sie in die Dunkelheit und die Stimme verstummte. Was gut war. Sie war der Verräter Nummer eins gewesen.
Angelina drehte sich, packte eines der Fleischstücke und machte sich an die Arbeit. Viel Zeit blieb nicht.

Ein unendlicher Hass waberte in seinem Kopf. Er konnte es nicht glauben. Was war schiefgelaufen? Warum tat sie nicht, was er erwartete?
Warum litt sie nicht weiter? So, wie er es getan hatte, die ganze Zeit, die ganzen langen Jahre.
Ein langgezogenes Keuchen entfuhr seiner Kehle, er hieb auf den Lichtschalter, riss den Riegel beiseite und öffnete die Tür.
Zeig es ihr, Daddy-O, was du hast, ist was du draus machst.
Bei Gott, wie er es ihr zeigen würde.

Die Tür schwang auf. Angelina fuhr herum und sah eine Gestalt hereinstürmen, sah die Gestalt, welche die ersten zehn Jahre ihres Lebens ihr Vater gewesen war.

„Angie!“
Zuerst sah er nur die vielen Stücke Fleisch, die an ihren Haken schwangen. Dann sah er die Kacheln an der Wand, in dem Grau-Weiß getüncht, das seit über zehn Jahren die Farben in seinem Leben getötet hatte. Dann sah er sie.
„Angie!“
Sie stand im hinteren Teil des Raumes, immer wieder verdeckt von toten Tierhälften. Das weiße T-Shirt betonte die Rundungen ihres Körpers, bedeckte Brüste, die eigentlich seiner Frau gehörten.
„Du hast sie getötet, Angie!“
Blut lief an ihrem Bein herunter. Viel Blut und es tat ihm so gut, es zu sehen, dieses leuchtende Rot. Er wollte mehr davon.

Angie wich zurück.
Das, was auf sie zukam, war nicht der Vater, den das Kind in ihr im Herzen bewahren wollte. Das war kaum ein Mensch. Sie weinte und schrie: „Du kannst mich, du Drecksau! Du hast mir wehgetan. Du hast mich um meinen Vater betrogen!“
Mit rudernden Armen stieß er die Fleischstücke zur Seite, kam auf sie zu.
Dann blieb sie stehen. Und sah ihn nur an. Angst verschwand. Da war nichts, an dem sie noch festhalten wollte.

Beinahe schien er zu fliegen.
Flieg, Daddy-O.
So kam es ihm vor, als er auf seine Tochter zustürmte. Zeit war zeitlos, Sinn war sinnlos, es befriedigte nur seinen Hass. Es mutete ihm beinahe spielerisch an, als er seine Hände um ihren Hals legte.
Drück zu, Dad, drück zu. Was ist sie, dass sie überleben durfte?
Nichts. Sie ist nichts.

Angelina hatte geglaubt, sie wüsste, was kalt bedeutete, dass sie es heute kennen gelernt hatte. Aber als sich seine Hände um ihren Hals legten, erfuhr sie eine ganz andere Art von Kälte. Es war die Erkenntnis, dass ihr Vater sie wirklich töten wollte. Der Moment, in dem klar war, dass sie nie wieder Eltern haben würde, so weit der Begriff auch reichte. Das sie nie wieder Eltern würde haben können, dass allein der Gedanke absurd war.
Von seiner Wucht mitgerissen, wurde sie nach hinten geschleudert. Es war knapp, aber sie erreichte das dicke Stück Fleisch zu ihrer Rechten. Gab ihm einen gewaltigen Tritt. Mit letzter Kraft, in letzter Sekunde. Wie schwerelos schwebte es durch die Luft, verharrte kurz beinahe waagerecht. Dann kam es zurück. In der fließenden Bewegung sah sie das Messer aufblitzen. Die Klinge ragte beinahe anmutig aus der rosa Masse, in die sie es getrieben hatte, bis ihre Hand blutete.
Ihr Vater brüllte sie an.
Sie wurde gegen die Wand geschleudert, spürte noch den Schmerz am Kopf und dann wurde alles schwarz.

Du hast sie, Daddy-O.
„Ich hab dich, du Dreckstück!“
Es war das beste Gefühl seines Lebens, als er endlich zudrücken konnte. Die Rache für ein Jahrzehnt Grau-Weiß.
„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede! Sie mich an!“ Er sah ihr in die Augen und verstummte.
Sie lächelte.
Und sie blickte auf etwas hinter ihm.
Dann prallte sie mit dem Kopf gegen die Fliesen und ihr Kinn sank auf seine großen Hände.
Im nächsten Moment fuhr ihm das Messer in den Rücken.

Das Gewicht des Fleisches trieb es tief in den Körper. Die Waffe hatte heute schon viel erlebt, aber wenn sie so etwas wie Gefühle kennen würde, könnte man davon ausgehen, dass ihr dieser Moment am meisten gefiel. Die Klinge durchdrang mühelos Fleisch, Muskeln, Knorpel und bohrte sich in das Herz.
Der Mann sackte zusammen; der Griff rutschte aus dem toten Fleisch heraus, das Messer blieb in seinem Rücken stecken - fast so, als wolle es dort sein, tief in dem noch warmen Gewebe.
Über ihnen schaukelte die Schweinehälfte.

Angelina ließ sich Zeit, bevor sie wieder auf die Beine kam. Ihr ganzer Körper tat höllisch weh. Die zerschnittene Hand, die tiefe Wunde in ihrem Oberschenkel, Rücken, Hals und Kopf.
Schließlich stand sie da, an die Wand gelehnt, die Hände an die Hüften gelegt und sah den toten Mann an.
Seine Augen starrten blicklos zur Decke.
Das war kein Mensch, den sie mal gekannt hatte.
„Ich war nie schuld“ sagte sie und trat gegen den Körper. Einmal, dann ein weiteres Mal. „Du kannst mich wirklich.“
Angelina wandte sich ab, humpelte zwischen den Fleischstücken über den kalten Betonboden und war wenige Augenblicke später durch die Tür verschwunden.
Sie war endlich frei.

 

Hi Bella,

auch Dir vielen Dank fürs Lesen, Kommentieren und Loben. :)
Die beiden Anmerkungen habe ich umgesetzt, Danke auch dafür.

"oft höre ich bei so langen Geschichten mittendrin mit dem Lesen auf... bei deiner wäre mir das gar nicht im Traum eingefallen."

- Das ist sicher mit das Schönste, was man hören kann. Danke schön. :)

LG, baddax

 

Hi baddax!

Ja, eigentlich ist ja schon alles gesagt zu dieser Geschichte.
Da fällt mir soweit nichts Neues ein.

Starker Text, starker Stil. Kriegst einen :thumbsup:.

Die Idee mit dem Kühlhaus ist echt richtig gruselig. Ich hab mich die ganze Zeit über gefragt, wer der Irre nun eigentlich ist. Richtig spannend. Auch psychologisch sehr interessant die Geschichte. Die Rückblenden sind stimmig eingebaut und auch diese Stimme im Hintergrund. Ach, einfach schön.

Da hab ich nichts zu meckern. Auch gut.

In diesem Sinne
c

 

Hi,

vielen Dank! :)
Schön, dass alles gefällt - vor allem diese Stimme im Hintergrund - ist ja auch so absatzbetont, wie die Einschübe in der anderen Geschichte mit dem Musikbunker, worunter Du Dich nicht als Freund davon geoutet hast... :D

btw: Freue mich sehr über Deine Nominierung 2004 der Bunkergeschichte. :shy:

Danke schön fürs Lesen, Kommentieren und Loben!

LG,
baddax

 

Nein, da muss ich nachhaken... :D

ist ja auch so absatzbetont, wie die Einschübe in der anderen Geschichte mit dem Musikbunker, worunter Du Dich nicht als Freund davon geoutet hast...
Eben nicht. Diese Stimme tritt ja in direkten Dialog mit Angie. Und genau das fand ich ja so passend.
Das sie quasi mit sich selbst spricht und wie du das gelöst hast.

Freue mich sehr über Deine Nominierung 2004 der Bunkergeschichte.
Wenn du weiter so wunderbare Geschichten schreibst, dann jederzeit wieder.

Gruß
c

 

Hej, baddax.

Die Geschichte ist dir absolut gelungen! Mehr davon :D

Liebe Grüße, Lejon

 

Hi Lejon,

vielen Dank fürs Lesen und Loben. :)

Freut mich, dass die Geschichte immer noch Leser anzieht und zufrieden stellt - das motiviert zum weiteren Schreiben.

Liebe Grüße, baddax

 

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